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25 JAHRE COLLEGIUM NOVUM ZÜRICH Das Collegium Novum Zürich wurde 1993 gegründet. In einem stufenweisen Prozess formierte sich damals das Ensemble um einen Kern von einigen wenigen Musikerinnen und Musikern. Bald konnte sich das CNZ mit eigenen Konzertreihen etablieren, erfuhr Unterstützung seitens der Stadt Zürich und erwarb sich auch internationale Anerkennung. Sein künstlerisches Profil wurde von den jeweiligen künstlerischen Leitern geprägt, denen es die Programmverantwortung übertrug: Armin Brunner (1995–1997), Michael Haefliger (1997–1999), Patrick Müller (1999–2004), Christian Fausch (2005–2010), Jens Schubbe (seit 2010). Dabei blieb bei allen jeweils eigenen Akzentuierungen doch eine Konstante über das Vierteljahrhundert seines Bestehens erhalten. Das CNZ verstand sich immer als ein Ensemble, das die Musik der Gegenwart als ein Ergebnis historischer Entwicklungen begriff und seine Aufgabe darin sah, einerseits die aktuelle Musik zu präsentieren, andererseits die Musik der vergangenen Jahrzehnte immer wieder neu zu befragen. Die auf dieser CD versammelten Aufnahmen sind Konzertmitschnitte und dokumentieren Aufführungen aus den Jahren seit 2013, die für die programmatische Identität des Ensembles repräsentativ sind, wobei bei dieser Auswahl der Akzent auf Ur- und Erstaufführungen lag. Vinko Globokar: L’Exil Nr. 2 Vinko Globokars Musik ist stets welthaltig, reagiert auf die Wirklichkeit, positioniert sich. Oft ist seine Musik ungemein gestisch, verschmilzt instrumentale, vokale und szenische Aktionen und schleift Gattungsgrenzen. Dafür stehen auch die drei Kompositionen zum Thema »Exil«, die Globokar seit 2012 vorgelegt hat: L’Exil Nr. 1 ist ein Werk für Stimme und fünf Instrumentalisten. L’Exil Nr. 2 ist an diese Konzeption angelehnt, bezieht allerdings ein größeres Ensemble ein. L’Exil Nr. 3 ist als großformatiges Oratorium konzipiert. Der L’Exil Nr. 2 zugrunde liegende Text ist aus 37 Textfragmenten montiert, die Globokar der Sammlung Cent poèmes sur l’exil entnommen hat, und die aus dem Französischen (in das sie zumeist übersetzt waren) teilweise in sechs weitere Sprachen übertragen wurden: Slowenisch, Deutsch, Spanisch, Englisch, Russisch, Italienisch. In den einzelnen Sätzen blitzen schlaglichtartig das Exil bezeichnende Erfahrungen, Bilder, Situationen und Emotionen auf. Sie werden aber nicht vorgeführt, sondern in einer Weise exponiert, die den Hörer selbst in die Rolle des Exilanten drängt: Vor allem durch die Transformation der Texte in verschiedene Sprachen ist der Hörer mit einem babylonischen Sprachgewirr konfrontiert, wie es dem Fremden erscheinen mag, der sich in einem unbekannten Land zurechtfinden muss. Die Solostimme wird zunächst von einzelnen Instrumentalstimmen sekundiert, die sich gleichsam in ihrer je eigenen Sprache artikulieren. Allmählich wird die Textur dichter, verschmelzen die Einzelstimmen zu Chören. Gleichzeitig wird die Grenze von instrumentalem und vokalem Klang durchlässiger und mischen sich immer mehr performative, theatrale Elemente in das Geschehen. Die extremen Formen der Artikulation lassen Verwirrung, Angst, Verunsicherung und Verzweiflung assoziieren. Dazu kommen aber auch Momente der Klarheit, Erlösung, kleine Zwiegespräche, die vielleicht erste Schritte in Richtung einer Verständigung in einer neuen Sprache sind. Jens Schubbe Sascha Janko Dragićević: Ausschlag In Ausschlag für großes Ensemble und Live-Elektronik habe ich mich mit der Entstehung und Dekonstruktion formaler Kontexte durch direkte Gegenüberstellung von Periodizität und Aperiodizität beschäftigt. Die wechselseitige Fremdheit dieser beiden Pole wird dadurch verstärkt, dass sie nicht durch fließende Übergänge miteinander verschmelzen, sondern hart und direkt aneinander montiert werden. Diese Art der Fremdheit in der Konzeption der Formbildung evoziert von Beginn an eine gewisse Unversöhnlichkeit, die auch als harte Kontur und Schärfe wahrgenommen werden kann. Maximale Aperiodizität wird in diesem Stück durch einen idealisierten Klang eines »weißen Rauschens« dargestellt. Dieser Klang wird wiederholt durch das eigens für dieses Stück von Stefan Roszak entwickelte und gebaute Instrument »Rauschrad« erzeugt. Das Ensemble entgegnet mit sich permutierenden, klar begrenzten Perioden. Diese sind aus winzigen, sehr einfachen motivischen Zellen gebaut. Die Live-Elektronik greift gleichsam in das musikalische Geschehen ein, indem sie in relativ kurzen Wechseln einzelne Instrumente heraushebt und durch Verfremdungsprozesse manipuliert. Dieser Zugriff von außerhalb scheint zersetzend auf die Bildung formaler Kontexte einzuwirken. Er ermöglicht aber auch eine weitere, vexierbildhafte Form von Wahrnehmung der musikalischen Textur durch einen ständigen Wechsel der Hörperspektive. Am Ende kommt es schließlich doch zu einem fließenden Übergang von Periodizität zu Aperiodizität innerhalb einer Klangaktion der »Rauschräder«, ausgelöst durch einen heftigen Impuls, der in ein »weißes Rauschen« mündet. Sascha Janko Dragićević Martin Jaggi: Uxul Uxul ist der abschließende Teil eines Zyklus unterschiedlich besetzter Werke, die sich mit den ersten Zivilisationen auseinandersetzen: mit jenem Moment in der Geschichte, an dem die ersten Städte, organisierte Gesellschaftsformen mit hierarchischen Strukturen entstanden, sich Politik, Wirtschaft, Religion und die ersten Staaten bildeten. Dies geschah unabhängig voneinander an sechs Orten: in Ägypten, in Mesopotamien, am Indus, in China, in Mittelamerika und in den Anden. In all diesen Werken ist das Kernmaterial durch die ältesten Musiken gegeben, die in den jeweiligen Regionen noch gelebt werden. Es geht also nicht um eine mystische Reanimierung von Musik, sondern um einen Blick auf alte Traditionen, die oft verborgen in unserer Zeit noch weiter bestehen und zum Teil weit von dem abweichen, was allgemein unter dem Begriff »Weltmusik« bekannt ist. Der neueste Teil dieses losen Zyklus bezieht sich auf Mittelamerika. Die früheste dort gefundene Kultur ist die der Olmeken, welche von etwa 1500 bis 400 v. Chr. entlang der Küste des Golfs von Mexiko nachweisbar ist. Ihre bekanntesten kulturellen Hinterlassenschaften sind mehrere Kolossalköpfe. Ansonsten ist eher wenig bekannt, und da zudem alle olmekischen Fundstätten spanische Namen tragen, habe ich mich entschieden, das Stück nach einer frühen Maya-Stätte zu benennen. Uxul ist eine antike Maya-Siedlung in der Region Campeche in Mexiko. Uxul bedeutet »am Ende«, was somit einen passenden Titel für das abschließende Stück des Zyklus lieferte. In Mittelamerika wurde eine Vielzahl an Instrumenten auf archäologischen Grabungen entdeckt, viele davon in ausgezeichnetem Zustand. Es handelt sich dabei vor allem um unterschiedlichste Flöten, trompetenartige Instrumente und Schlaginstrumente. Das harmonische Material des Stücks basiert auf jenen Tönen, die diese Instrumente offenbar produzieren konnten. Zudem werden im Schlagzeug u. a. Instrumente verwendet, die in Zentralamerika ihren Ursprung haben, wie die Schlitztrommeln und das Güiro. Zudem erinnern die Bongos an den Klang der Schildkrötenpanzer, welche als Schlagwerk benutzt wurden. Die wohl noch ursprünglichste Musikkultur in Mittelamerika hat sich bei den Maya im heutigen Grenzgebiet zwischen Mexiko und Guatemala erhalten. Nur hier fand ich Musik, die von spanischen und anderen westlichen Einflüssen fast gänzlich unberührt ist – eine Seltenheit in einem Amerika, in dem einheimische Traditionen von den Kolonialisten erfolgreicher ausgemerzt wurden als anderswo. Das Material von Uxul ist eine kleine Auswahl persönlicher Highlights aus meinen Recherchen. Martin Jaggi Marko Nikodijevic: Gesualdo Dub / Raum mit gelöschter Figur Viele der Werke von Marko Nikodijevic beziehen sich auf vorhandene Musik, auf fremdes Material. Schon die Titel verraten das: cvetić, kućica… / la lugubre gondola – Trauermusik für Orchester nach Franz Liszt, Music Box / Selbstportrait mit Ligeti und Strawinsky (und Messiaen ist auch dabei), Tombeau de Claude Vivier und Gesualdo Dub. Zum Faszinierenden und Rätselhaften seiner Musik gehört nun, dass in diesen Beschwörungen des Anderen das Eigene umso deutlicher in Erscheinung tritt. In mehreren von Nikodijevics Werken – so auch in Gesualdo Dub – sind einzelne Teile bzw. Sätze als »Räume« bezeichnet. Diese »Räume« konfrontieren uns mit einer, manchmal auch mit mehreren klanglichen Situationen, die insistierend umkreist werden. Moritz Eggert sprach treffend vom »Hineintauchen in einen Klangmoment«, das eine unerhörte Wirkung zu entfalten vermag. In Gesualdo Dub / Raum mit gelöschter Figur ist das besonders eindringlich gelungen. Nukleus des Werkes ist ein Halbtonpendel, dessen Ursprung man im Beginn des Gesualdo-Madrigals Moro, lasso, al mio duolo finden kann, in jener für das Madrigal so typischen chromatischen Abwärtsbewegung. An diese Figur – Chiffre des Schmerzes und der Klage schlechthin – werden nun zunächst fast unhörbar Klangmaterialien wie Treibgut angelagert. Sie umhüllen die Figur, beginnen ein Eigenleben, flirren und vibrieren, entfalten eine Aura, erzeugen klingende Räume. Gleicht der Beginn einem stufenweisen Aufblenden, finden wir uns sodann in einem »Dark Room« wieder. Wie halluziniert wirkt die Musik eines dritten Raumes, dessen Konturen verschwimmen, als würden wir sie unter wogendem Wasser wahrnehmen. »Süßer Duft aus Märchenzeit« erfüllt den vierten Raum mit seinen Fanfarenklängen und Möwenschrei-Glissandi, ehe im finalen Abschnitt die permanente Morbidezza mit grell ekstatischem Glockengetön gekreuzt wird. Jens Schubbe Programm:
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