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AGOSTINO DI SCIPIO Die sechs Werke auf dieser CD sind eine Auswahl aus Agostino Di Scipios Musik für Streicher und Live-Elektronik. Ihr texturartiges Klangmaterial entstammt einer sorgfältig gestalteten Begegnung (oder einer Kollision?) verschiedener Technologien – von der Mechanik des traditionellen Geigenbaus bis hin zu Echtzeit-Computerverarbeitung oder analogen Geräten unterschiedlicher Art (Mikrofone und Lautsprecher in präzise untersuchten räumlichen und funktionalen Beziehungen zu den Instrumenten und dem Konzertraum). Di Scipio erforscht erweiterte Spieltechniken – sowohl bekannte als eigens recherchierte –, um die haptische Energie winziger Gesten und ihre pulverartigen Klangreste zu erfassen. Für ihn sind die Instrumente aber nicht einfach da, um Klänge zu produzieren; sie können die elektronische Verwandlung dieser Klänge auch kontrollieren, so dass die instrumentale Geste die digitale Verarbeitung letztendlich beeinflusst oder sogar antreibt. Das Klangergebnis wirkt sich wiederum auf die Geste aus. Eine Logik der Rückkoppelung belebt sowohl die Einzelheiten als auch die mehrschichtige Struktur der Musik. Auch der Konzertraum spielt eine aktive Rolle bei der Aufführung von Di Scipios Werken, da die Akustik und die Hintergrundgeräusche nahtlos in das musikalische Geflecht als Quelle sowohl expressiver als auch struktureller Entwicklungen integriert werden. Die Aufführung wird zu einem Netz aus Interaktionen und Interferenzen, die der jeweiligen Umgebung entsprechen, und bestimmt somit eine Art »Ökosystem«. Di Scipio spricht selbst von einem Ökosystem – nicht als Metapher, sondern als operative Vorstellung. Seine musikalische Welt evoziert unter Umständen eine ganze Reihe von Klangbildern, seien sie naturalistisch oder auch nicht; letztlich präsentiert sie sich uns aber als dynamische Realität, die sich mit der veränderlichen Situation, in der sich Interpreten und Hörer begegnen, ebenfalls verändern muss. Dies ist eine authentische Art von »Kammer-Musik«, die aber zeigt, dass die »Kammer« heute eine hybride, durch und durch technologisierte Umgebung ist … VIOLAZIONI DELLA PRESENZA (Verletzungen der Präsenz) ist das neueste Werk in dieser Auswahl. Es wurde für Lorenzo Derinni und Davide Gagliardi komponiert, die das Werk im April 2018 in Graz uraufführten. In den drei Hauptabschnitten greift die Violine in eine computergesteuerte Audio-Rückkoppelungsschleife ein, was zu verschiedenen Resonanzen im Konzertraum führt. Computervorgänge werden mithilfe der Open Source Audio-Programmiersprache PURE DATA gesteuert. Die drei Abschnitte werden mit Klangfragmenten verbunden, die von außerhalb des Konzertraums stammen. Die vorliegende Aufnahme fand im CUBE statt, einem Aufführungsraum am IEM (Institut für Elektronische Musik und Akustik der Kunstuniversität Graz). Die Außengeräusche entstammen dem dortigen, recht halligen Treppenhaus (man kann hören, wie Leute die Treppe hinauf- und hinabgehen, sowie das Öffnen und Schließen von Fahrstuhltüren mit einem seltsamen Klingelgeräusch). 2 SOUND PIECES WITH REPERTOIRE STRING MUSIC (Zwei Klangstücke mit Streicherrepertoire) kann von zwei (oder mehr) Streichern gespielt werden. Es war ein Auftragswerk von Federico Placidi und Matteo Milani und wurde im Dezember 2012 von Èdua Zádory und Ana Topalovic am Spazio O’ (Mailand) uraufgeführt. Die KYMA Computermusik-Workstation wurde für die Herstellung von selbstregulierenden Rückkoppelungen und »granularen« Verwandlungen der Instrumentalklänge verwendet. Jede der zwei Hälften kann als Auf- und Abbau einer komplexen Klangstruktur beschrieben werden, wobei verschiedene Schichten aus dem empfindlichen Gleichgewicht zwischen Instrumenten, Apparaten und Raumakustik hervortreten. Die Interpreten sollen einen beliebigen Ausschnitt aus dem Repertoire ihrer jeweiligen Instrumente nehmen und als Schablone mit vertrauten Griffmustern verwenden, damit sie sich mehr auf die ungewöhnlichen Streich- und Klopftechniken konzentrieren können, die der Komponist fordert. Außerdem bedienen sie gewöhnliche digitale Audio-Player, um beliebige Aufnahmen des gewählten Repertoires in den Korpus des Instruments – der einen Resonator mit speziellen Klangeigenschaften darstellt – hineinzuspielen. Damit werden schwache Erinnerungen an dieses Repertoire in den Aufführungsprozess einbezogen. Di Scipios erstes Streichquartett, 5 INTERAZIONI CICLICHE ALLE DIFFERENZE SENSIBILI (5 zirkulare und differenzempfindliche Interaktionen), entstand 1997 als Auftragswerk der Federazione CEMAT (Rom) und wurde vom Quartetto Prometeo im November 1998 im Acquario Romano uraufgeführt; der Komponist steuerte die Klangbearbeitung am Computer (KYMA). Die Uraufführung war Teil einer Klanginstallation, bei der die Quartettklänge mit der akustischen Umgebung der Innenstadt Roms vermischt wurden. Das Werk wurde später in der Katharinenkirche in L’Aquila aufgenommen. Die Computervorgänge beruhen auf den Reaktionen des Raumes auf bestimmte Instrumentalgesten. Die Interpreten verändern wiederum ihre Spielweise als Reaktion auf die Reaktion des Computers. Einige der neuen Spieltechniken, mit denen Di Scipio in diesem Werk experimentierte, wurden während der Arbeit an seinem zweiten Streichquartett (3 stille Stücke, 2005–09) entwickelt. PLEX wurde für Stefano Scodanibbio komponiert und beim Festival Musica Verticale in Rom im November 1991 uraufgeführt. Das Werk unterscheidet sich dadurch von den anderen Stücken auf dieser CD, dass der Kontrabassist mit Zuspielmaterial (also nicht Live-Elektronik) spielt. Dennoch nehmen die aufgenommenen Klänge deutlich den »Klangstaub« der späteren Werke Di Scipios vorweg. Die Partitur enthält außerdem eine kleine Auswahl instrumentaler Gesten sowie verschiedene Arten, damit zu spielen – eine Art Improvisationsübung, die in späteren Werken wieder auftaucht. Das Vierkanal-Zuspiel wurde am Centro di Sonologia Computazionale (Universität Padua) produziert. Einige Klänge wurden zwar mit der Music360 Audio-Programmiersprache (für Großrechnerinformatik) synthetisiert, das Zuspielmaterial wurde aber hauptsächlich mit PC-Programmen erarbeitet, die der Komponist geschrieben hat, um ein einzelnes Kontrabass-Sample (ein Pizzicato auf der leeren E-Saite) zu segmentieren, zu dehnen und auseinanderzunehmen. Es war wahrscheinlich die erste Anwendung der »granularen Verarbeitung« am PC! Di Scipio forschte schon 1987 im Bereich der granularen Synthese. Zwei Jahre nach Plex, als Gastprofessor an der Simon Fraser University (Burnaby, Vancouver), experimentierte er zusammen mit Barry Truax weiter mit granularen Methoden. DUE DI UNO (Zwei von Einem) wurde 2002 für Haesung Choe (Violine) und Antonio Politano (Sopranblockflöte) komponiert, die das Werk im Februar 2003 im Grande Salle des Conservatoire Lausanne uraufführten. Dieses kleine Stück, das dem Komponisten Horacio Vaggione gewidmet ist, besteht aus zehn kurzen Abschnitten (jeweils etwa 40 Sekunden lang) und einer Coda. Jeder Abschnitt besteht nur aus einer einzigen Linie, die von beiden Instrumenten gespielt wird; aufgrund der natürlichen Unterschiede zwischen den beiden Instrumenten spaltet sich diese Linie oft in zwei Klangschichten. Diese Teilung wird vom Computer durch verschiedene Sampling- und Bearbeitungsprozesse dann mehrfach gesteigert. Die Klangbearbeitungsalgorithmen folgen den kleinen Abweichungen der zwei Instrumente, wie sie der Computer wahrnimmt. Das musikalische Ergebnis variiert zwischen stumpf und maschinell einerseits und etwas vogel- oder insektenartig andererseits. VEILLE, SURVEILLE wurde während Di Scipios DAAD-Stipendium in Berlin (2005) skizziert und war ein Auftragswerk von Paolo Pachini und den Elastic3 (Eva Reiter, Viola da gamba; Tom Pauwels, akustische Stahlsaitengitarre mit E-Bow; Paolo Pachini, Computer). Die Uraufführung fand 2005 beim Transit Festival (Leuven) statt. Das Werk besteht aus fünf Abschnitten; mindestens drei sollten bei jeder Aufführung verwendet werden. Die Aufnahme für diese CD wurde vor der Uraufführung im Berliner Studio des Komponisten gemacht. Viola da gamba und Gitarre überwachen sich ständig gegenseitig, um über verschiedene texturartige Veränderungen hinweg insgesamt im Gleichgewicht zu bleiben. Anna Caveduri Programm:
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