Christian Ofenbauer: Zwei Frankfurter Préludes

17,99 

+ Free Shipping
Artikelnummer: NEOS 11905 Kategorie:
Veröffentlicht am: August 23, 2019

Infotext:

CHRISTIAN OFENBAUER · ZWEI FRANKFURTER PRÉLUDES

Christian Ofenbauers Frankfurter Préludes (1997 / 1998) sind Zeugnis eines stilistischen Übergangs. Aus einem Abstand von zwei Jahrzehnten verblüfft heutige Ohren freilich, wie konsequent und stark sie eben diesen Übergang zu ihrem musikalischen Thema erklären, den Wandel reflektieren, sich an ihm abarbeiten – stärker noch, als es dem Publikum bei der Uraufführung am 19. November 1999 bewusst gewesen sein konnte, dessen Mitschnitt auf der vorliegenden CD dokumentiert ist, und stärker auch, als der Komponist es damals geahnt haben mag. Dieses Diptychon besteht aus betont ungleichen Teilen, die, von den verlangten instrumentalen Kräften einmal abgesehen, kaum etwas gemeinsam haben, ja nicht einmal ohne große Konzertpause mit erheblichem Umbau dazwischen vom selben Orchester aufgeführt werden können. Dennoch bleibt ihr innerer Zusammenhang auf merkwürdige Weise fühlbar.

Bis zur Mitte der 1990er-Jahre war Ofenbauers Musiksprache von einem Ausdruckswillen geprägt, der seine Kraft vor allem aus Kontrasten und Kollisionen bezog, aus dem Monumentalen, Bruchstückhaften, Gestischen. Nach Abschluss seiner Oper Medea (1990–94) empfand der Komponist diese Phase jedoch als beendet und wollte bewusst zu neuen stilistischen Ufern aufbrechen. Nach einer einjährigen Schaffenspause machte das Gesteigerte, Überhitzte, Verdichtete immer mehr dem kühl und ruhig Fließenden Platz, dem Abgeklärten und Schmucklosen, dem Reduzierten, Leisen. Seither wirkt es, als sei sich Ofenbauers Musik auf einer höheren Ebene der Zeit und ihres Verstreichens neu bewusst geworden – und als könnte sie, ohne sich an den Augenblick zu klammern, diesen doch zum Verweilen bringen.

Im Auftrag des Hessischen Rundfunks entstanden, basieren die Frankfurter Préludes auf einem engmaschig geknüpften strukturellen Raster – auch wenn man diesen Umstand lieber zu jener »Privatsache« des Komponisten erklären möchte, als die etwa Arnold Schönberg seine Zwölftonmethode verstanden wissen wollte. Konkret hat Ofenbauer den beiden Stücken einerseits ein rhythmisches Pattern zugrunde gelegt, eine quasi-serielle Dauernorganisation, andererseits auch einen vielstimmigen, vierteltönigen harmonischen Grundriss mit gleichsam regelgerecht liegen bleibenden, gemeinsamen Tönen von einem Akkord zum nächsten. Seine eigentliche Werkidee war jedoch eine andere. Man könnte sie mit dem Bild einer Säule beschreiben: Ragt diese im 1. Prélude schlank und intakt gen Himmel, ist sie im 2. Prélude umgestürzt, der Länge nach in Segmente zerfallen – und es hat sich wohl auch die dabei entstandene Staubwolke noch nicht völlig gelegt.

In nur dreißig Takten und kaum mehr als anderthalb Minuten Spieldauer ereignet sich im 1. Prélude eine wörtlich auf die Spitze getriebene Verdichtung. Diese extreme Anlage spiegelt einen Gedanken Ofenbauers aus Gesprächen mit Heinz-Klaus Metzger wider, der so zum Widmungsträger des Stücks geworden ist: Zeitlich kühn komprimiert, da in der Partiturvertikale übereinandergeschichtet, spricht ein großes Orchester den Inhalt eines abendfüllenden Werks auf einmal aus. Fünf inhomogene Instrumentengruppen füllen, jede für sich, die Pausen zwischen einzelnen, ausfransenden Tutti-Schlägen mit immer stärkeren Wucherungen so weit aus, bis der Grad höchster Fülle erreicht ist und das Stück daraufhin abreißt.

Im 2. Prélude stürzt diese dünne Säule um – in doppeltem Sinne. Zum einen fädeln sich die 84 Instrumente, wie in der Partitur festgelegt, entlang einer Diagonale durch den Aufführungsraum auf, wobei sich eine Schlangenlinie mit sanften Krümmungen ergeben darf. Das ergibt für jeden Sitzplatz einen individuellen Hörwinkel mit teilweise nächster Nähe und weiter Ferne zu bestimmten Instrumenten, von denen jedes eine eigene Stimme ausführt. (Ofenbauer sorgt dabei abschnittsweise für eine möglichst hohe Durchmischung von Holz, Blech, Streichern, Schlagwerk usw.) Zum anderen kippt auch das strukturelle Gerüst, überschlägt sich sogar, landet auf dem Kopf. Das bedeutet: Mit gewissen Freiheiten durchläuft das 2. Prélude die Entwicklung des 1. Prélude nun in der Gegenrichtung, und zwar in der radikalen Dehnung auf 50 Minuten.

Die langen Liegeklänge, die aus diesem Konzept erwachsen und von zum Teil indeterminierten Einzelereignissen durchsetzt sind, werden vornehmlich durch Stoppuhren koordiniert. Der Dirigent organisiert die sich auffächernde, expandierte Geographie des Klangs vorerst nur an wenigen neuralgischen Punkten. Genau in der Mitte des Stücks (nach 25 Minuten) aber beginnt im ppp ein erster präzis taktierter Abschnitt, und zwar vom Dirigentenpult aus an der Peripherie, der dann jedoch auf den Nahbereich übergeht, im Zentrum der Orchesterdiagonale seine Fortsetzung findet und dort, nach einem weiteren Ausflug zum Rand, vorerst auch wieder versandet. Eine löchrige Pizzicato-Fläche kippt in ein geräuschhaftes Tremolo, bevor der zweite große herkömmlich dirigierte Abschnitt an den Rändern beginnt, sich dann jedoch rasch auch auf die Mitte ausbreitet. Der Höhepunkt in der 47. Minute vereint sämtliche Instrumente »so leise, wie nur irgend möglich« in der engen Verzahnung von 84 rhythmisch selbständigen Einzelstimmen. Doch diese unerhörte Dichte beginnt bald auszudünnen – ein letztes Wehen des ganzen Orchesters im ppp mündet in einen morendo-Klang der Flöten und Klarinetten, der schließlich in einem zarten Crescendo des Schlagzeugs untergeht.

Eine solche technische Beschreibung des Geschehens, die darlegt, dass das 2. Prélude strukturell genau dort endet, wo das 1. Prélude begonnen hat, verblasst freilich vor dem eigentlichen Hörerlebnis. Wie das 2. Prélude einen graduell in seine Langsamkeit hineinzieht und darauf einstimmt, wie rhythmische Muster einrasten, aber auch wieder verschwinden, wie Bewegungen zusammenstoßen oder auseinander hervorgehen, wie daraus eine Kette musikalischer Minidramen mit vorübergehenden, kleine Eruptionen entsteht – kurz: Wie sehr es doch noch emotional brodeln mag in dieser Musik des Übergangs hin zum Loslassen, zu absichtsfreien, gewissermaßen reinen Klängen, das will ganz persönlich erlauscht sein. Die Entwicklung scheint irgendwo zwischen nebelartig driftenden Akkorden und tröpfelnden Tönen zu enden, in einer sanft bewegten Ruhe, geprägt von der Schönheit bereinigter Konflikte. Dass die Schlussgeste dann doch noch einmal eine kleine Störung bedeutet, dass ein letztes Mal noch etwas Staub aufwirbelt, verweist vielleicht auf den Untertitel der PréludesZwei Kraniche und Wolken greift zurück auf Dantes Divina Commedia, in deren 5. Gesang der Hölle Dante »die Opfer sündiger Liebe von nie rastendem Sturmwinde ruhelos einhergejagt« (Friedrich von Falkenhausen) als Kraniche ziehen sieht. Ein auffällig unzertrennliches Paar unter ihnen bilden Francesca da Rimini und Paolo Malatesta: Ihr Gatte Gianciotto habe seinen Bruder mit Francesca beim Ehebruch überrascht und die beiden, so heißt es, mit einem einzigen Streich getötet – das jähe Ende ließ keine Zeit zur Reue und bedeutete die Strafen der Hölle. Verdammt zu ewiger Liebe, bereitet dem Paar die Erinnerung ans vergangene Glück ausgesuchte Qualen, denn ihr Flug kennt keine Rast. Bertolt Brecht fügte 1928 in dem Gedicht Die Liebenden dem Bild der Kraniche noch Wolken hinzu, die »mit gleicher Eile« den Zug der Vögel begleiten, sodass sich ein statischer Zustand ergibt: ein Stillstand inmitten steter Bewegung. »So scheint die Liebe Liebenden ein Halt.«

Walter Weidringer

Programm:

Zwei Frankfurter Préludes for large orchestra (1997/1998) 51:41
Commissioned by Hessischer Rundfunk

[01] 1. “Zwei Kraniche und Wolken” (1997) 01:28
for five orchestra groups
Dedicated to Heinz-Klaus Metzger

[02–14] 2. “Zwei Kraniche und Wolken / Double” (1998) 50:03
für 84 diagonal im Raum angeordnete Instrumente
Dedicated to A. G.

[02] 03:33
[03] 01:21
[04] 02:04
[05] 03:50
[06] 04:42
[07] 06:33
[08] 02:19
[09] 04:04
[10] 05:25
[11] 03:34
[12] 06:00
[13] 02:36
[14] 04:02

hr Sinfonieorchester / Frankfurt Radio Symphony
Arturo Tamayo, Dirigent

Live-Aufnahme der Uraufführung

 

Artikelnummer

Brand

EAN

Warenkorb

Melden Sie sich bei dem brandneuen NEOS Newsletter an.

X