Claus-Steffen: Mahnkopf Vocal Music

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Artikelnummer: NEOS 11928 Kategorie:
Veröffentlicht am: Mai 17, 2019

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VOKALMUSIK

Die Stimme ist das schwierigste »Musikinstrument«. Einerseits ist sie ganz natürlich, weil jeder Mensch über sie verfügt und singen und sprechen kann. Sie ist Teil des Körpers und externalisiert die Klangproduktion nicht an ein äußeres Instrument. Andererseits ist sie das komplizierteste, denn ihre Vielseitigkeit ist grenzenlos. Für das Komponieren für Stimme bedeutet das mir, die Frage zu beantworten, wie ich notiere, so dass die Sänger exakt das ausführen werden, was ich beabsichtige. Die andere fundamentale Frage ist das Verhältnis zwischen Text und Musik. Was steht im Vordergrund, worauf soll ich hören? Untermalt die Musik lediglich den Text oder ist dieser eine Bestätigung der Musik? Wie kann eine glückliche Alliance gelingen? Aufgrund dieser Schwierigkeiten begann ist erst spät, für die Stimme zu komponieren, mit Mitte 30. Dem ging eine monatelange Recherche über die klanglichen Möglichkeiten der Stimme, über die Notation und die Geschichte der modernen Stimmbehandlung voran.

Mon cœur mis à nu für vier Stimmen (S-Mez-T-B), ist eine Abfolge von 15 Miniaturen, welche die verschiedenen Kombinationen von Solo bis Quartett durchspielt. Jede Miniatur ist ein Mini-Madrigal mit eigenem Charakter, hinter dem ein Text von Charles Baudelaire – aus den Journaux intimes – steht, der nicht vertont wird, dessen Phonetik aber den Ausgangspunkt für das musikalische Material bildet und dessen Semantik in die autonome Musiksprache überführt wird. Die Aufteilung in 15 (sich teilweise überlappenden) Abschnitten erlaubt eine Einteilung des überreichen stimmlichen Materials. Damit fand ich eine Form – und Dramaturgie –, mit der sich für das »Super«-Instrument Stimme »musikalische Vokabeln« gewinnen ließen, die nicht aus der Instrumentalmusik kommend gedacht sind, sondern diesem spezifischen Medium erwuchsen. Ein Beispiel: Das Sopransolo »vertont« 14 Definitionen der Frau, weswegen ich zu jedem dieser Charakteristika die entsprechende musikalische Figur finden musste.

Während ich den 1990er-Jahren radikal auf Text-Nichtverständlichkeit setzte, tat ich mit dem Werken der 2000er-Jahre das genaue Gegenteil. Für das Chorwerk (24 solistische Stimmen; 6-6-6-6) voiced void vertonte ich in der Originalsprache einen Text von Moses Maimonides über die Figur des Messias in der jüdischen Tradition. In seiner Mischne Tora, Kapitel Hilchot Melachim, im 11. und 12 Abschnitt wird eine Interpretation des Messias geboten, wonach dieser keine religiöse Figur, sondern ein politischer Führer ist, der einer gerechten Regierung vorsteht und die messianischen Tage der Menschheit – ein Zustand ohne Krieg und Hunger, ohne Missgunst und Zwietracht – vorbereitet. Während die Doppelchörigkeit mit zwei gleichzeitigen Texten deren Verständlichkeit entgegensteht, habe ich umgekehrt Schlüsselwörter (z. B. »hammelech« [»der König«], »hammashiach« [»der Gesalbte«], »jisrael« etc.) homophon gesetzt, wie in einer Kadenzfloskel. Dabei wird der konsonantische Anteil der Sprache eigens betont, um den Charakter der hebräischen Sprache bzw. Schrift gerecht zu werden. Die im Maimonidestext zitierten Bibelzitate werden gesprochen; ihm überlagert werden, ähnlich einem Psalmodieren, Sätze aus dem Talmud zum Messias (teilweise aramäisch). Im Intermezzo vor dem letzten Abschnitt singen die Soprane – in einem sechsstimmigen Krebskanon – fünf Sätze aus dem Buch Difficile liberté. Essais sur le judaïsme von Emmanuel Lévinas, worin der Philosoph seine Deutung des Messias vornimmt, der ich mich anschließe. voiced void ist kein religiöses Werk, sondern eines des Glaubens im Sinne einer unverrückbaren Grundüberzeugung. Insofern haben die Texte für mich etwas von der Strenge eines Gesetzestextes; in gewisser Weise erhält damit diese Musik etwas Alttestamentarisches. Der Introitus flüstert die Worte »Die Geburtswehen des Messias« (»chevlo shel mashiach«), der Exodus »Wiederherstellung der Welt« (»tiqqun ha’olam«).

Das Thema meines Vokalsextetts (S-S-M-T-Bar-B) void – un delitto italiano. Un epitaffio ist das Porträt von Pier Paolo Pasolini mit dem Schwerpunkt auf seine grausame Ermordung in der Nacht auf den 2. November 1975. Ich nehme hierbei Bezug auf den Film und das Buch Pasolini. Un delitto italiano von Marco Tullio Giordana. Pasolinis »Hinrichtung« wird von einer Vertonung zahlreicher Sentenzen aus seinen Gedichten gleichsam umkleidet. Mit ganz unterschiedlichen Texten (von gesprochen bis gesungen) wird nicht nur eine poetische, streckenweise madrigaleske Gegenwelt, sondern zugleich ein Panorama des Pasolinischen Denkens geschaffen. Ich teilte die Texte in sechs thematische Gruppen ein: Negatives, Tod, Hoffnung / Positives, Pasolini über sich, Ästhetisches / Ethik und Schweigen. Diese Texte werden über die gesamte Form so verteilt, dass sich eine Narration ergibt. Man könnte das Werk wie ein Textbuch lesen, gleichsam als ein poetisches Libretto, mit sechs vollständigen Gedichten und unzähligen Fragmenten. Es besteht aus sechs Abschnitten mit »bel canto«, gesungener / erstickter Stimme, onomatopoetisch (Schrei, injektive Aktion, Mehrklang), mit gepresster Stimme, mit Endprodukten der Stimme (Schlucken, Halszupressen, Knarrstimme) und einem Abgesang, der peu à peu immer phonetischer wird. Darüber sind Texte gesprochen oder geflüstert eingestreut. Musikalisches (lontano-»Chöre«, homophoner »Choral«, Terzette, Soli, Madrigalismen etc.) und Textliches, sozusagen Theatralisches (wenn auch unsichtbar) verbinden sich zu einer kleinen »Opern«-Szene. Am Ende wird der Name Pasolinis mit der Knarrstimme der Frauen angedeutet – eine Grabinschrift, ein Epitaph. In gewisser Weise ist dieses Werk meine »Hommage à Pier Paolo Pasolini«.

Für den in New York City ansässigen Sänger Jeffrey Gavett (Bariton, auch Falsett) komponierte ich das Solo Esė apie vandenis (litauisch: »Versuch über die Wasser«) nach dem Gedicht von Anja Kampmann Versuch über das Meer. Der Text erscheint auf deutsch (Falsettlage) und englisch (normale Baritonlage); zusätzlich sind ca. 50 verschiedene Übersetzungen des Wortes »Wasser« und lautmalerische Elemente verstreut, so dass sich das Werk auf zwei Haupt- und zwei Nebenebenen abspielt.

Inzwischen habe ich viel für Stimmen komponiert. Angela Nova und Angela Nova 2 sind auf der CD 3 (NEOS 11211-12) erschienen. Finite Jest für Flöte und Sopran wird auf der CD 9 erscheinen, Dov’è? für 5 Stimmen und Orchester auf der CD 10. Meine Vokalmusik wäre nicht in der Welt ohne die Hingabe der Sängerinnen und Sänger und der Dirigenten. Ich bin ihnen für ihre grandiose Arbeit zu großem Dank verpflichtet.

Claus-Steffen Mahnkopf

Literatur: Ferdinand Zehentreiter, Der Dandy als Strukturalist – Mahnkopf komponiert Baudelaire,
in: ders. (Hg.), Die Musik von Claus-Steffen Mahnkopf, Hofheim 2012
Claus-Steffen Mahnkopf, Überblick über meine Vokalmusik, in: Darmstädter Beiträge zur Neuen Musik,
Bd. 22, hg. v. Michael Rebhahn und Thomas Schäfer, Mainz 2014

Programm:

[01] Mon cœur mis à nu für vier Stimmen(1997) 16:07

ExVoCo
(Monika Meier-Schmid, Hanna Aurbacher, Berthold Schmid, Ewald Liska)

Live-Aufnahme

[02] voiced void für 24 Stimmen (2008) 31:06

Vokalensemble Stuttgart
Rupert Huber, Dirigent

[03] void – un delitto italiano Un epitaffio for 6 voices (2009) 17:15

Neue Vocalsolisten
(Johanna Zimmer, Susanne Leitz-Lorey, Truike van der Poel, Martin Nagy, Guillermo Anzorena, Andreas Fischer)

[04] Esė apie vandenis für Männerstimme (Bariton) (2015) 14:06

Jeffrey Gavett, Bariton

Gesamtspielzeit: 79:08

Ersteinspielungen

Pressestimmen:

Februar 2020

(…) „Mon cœur mis à nu“ von Claus-Steffen Mahnkopf für vier Stimmen beruht auf den „Journaux intimes“ von Charles Baudelaire. Aber Mahnkopf verweigert eine Vertonung – vielmehr geht es ihm um Laute, die allenfalls phonetisch von Baudelaire angeregt sind und die menschliche Stimme nicht als „Instrument“ kenntlich machen, sondern als eigenständiges Medium. (…)

Tilman Urbach

 

#5_2019

(…) Mit allerfeinster Ironie hat Claus-Steffen Mahnkopf Textfragmente aus Charles Baudelaires Tagebüchern phonetisch zu 15 Madrigalen verarbeitet. Mon cœur mis à nu (1997) heißt der Zyklus, entstanden in einer Phase, da der Komponist noch Wert auf Textunverständlichkeit legte. Tatsächlich taucht Vokalmusik erst relativ spät im Œuvre Mahnkopfs auf. Ein Grund, nun diesem Genre ein Album zu widmen. (…) Mit void – un delitto italiano (2009) hat Mahnkopf dem 1975 ermordeten Filmemacher Pier Paolo Pasolini ein Epitaph gewidmet. Die Neuen Vocalsolisten bewältigen die heikle Aufgabe, den Schmerzpunkt des Werks – die verstörend erinnerte Bestialität des Verbrechens – mit poetischen Sequenzen aus Pasolinis Gedichten zu umhüllen, mit Emphase und Sensibilität: ein lyrisch bis opernhaftes Sextett, tröstlich in den zarten Trauergesängen.

Den Reigen dieser Ersteinspielungen beschließt ein Opus von 2015, Esė apie vandenis („Versuch über des Wasser“),für Männerstimme nach einem Gedicht von Anja Kampmann. Ein vokalakrobatisches Solo: James Gavett artikuliert Lautmalereien, singt den englischen Text im Bariton, den deutschen im Falsett und verbindet alles zu einem bizarr auf- und abwogenden Kontinuum – bravourös. (…)

Otto Paul Burkhardt

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