Clemens von Reusner: Ideale Landschaft – electroacoustic works

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Artikelnummer: NEOS 12023 Kategorie:
Veröffentlicht am: Juli 24, 2020

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CLEMENS VON REUSNER · IDEALE LANDSCHAFT
Elektroakustische Werke

Überraschenderweise sprechen Menschen unmittelbar nach einem Konzertbesuch, befragt nach dem Charakter der gehörten Musik, sehr oft in visuellen Analogien, nämlich von Landschaften – von den Alpen über wogende Weizenfelder bis zum schäumenden Meer. Das vor dem inneren Auge Vorstellbare verstellt oder ersetzt das erinnerbare Klanggeschehen. Selbst Komponisten, deren Metier doch die Musik selbst ist, scheuen sich nicht, ihre Klangfolgen einem erschauten Ambiente nachzubilden, und nicht nur in der Programmmusik. Dieses naturimitierende Verfahren setzt voraus, dass die abstrahierende Analogie jedermann evident ist.

Einen weiteren Fort-Schritt stellt der Bezug der Tonkunst auf die bildende Kunst dar, wobei – im Maß ihrer Distanzierung davon – die Folie der Wirklichkeit für beide präsent bleibt. Es ist ein geheimnisvolles, oft heikles Unterfangen, die Künste miteinander korrespondieren zu lassen. Sie haben unterschiedliche Zeitlichkeiten, Signifikanten, ja selbst die Semantik ist nicht vergleichbar. Bei aller »Imitation« der Realität bleibt das Gemälde, die Zeichnung Artefakt. Schon in den ersten Höhlenzeichnungen manifestieren sich die Unmöglichkeit einer realistischen Nachbildung und das Abenteuer der künstlerischen Überschreitung der Realität.

Clemens von Reusner emanzipiert sich nun mit seinem titelgebenden Stück Ideale Landschaft Nr. 6 von jeglichem Ebenbild-Gedanken, indem er sich auf ein bereits abstraktes Werk bezieht und darüber hinaus betont, dass seine Komposition ausdrücklich nicht beabsichtigt, eine »Vertonung« der grafischen Vorlage zu sein. Wieso stellt er mit Titel und Text die Beziehung zu der Radierung Ernst von Hopffgartens her? Wie jeder ernsthafte Komponist strebt von Reusner über den Weg der Abstraktion die klingende Versinnlichung einer künstlerischen Idee an. Die zielt in diesem Fall auf eine starke Verknappung der verwendeten Mittel in beiden Werken, in Bild und Ton. Nur das absolut Notwendigste wird zueinander gesetzt, komponiert. Es ist, wie zu lesen und zu hören ist, ein strukturelles Merkmal, das hier die Medien wechselt und statische in zeitlich gleitende Linearität übersetzt. Der bei aller Überlagerung additive Verlauf wirkt undramatisch, beschaulich. Allein durch die sorgfältig erarbeiteten Klangfarben mit den artifiziellen Einwürfen und dem iterativen Charakter der geräuschigen Binnenstrukturen ist ein Bogen zwischen identischem Anfang und Ende gespannt.

Für einen Komponisten elektroakustischer Musik ist der enorme Lärm auf Baustellen äußerst attraktiv, denn er nimmt gleichzeitig die dynamisch schwankende Kontinuität der Maschinengeräusche und die kontingenten Krach-Eruptionen wahr, also den Bordun und die unberechenbare Improvisation. Aufnahmen mit Spezialmikrofonen und neue Bearbeitungsmöglichkeiten erlauben ihm, die einzelnen Elemente neu zu kombinieren, eine eigene »Art of Noise« zu entwickeln. Die Lust am Inszenieren der pulsierenden Mechanik und der tobenden Lärmkaskaden teilt sich bis zur denaturierenden Klangauflösung des musikalischen Spektakels mit, unberührt verkünden die ländlichen Kirchenglocken die wiedergewonnene Ruhe. Diese Glocken durchziehen als Chiffren des Regionalen und als unerschöpfliche Klangquellen auch die artifizielle Erzählung vom Abschnitt der Elbe zwischen Dömitz und Hitzacker (draught) mit ihrer mutierenden Farbigkeit und bestreichen das oberfränkische Jean-Paul-Land (de monstris epistola) wie ein rotierender Herbstnebel. Das Landschaftshörstück, dessen Komposition nicht nur Motive der 15. Summula aus Jean Pauls Dr. Katzenbergers Badereise aufgreift, sondern über das Wechsel- und Vexierspiel mit den Originaltönen und den daraus gewonnenen Artefakten die Landschaft akustisch erst erschafft, erhebt den größten Anspruch auf den Reichtum der Mittel, die dem Klangverwandlungskünstler zu Gebote stehen.

Der szenische Wechsel der akustischen Räume und die souveräne Choreographie der Klänge darin, wie sie auch in der musique concrète play sequence praktiziert wird, ohne sie prätentiös auszustellen, stellt diese Arbeiten in die Tradition der Bühnen- und Filmkunst, die vor dem Hintergrund der Realität über einen alternativen, künstlerischen Entwurf den Schauenden und Hörenden dazu bewegen können, seiner eigenen Möglichkeiten inne zu werden.

Jede der »idealen Landschaften« stellt implizit die philosophische Frage, die ideengeschichtlich auch hinter den Begriffen »ideal« und »idealistisch« verborgen ist: Was ist Wirklichkeit? – Das, was wir mit unseren Sinnen erfassen können. Dem fügt Clemens von Reusner noch eine weitere Dimension hinzu: das, was wir uns jenseits davon erfinden können – mit poetischer Phantasie.

Dr. Bernd Leukert

 

Zu den Werken der CD

Für den Komponisten, der in der elektroakustischen Musik unmittelbar mit dem Klang selbst arbeitet – sei er aufgezeichnet oder von Grund auf neu entworfen – ist jener oftmals nicht »ideal«, sondern eher »defizitär« im Sinne eigener Vorstellungen davon, wie das Material verändert werden könnte, welche Klangmöglichkeiten in einem Klang enthalten sein mögen. Oft kommt es zu einer sehr weitgehenden klanglichen Bearbeitung mit den Mitteln des elektronischen Studios. Diese klangliche Metamorphose kann so weit gehen, dass der Originalklang nach zahlreichen einzelnen Bearbeitungsschritten kaum noch oder gar nicht mehr erkennbar ist. Alle Klänge einer solchen Reihe hängen jedoch verwandtschaftlich, inhaltlich, zusammen. Sie sind Ableitungen, Varianten, kompositorische Motive. Schließlich finden diese Varianten dann in Verbindung mit anderen Klängen ihre zeitlichen und räumlichen, auch spektralen Orte in der »Klanglandschaft« einer mehrkanaligen akusmatischen Komposition.

Der Titel dieser Zusammenstellung von fünf Werken aus der Zeit von 2011 bis 2020 – Ideale Landschaft – verbindet die ausgewählten Arbeiten insofern, als sie sich mit spezifischen realen und virtuellen Klanglandschaften auseinandersetzen.

Das titelgebende Werk Ideale Landschaft Nr. 6 (2020) ist inspiriert von einer Radierung des Künstlers Ernst von Hopffgarten. Diese ist das 6. Blatt seines Zyklus »Variationen in G«, welches keinen eigenen Titel trägt. Obschon es in der Komposition nicht um die »Vertonung« einer grafischen Vorlage geht, so finden sich doch strukturelle Gemeinsamkeiten zwischen beiden Werken. Das Klangmaterial sind abstrakte, mit dem Synthesizer und mit »Csound«, einer Programmiersprache für Klangsynthese, erzeugte Klänge, die durch additive und subtraktive Klangsynthese entstanden sind.

rückbau (2011) arbeitet mit den Klängen der Dekonstruktion, die während des Rückbaus einer Zuckerfabrik, unweit des Dorfes Wierthe an der Bahnlinie Braunschweig-Hannover gelegen, in Kunstkopfstereophonie aufgenommen wurden. Klanglandschaften des Aufbaus sind ebenso wie Klanglandschaften des Abbruchs temporär und allgegenwärtiger Teil unserer industriellen Kultur. Die gewaltige Energie, die zum Aufbau einer solchen Fabrikanlage benötigt wird, wird in umgekehrter Weise auch zu ihrem Abriss gebraucht. Ein Teil von ihr bestimmt jeweils die akustische Sphäre. Am Ende gewinnt das einzige »sound signal« des Dorfes Wierthe den akustischen Raum zurück und ist in der Entfernung wieder zu hören.

Die Klanglandschaft des Cembalos untersucht play sequence (2019). Die Komposition entstand als Auftragswerk der Veranstaltungsreihe »MusiKKirche« im niedersächsischen Wendland. Zahlreiche Klänge wurden in einer erweiterten Spielpraxis zusammen mit der Cembalistin Alice Humbert erzeugt und digital aufgezeichnet. Neben den bekannten Klängen des Cembalos offenbaren die Mikrofone auch die Geräuschkomponenten bei der Klangerzeugung durch die mechanischen Abläufe beim Anschlagen einer Taste. Die Komposition hebt diese Geräuschkomponenten hervor und arbeitet mit der ihnen eigenen Beschaffenheit und Qualität, die sich im Spiel von Nähe und Distanz in komponierten räumlichen Kontrapunkten in unterschiedlich weiten und engen akustischen Räumen immer wieder neu darstellt.

Für das Festival »Sommerliche Musiktage Hitzacker« ist draught (2019) als Auftragswerk im 30. Jahr nach Öffnung der Berliner Mauer entstanden. Das Werk basiert auf vielfältigen Über- und Unterwasserklängen beiderseits der Elbe im östlichen Niedersachsen zwischen Hitzacker und Dömitz. Daraus wurden in tiefgreifenden Prozessen der Klangformung abgeleitete Klänge mit unterschiedlichen Graden der Verwandtschaft und Abstraktheit entwickelt. Die motivisch-thematische Arbeit mit heterogenem Klangmaterial tritt hier neben ein richtungsloses, reihendes Fließen. In der musikalischen Reihungsform hat die Reihung von Elementen kein Ziel. Sie strebt ins Unbegrenzte, so wie die Elbe in das unbegrenzte Meer strebt. Und in diesem Sinne scheinen in draught akustische Episoden auf, die wie das Treibgut im Fluss langsam vorüberziehen. Sie akzentuieren und spiegeln wie in einer Folge skizzenhafter Momentaufnahmen die ständig sich verändernde Landschaft mit ihren vertrauten klanglichen Fixpunkten.

Der Titel de monstris epistola (2012) bezieht sich auf ein Werk des Dichters Jean Paul und verwendet Klänge, die an »Jean Paulschen« Orten der frühen Kindheit und Jugend in Oberfranken aufgezeichnet wurden. Dem romantischen Streben nach der Synthese zwischen Poesie und Wirklichkeit im Werk Jean Pauls, entsprechen in dieser Komposition die Synthese zwischen Hörbarem der heutigen akustischen Realität an den Orten der Kindheit und Jugend, sowie akustisch potentiell darin Enthaltenem und von mir dort hinein Gedachtem. Vertrautes und Fremdes gleichermaßen und gleichzeitig. Es kommt zu einem Wechselspiel zwischen heutiger akustischer Realität und daraus abgeleiteter und imaginierter akustischer Sphäre. Der nahe Raum der akustischen Anschauung verschmilzt so mit dem zeitlich Fernen und schafft damit Raum für Erinnerung als sinnliches Erleben. Im Jahr 2013 wurde die Komposition in Bayreuth mit dem Ersten Preis in der Kategorie »Radiophone Klangkunst« in einem internationalen Kompositionswettbewerb zum 250. Geburtstag des Dichters ausgezeichnet.

Clemens von Reusner

Programm:

[01] Ideale Landschaft Nr. 6 (2020) 11:12

[02] rückbau (2011) 04:56

[03] play sequence (2019) 12:41

[04] draught (2019) 22:10

[05] de monstris epistola (2012) 23:45

total playing time: 75:00


World premiere recordings

All tracks in 2 channel stereo and 5 channel surround.
Tracks 01, 03 and 04 were originally recorded in 8 channel ambisonic and converted to 5 channel surround.
Tracks 02 and 05 were originally recorded in stereo and converted to 5 channel surround.

Pressestimmen:


#2_2021

Wie sieht eine ideale Landschaft aus? Für gewöhnlich springen einem in diesem Zusammenhang Bilder naturbelassener Umgebungen ins Auge: von Bergen umrandete Seen, türkisblauer Meer neben feinkörnigem Sand, eine in sich ruhende Schneewüste, kurzum Bilder, die einem Reisekatalog entsprungen sein könnten. Clemens von Reusners aktuelle, Ideale Landschaft betitelte Veröffentlichung mit elektronischen Kompositionen erinnert durch das reduzierte schwarz-weiße Artwork sogar an letzteres Beispiel. Dabei liegt dem ersten Stück der CD, Ideale Landschaft Nr. 6 (2020), eine dem 32-teiligen Zyklus Variationen in G entnommene Radierung des Künstlers Ernst von Hopffgarten zugrunde. Und obwohl es von Reusner nach eigener Aussage “nicht um die ‘Vertonung’ einer grafischen Vorlage geht”, weisen beide Kunstwerke “doch strukturelle Gemeinsamkeiten” auf: Eine von ihnen ist zweifellos der Fokus auf die geometrische Form der Linie.

[…] Ideale Klanglandschaft mal anders, ganz ohne Reisekatalog.

Gerardo Scheige

 

Wie Treibgut im Fluss

von Ernst August Klötzke

[…] Durchweg Erfreuliches bietet diese CD mit Musik, die vom unaufgeregt sich Regenden geprägt ist. Keine Klischees lautmalerischer Landschaften, keine Behauptung irgendwelcher Abbildungen: sie, die Musik, genügt sich selbst und eröffnet damit Perspektiven, die an die Frische der Kunst des Cinquecento erinnern.

faustkultur.de

 

15.09.2020

Dimensionen des Hörens

von Johannes S. Sistermanns

[…] Hier sind wir zu einem Lauschen, Horchen eingeladen, dem Zuhören von ‚Ideale Landschaft’ des zeitgenössischen Komponisten Clemens von Reusner. Er reicht uns weiter, was ihn überhaupt erst zu dieser Komposition geführt hat: wir hören letztlich ihm selbst zu, wenn er in sich bereits vorgehört hat, was zu seiner elektroakustischen Komposition geführt hat. Was ihn bewegt, berührt, in Aktion versetzt hat, in und mit diesen Klängen und entlang seiner individuellen Empfindung.

Gleichzeitig zielt dieses Klangarbeiten nicht auf eine von ihm beabsichtigte Symbolik, außermusikalische Bildhaftigkeit oder bereits gewusste Intention. So, wie er sich diesen Klängen hingegeben hat, sind wir hörend aufgefordert, diese Klänge auch ’nur’ zu hören. Lassen Sie Erwartung, Vorstellung, Geschmack und ein unaufhörliches Entscheiden darüber, ob ihnen diese Klänge gefallen oder nicht, einmal beiseite. Nehmen Sie dieses akustische Statement aus unserer gesellschaftlichen Gegenwart als ein kommunizieren, ein gegenseitiges korrespondieren. Es gibt nichts, was jetzt konzeptuell, intellektuell oder musikspezifisch zu erklären oder verstehen wäre. […]

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