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SCHIZZI DI ORLANDO FURIOSO Einführung D. M. Visotzky Schizzi di Orlando furioso Erstmals 1516 veröffentlicht sowie 1521 und 1532 nochmals in erweiterten Versionen erschienen, haben die 46 Gesänge um die chaotische Ritterwelt des Grafen Orlando, der über seiner Liebe zur schönen Prinzessin Angelica den Verstand verliert, in den nachfolgenden Jahrhunderten nicht nur die europäische Dichtkunst und Malerei nachhaltig beeinflusst, sondern vielfach auch musikalischen Widerhall gefunden, so am prominentesten auf der Opernbühne in Jean-Baptiste Lullys Rolande (1685), in Antonio Vivaldis Orlando finto pazzo (1714) und Orlando furioso (1727), in Georg Friedrich Händels Orlando (1733), Ariodante (1735) und Alcina (1735) oder in Joseph Haydns Orlando Paladino (1782). Orlandos ständig im Umbruch befindliche Welt – ein Szenario voller wilder Träume, erbitterter Kämpfe, entfesselter Gefühle und fantastischen Irrglaubens – weist in ihrer Vielschichtigkeit allerdings weit mehr Analogien zur heutigen Lebenswirklichkeit auf, als es zunächst den Anschein hat; daher lässt sich Ariosts literarisch ausgebreiteter Erfahrungsraum letzten Endes als Spiegel nutzen, in den wir blicken können, um, auf das Hilfsmittel künstlerischer Reflexion zurückgreifend, die rätselhaften Momente unserer eigenen Gegenwart besser verstehen zu lernen. Als ein solcher Blick in den Spiegel ist die Konzeption der Schizzi di Orlando furioso zu verstehen: Auf die vielen Möglichkeiten musikalischer Ausdrucksformen vertrauend, lassen sich Béatrice Zawodnik (Oboe und Englischhorn), D. M. Visotzky (Altsaxophon), Barry Guy (Kontrabass), Brice Pauset (Cembalo) und Leonardo García Alarcón (Orgel) von Ariosts Versen zu einer vielgestaltigen Abfolge kurzer Stücke für Solo-, Duo-, Trio- und Quartettbesetzung anregen. Zu ihren wesentlichen Elementen gehört der Aufeinanderprall differierender Idiome und Stilistiken, der aus den jeweiligen musikalischen Betätigungsfeldern der beteiligten Musikerpersönlichkeiten resultiert und sich in einer Reihe von mehr oder weniger eng umschriebenen auratischen Momenten abzeichnet, auf die immer wieder ganz bewusst musizierend Bezug genommen wird. Aufgrund dieser Art des Agierens treten einander entgegengesetzte musikalische Diskursräume – nämliche jene der neuen Musik, des Jazz und der sakralen Sphäre – miteinander in Beziehung oder überkreuzen einander, so dass sich ein mehrschichtiges, teils labyrinthisch wirkendes Gefüge ergibt. Aus dem Aufeinanderprall dieser kontrastierenden Komponenten, wie er beispielsweise im Kontext der beiden Quartette mit Oboe, Saxophon, Kontrabass und Cembalo (Schizzi IV und XXIV) in der Begegnung extrovertierter, aktionsreicher Ereignisketten geradezu zelebriert wird, gewinnen die Stücke ebenso ihren Reiz, wie durch den Einfluss, den die Musiker häufig auf den Vortrag ihres Gegenübers gewinnen, so dass sich die unterschiedlichen Idiome einander anzugleichen beginnen. Viele der insgesamt 26 Schizzi gehen von musikalischen Setzungen gestischen Charakters aus, hinter denen man förmlich die körperliche Präsenz der Musiker spürt, die das Geschehen durch energiereiche Impulse weiter vorantreiben. Dass die Herausarbeitung gestischer Qualitäten ohnehin ein hervorstechendes Merkmal des hier angestrebten Musizierens ist, lässt sich insbesondere anhand jener drei solistischen Stücke erkennen, die unmittelbar auf Versen Ariosts fußen: In den Strophen aus Canto XV und Canto XXXIV kreist das aktionsreiche Vokabular des Dichters um gestische Momente von Kampf und Flucht, die ein hohes Maß an Kraft und Bewegung suggerieren. Hierdurch haben sich offenbar auch die Musiker in Schizzi I (Kontrabass) und XV (Cembalo) anregen lassen, indem sie das dichterisch geschilderte Aktionsgeflecht als Anregung zur Herausarbeitung einer spezifischen, auf gestischen Impulsen basierenden musikalischen Diktion nutzen und dadurch zugleich die literarische Vorlage in ein klangliches Gefüge von hoher Dichte transformieren. Vergleichbares gilt – allerdings unter geänderten Vorzeichen – für die Orientierung an den Versen aus Canto XXIII, deren Fixierung auf Tod und Qual in Schizzo V eine spezifische musikalische Annäherung provoziert: Indem nämlich die Klangproduktion der Orgel mit einer Unterbrechung der Luftzufuhr arbeitet, nähert sie sich dem Charakter stockender Atemzüge und zeichnet die existenzielle Grenzsituation der Verse in einer körperhaften, als Pendant zur physischen Erschöpfung wahrnehmbaren Klanglichkeit. Gegenüber dieser solistisch artikulierten Fokussierung auf einzelne Verse und der darin festgehaltenen energetischen Zustände werden die von Ariost angeregten Klangsituationen in den übrigen Schizzi stärker miteinander konfrontiert und befinden sich – auch dies eine Reaktion auf die literarische Vorlage – oft genug im Widerstreit miteinander. Dies geht wiederum einher mit unterschiedlichen Beziehungsnetzen, die der Hörer zwischen den einzelnen Schizzi knüpfen kann: So werden beispielsweise dadurch Zusammenhänge hergestellt, dass bestimmte instrumentale Kombinationen wie das Duo Saxophon und Kontrabass (Schizzi VII, XX und XV) oder das Trio Oboe/Englischhorn, Saxophon und Cembalo (Schizzi XVI, XIX und XXII) im Verlauf mehrmals auftauchen und dabei auf immer wieder neue Art musikalisch durchdacht werden. Weitere Bezüge zwischen verschiedenen Stücken ergeben sich dagegen als unmittelbare Folge klanglicher Gestaltungsmaßnahmen: Hier ist insbesondere der inszenierte Hallraum in den mit Englischhorn, Saxophon und Orgel besetzten Schizzi VI, X, XI und XXI zu bemerken, der durch räumlich entfernte Positionierung der musikalisch oft miteinander verwobenen Bläser nicht nur den Eindruck größerer Distanz aufkommen lässt, sondern auch den Klang der Instrumente verschleiert. Dies hat entscheidenden Einfluss auf die Charakteristik der instrumentalen Klangfarben und führt dazu, dass die Klangerzeuger sich der Idiomatik der Orgel annähern. Auf Grundlage solcher und ähnlicher Überlegungen wird über die Abfolge der einzelnen Schizzi hinweg von einem Stück zum nächsten ein vielschichtiger musikalischer Diskurs aufgespannt, der, eingerahmt von zwei solistischen Kontrabass-Stücken (Schizzi I und XXVI), nach dem letzten verklungenen Ton wieder von Neuem beginnen könnte – ein deutlicher Hinweis darauf, dass die musikalisch abgetasteten Erfahrungsräume von Ariosts Versen sich abermals mit überraschenden Klangkombinationen ausfüllen ließen. Stefan Drees |
Programm:
SCHIZZI DI ORLANDO FURIOSO
D.M. Visotzky alto saxophone [01] Schizzo I (Canto XV 82,83) 03:17 [02] Schizzo II 03:47 [03] Schizzo III 03:44 [04] Schizzo IV 02:56 [05] Schizzo V (Canto XXIII 128) 02:00 [06] Schizzo VI 01:39 [07] Schizzo VII 02:42 [08] Schizzo VIII 03:10 [09] Schizzo IX 02:57 [10] Schizzo X 01:51 [11] Schizzo XI 02:43 [12] Schizzo XII 02:25 [13] Schizzo XIII 02:24 [14] Schizzo XIV 02:06 [15] Schizzo XV (Canto XXXIV 65) 02:19 [16] Schizzo XVI 02:22 [17] Schizzo XVII 02:32 [18] Schizzo XVIII 01:11 [19] Schizzo XIX 02:29 [20] Schizzo XX 01:48 [21] Schizzo XXI 01:51 [22] Schizzo XXII 02:22 [23] Schizzo XXII 02:17 [24] Schizzo XXIV 03:01 [25] Schizzo XXV 01:19 [26] Schizzo XXVI (Canto XV 82,83) 05:07 total time: 66:27 |