D.M. Visotzky, Béatrice Zawodnik, Barry Guy, Brice Pauset, Leonardo García Alarcón: Schizzi di Orlando Furioso

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Artikelnummer: NEOS 11306 Kategorie:
Veröffentlicht am: März 1, 2014

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SCHIZZI DI ORLANDO FURIOSO

Einführung
Seit ich Anfang der 1960er Jahre die Theater-Adaption von Orlando furioso in der Inszenierung von Luca Ronconi in New York gesehen und die gleichnamige Oper von Vivaldi gehört habe, hat mich der Gedanke, eine Oper zu komponieren, nicht mehr losgelassen. Die fulminante Ronconi-Aufführung und eine Arie aus Vivaldis Oper haben mich einen großen Teil meines Lebens begleitet. Abgesehen vom überschwänglichen Lebensgefühl, das ich ihnen verdanke und das sie auszeichnet, ist es darum nicht der wichtigste Gedanke, dem einen oder anderen dieser Künstler eine Hommage zu bereiten, es geht eher um eine Hymne auf das Leben, auf die Liebe, auf die intensive Freundschaft, die mir von all denen, die ich liebe, entgegengebracht wird. Das Leben besteht aus solchen Zufällen und Kristallisationen, durch die wir uns entwickeln und aus denen wir uns konstruieren, und aus jenen Improvisationen, die uns Linien einzeichnen, die anfangs sehr fein, letzten Endes aber stark sind. Wenn es Abend wird, weben Improvisation und Komposition das Gespinst unserer Träume in jenem Übermaß, das uns selbst ebenso charakterisiert wie das Werk von Ariost.

D. M. Visotzky
Übersetzung aus dem Französischen: Birgit Gotzes

Schizzi di Orlando furioso
Auf den ersten Blick mutet es verwunderlich an, dass sich heutige Musiker von einem literarischen Werk inspirieren lassen, das unserer Gegenwart so fern zu stehen scheint wie das ab 1505 entstandene Versepos Orlando furioso von Ludovico Ariosto.

Erstmals 1516 veröffentlicht sowie 1521 und 1532 nochmals in erweiterten Versionen erschienen, haben die 46 Gesänge um die chaotische Ritterwelt des Grafen Orlando, der über seiner Liebe zur schönen Prinzessin Angelica den Verstand verliert, in den nachfolgenden Jahrhunderten nicht nur die europäische Dichtkunst und Malerei nachhaltig beeinflusst, sondern vielfach auch musikalischen Widerhall gefunden, so am prominentesten auf der Opernbühne in Jean-Baptiste Lullys Rolande (1685), in Antonio Vivaldis Orlando finto pazzo (1714) und Orlando furioso (1727), in Georg Friedrich Händels Orlando (1733), Ariodante (1735) und Alcina (1735) oder in Joseph Haydns Orlando Paladino (1782).

Orlandos ständig im Umbruch befindliche Welt – ein Szenario voller wilder Träume, erbitterter Kämpfe, entfesselter Gefühle  und fantastischen Irrglaubens – weist in ihrer Vielschichtigkeit allerdings weit mehr Analogien zur heutigen Lebenswirklichkeit auf, als es zunächst den Anschein hat; daher lässt sich Ariosts literarisch ausgebreiteter Erfahrungsraum letzten Endes als Spiegel nutzen, in den wir blicken können, um, auf das Hilfsmittel künstlerischer Reflexion zurückgreifend, die rätselhaften Momente unserer eigenen Gegenwart besser verstehen zu lernen.

Als ein solcher Blick in den Spiegel ist die Konzeption der Schizzi di Orlando furioso zu verstehen: Auf die vielen Möglichkeiten musikalischer Ausdrucksformen vertrauend, lassen sich Béatrice Zawodnik (Oboe und Englischhorn), D. M. Visotzky (Altsaxophon), Barry Guy (Kontrabass), Brice Pauset (Cembalo) und Leonardo García Alarcón (Orgel) von Ariosts Versen zu einer vielgestaltigen Abfolge kurzer Stücke für Solo-, Duo-, Trio- und Quartettbesetzung anregen. Zu ihren wesentlichen Elementen gehört der Aufeinanderprall differierender Idiome und Stilistiken, der aus den jeweiligen musikalischen Betätigungsfeldern der beteiligten Musikerpersönlichkeiten resultiert und sich in einer Reihe von mehr oder weniger eng umschriebenen auratischen Momenten abzeichnet, auf die immer wieder ganz bewusst musizierend Bezug genommen wird.

Aufgrund dieser Art des Agierens treten einander entgegengesetzte musikalische Diskursräume – nämliche jene der neuen Musik, des Jazz und der sakralen Sphäre – miteinander in Beziehung oder überkreuzen einander, so dass sich ein mehrschichtiges, teils labyrinthisch wirkendes Gefüge ergibt. Aus dem Aufeinanderprall dieser kontrastierenden Komponenten, wie er beispielsweise im Kontext der beiden Quartette mit Oboe, Saxophon, Kontrabass und Cembalo (Schizzi IV und XXIV) in der Begegnung extrovertierter, aktionsreicher Ereignisketten geradezu zelebriert wird, gewinnen die Stücke ebenso ihren Reiz, wie durch den Einfluss, den die Musiker häufig auf den Vortrag ihres Gegenübers gewinnen, so dass sich die unterschiedlichen Idiome einander anzugleichen beginnen.

Viele der insgesamt 26 Schizzi gehen von musikalischen Setzungen gestischen Charakters aus, hinter denen man förmlich die körperliche Präsenz der Musiker spürt, die das Geschehen durch energiereiche Impulse weiter vorantreiben. Dass die Herausarbeitung gestischer Qualitäten ohnehin ein hervorstechendes Merkmal des hier angestrebten Musizierens ist, lässt sich insbesondere anhand jener drei solistischen Stücke erkennen, die unmittelbar auf Versen Ariosts fußen: In den Strophen aus Canto XV und Canto XXXIV kreist das aktionsreiche Vokabular des Dichters um gestische Momente von Kampf und Flucht, die ein hohes Maß an Kraft und Bewegung suggerieren.

Hierdurch haben sich offenbar auch die Musiker in Schizzi I (Kontrabass) und XV (Cembalo) anregen lassen, indem sie das dichterisch geschilderte Aktionsgeflecht als Anregung zur Herausarbeitung einer spezifischen, auf gestischen Impulsen basierenden musikalischen Diktion nutzen und dadurch zugleich die literarische Vorlage in ein klangliches Gefüge von hoher Dichte transformieren. Vergleichbares gilt – allerdings unter geänderten Vorzeichen – für die Orientierung an den Versen aus Canto XXIII, deren Fixierung auf Tod und Qual in Schizzo V eine spezifische musikalische Annäherung provoziert: Indem nämlich die Klangproduktion der Orgel mit einer Unterbrechung der Luftzufuhr arbeitet, nähert sie sich dem Charakter stockender Atemzüge und zeichnet die existenzielle Grenzsituation der Verse in einer körperhaften, als Pendant zur physischen Erschöpfung wahrnehmbaren Klanglichkeit.

Gegenüber dieser solistisch artikulierten Fokussierung auf einzelne Verse und der darin festgehaltenen energetischen Zustände werden die von Ariost angeregten Klangsituationen in den übrigen Schizzi stärker miteinander konfrontiert und befinden sich – auch dies eine Reaktion auf die literarische Vorlage – oft genug im Widerstreit miteinander. Dies geht wiederum einher mit unterschiedlichen Beziehungsnetzen, die der Hörer zwischen den einzelnen Schizzi knüpfen kann: So werden beispielsweise dadurch Zusammenhänge hergestellt, dass bestimmte instrumentale Kombinationen wie das Duo Saxophon und Kontrabass (Schizzi VIIXX und XV) oder das Trio Oboe/Englischhorn, Saxophon und Cembalo (Schizzi XVIXIX und XXII) im Verlauf mehrmals auftauchen und dabei auf immer wieder neue Art musikalisch durchdacht werden.

Weitere Bezüge zwischen verschiedenen Stücken ergeben sich dagegen als unmittelbare Folge klanglicher Gestaltungsmaßnahmen: Hier ist insbesondere der inszenierte Hallraum in den mit Englischhorn, Saxophon und Orgel besetzten Schizzi VIXXI und XXI zu bemerken, der durch räumlich entfernte Positionierung der musikalisch oft miteinander verwobenen Bläser nicht nur den Eindruck größerer Distanz aufkommen lässt, sondern auch den Klang der Instrumente verschleiert. Dies hat entscheidenden Einfluss auf die Charakteristik der instrumentalen Klangfarben und führt dazu, dass die Klangerzeuger sich der Idiomatik der Orgel annähern.

Auf Grundlage solcher und ähnlicher Überlegungen wird über die Abfolge der einzelnen Schizzi hinweg von einem Stück zum nächsten ein vielschichtiger musikalischer Diskurs aufgespannt, der, eingerahmt von zwei solistischen Kontrabass-Stücken (Schizzi I und XXVI), nach dem letzten verklungenen Ton wieder von Neuem beginnen könnte – ein deutlicher Hinweis darauf, dass die musikalisch abgetasteten Erfahrungsräume von Ariosts Versen sich abermals mit überraschenden Klangkombinationen ausfüllen ließen.

Stefan Drees

Programm:

SCHIZZI DI ORLANDO FURIOSO

 

D.M. Visotzky alto saxophone
Béatrice Zawodnik oboe/English horn
Barry Guy double bass
Brice Pauset harpsichord
Leonardo García Alarcón organ

[01] Schizzo I (Canto XV 82,83) 03:17
double bass

[02] Schizzo II 03:47
oboe and double bass

[03] Schizzo III 03:44
oboe, alto saxophone and double bass

[04] Schizzo IV 02:56
oboe, alto saxophone, harpsichord and double bass

[05] Schizzo V (Canto XXIII 128) 02:00
organ

[06] Schizzo VI 01:39
oboe, alto saxophone and organ

[07] Schizzo VII 02:42
alto saxophone and double bass

[08] Schizzo VIII 03:10
alto saxophone, harpsichord double bass

[09] Schizzo IX 02:57
oboe, harpsichord and double bass

[10] Schizzo X 01:51
oboe, alto saxophone and organ

[11] Schizzo XI 02:43
oboe, alto saxophone and organ

[12] Schizzo XII 02:25
oboe and alto saxophone

[13] Schizzo XIII 02:24
oboe and organ

[14] Schizzo XIV 02:06
oboe, alto saxophone and organ

[15] Schizzo XV (Canto XXXIV 65) 02:19
harpsichord

[16] Schizzo XVI 02:22
oboe, alto saxophone and harpsichord

[17] Schizzo XVII 02:32
harpsichord and double bass

[18] Schizzo XVIII 01:11
oboe and harpsichord

[19] Schizzo XIX 02:29
oboe, alto saxophone and harpsichord

[20] Schizzo XX 01:48
alto saxophone and double bass

[21] Schizzo XXI 01:51
oboe, alto saxophone and organ

[22] Schizzo XXII 02:22
oboe, alto saxophone and harpsichord

[23] Schizzo XXII 02:17
oboe, alto saxophone and organ

[24] Schizzo XXIV 03:01
oboe, alto saxophone, harpsichord and double bass

[25] Schizzo XXV 01:19
alto saxophone and double bass

[26] Schizzo XXVI (Canto XV 82,83) 05:07
double bass

total time: 66:27

 

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