ERES HOLZ · TOUCHING UNIVERSES
MACH – so heißt ein Zyklus von Stücken für Soloinstrumente, den Eres Holz 2011 mit einem virtuosen Trompetensolo begonnen hat und der inzwischen neun Stücke umfasst; seit dem Klarinettenstück von 2016 kommt jeweils Live-Elektronik dazu. MACH! – als Aufforderung; MACH – auch als kleine Hommage an den Physiker Ernst Mach. Mit der nach ihm benannten Maßeinheit wird bis heute die Geschwindigkeit von Überschallflugzeugen angegeben – ein kleiner Hinweis auf die Schwierigkeit der Stücke. MACH – so steht es in der Partitur des Orgelstücks – sei »eine Art Einladung, das zu machen, was nicht trivial ist«.
Alle Stücke des Zyklus greifen auf ein für die jeweiligen Instrumente spezifisches Repertoire virtuoser Techniken und expressiver Spielfiguren zurück, die sich im Laufe der Musikgeschichte entwickelt haben: Bei der Harfe sind es etwa glockenhaft tiefe Basstöne und glitzernde Arpeggien, beim Cello die höchste Intensität signalisierenden Doppelgriffe, beim Akkordeon eine vollstimmige, am Orgelklang Maß nehmende Spielweise. Die Elektronik verstärkt anfänglich den Klang – etwa durch Halleffekte und diskrete Verfärbungen –, überformt die Klangproduktion dann aber immer stärker: Noch immer hört man die Typika der instrumentalen Klangrede, nun aber ins Ekstatische gesteigert – die Instrumente reden gleichsam in fremden Zungen. Das Individuum, in sich gefangen, sucht mit allen erreichbaren Mitteln aus sich herauszugehen, sich der Welt mitzuteilen: Es geht, so formuliert es der Komponist, »um Kommunikation, um die Suche nach Empathie«, darum, »die Einsamkeit zu überwinden«, notfalls durch »ein Geschrei« nach außen zu dringen.
Gewiss, es geht in diesen Stücken um die »Lebenseinsamkeit« als Conditio humana: Das Wissen, wie Arthur Schnitzler es formulierte, »dass zwei Leute sich immer, immer fremd bleiben müssen, dass man nie ganz ineinander hineinsehen kann, dass man sich eigentlich nie wirklich versteht.« Es ist aber sicher kein Zufall, dass gleich fünf dieser Stücke während der Corona-Pandemie 2020 / 21 mit ihren Kontaktbeschränkungen entstanden sind. Einsamkeit wurde plötzlich zur täglichen Erfahrung und zum Debattengegenstand, und so kommt diesen Stücken auch eine zeitdiagnostische Qualität zu. Der Mensch, auch in der Isolation – sei sie aufgezwungen oder selbstgewählt –, bleibt ein »animal sociale«, bezogen auf ein Gegenüber. In diesem Sinne ist vielleicht der Satz des Philosophen Byung-Chul Han zu verstehen, den Eres Holz dem Harfenstück des MACH-Zyklus beigegeben hat: »Die Resonanz ist kein Echo des Selbst. Ihr wohnt die Dimension des Anderen inne. Sie bedeutet Zusammenklang.«
Innerhalb des MACH-Zyklus hat das Orgelstück eine Sonderstellung. Es entstand 2016 als Auftragswerk des Deutschlandfunks für die »Orgel für Neue Musik« in der Kunst-Station Sankt Peter in Köln. In die Komposition floss eine wichtige Erfahrung ein: Der Chorgesang, den Eres Holz über viele Jahre aktiv betrieben hatte. Er hatte dabei beobachtet, dass insbesondere die Kadenzen, die Auflösung einer Intervallkonstellation in eine andere, eine unmittelbar körperliche Wirkung auf ihn hatten. Bestimmte harmonische Progressionen sind traditionell mit bestimmten Affekten verbunden: Anders gesagt, sie kodieren und abstrahieren Gefühlsinhalte. Klauseln und Kadenzen interpunktieren diesen Prozess, indem sie eine harmonische Progression abschließen, aber eventuell auch eine neue eröffnen oder ermöglichen. Genau hier setzt Eres Holz’ Komposition an: »Die Affekte, die Ausdrucksmomente, die diese Auflösungsintervalle erzeugen, sind in gewisser Weise das Herz dieses Stückes.«
Die harmonische Progression hat also eine ähnliche Funktion wie die Basslinie und das Akkordgerüst einer barocken Passacaglia. Auch bei Eres Holz werden auf diese Weise die wechselnden Episoden in einen steten musikalischen Fluss eingebunden. Dieser Vorgang ist im Grunde ein Analogon zur Schöpfung: Ein unaufhörlicher Prozess des Werdens, der erst am Tage ihres Untergangs endet. Diesem kathartischen Finale (feierlich besiegelt vom Schlag der Kirchturmuhr, die in der Kunst-Station Sankt Peter vom Orgelspieltisch aus betätigt werden kann) strebt »in effigie« auch die Komposition entgegen.
Eine Akkordprogression als Kernidee eines Stückes: Dieses Modell hat Eres Holz immer wieder beschäftigt. Die Frage war: Lassen sich Wahrnehmungsmuster der tonalen Musik – wie Grundtönigkeit, Spannung und Lösung – auf eine nicht-tonal organisierte Musik übertragen? Dazu hatte er sich mit der Geschichte der europäischen Polyphonie von den Anfängen (Pérotin) bis zum Barock beschäftigt, mit den Stimmführungsregeln etwa, die nicht allein den Umgang mit Dissonanzen regeln, sondern grundsätzlich festlegen, in welcher Weise ein Akkord in einen anderen aufgelöst werden soll. Daraus folgte für Eres Holz die Notwendigkeit, selber solche Regeln zu formulieren, die nun nicht mehr auf modale oder tonale Zusammenhänge bezogen werden, sondern unter jeweils neu definierten Rahmenbedingungen die Kohärenz der Musik gewährleisten. Um solche Regeln aufzustellen, bedient er sich auch des Rechners: »Ich versuche, bestimmte Mechanismen oder bestimmte Arten von musikalischen Prozessen zu prognostizieren« – so beschrieb er es 2016 in einem Interview. »Wie würde es jetzt klingen, wenn ich so und so denke? Wie würde das klingen, wenn ich das so weiterlaufen lasse, mit bestimmten Intervall-Auflösungsregeln?«
Die intensive Auseinandersetzung mit dem Parameter Harmonie – und zwar als Harmonie, nicht als Resultate linear unabhängiger Bewegungen – ist in der Neuen Musik ungewöhnlich. Harmonie ist als Referenzrahmen für das Melodische unerlässlich: »Ich arbeite harmonisch, damit die Melodien auch einen ›Sinn‹ bekommen. Wie Bach es tut. Und gerade deshalb erlaube ich mir die melodische Freiheit, weil sie harmonisch fundiert ist.«
Die melodische Freiheit: Das bedeutet insbesondere die Einbeziehung von Mikrotönen, die in seiner Musik eine sehr wichtige Rolle spielen. Menschliche Sprache, aber auch Weinen, Lachen und alle sonstigen affektiven Lautäußerungen: Das alles ereignet sich ja nicht im regulierten Mittelmaß des temperierten Systems mit seinen zwölf gleichmäßigen Halbtonschritten. Mit Mikrotönen freilich kann man menschlichen Lauten zumindest näherkommen: Für Eres Holz stehen die Mikrotöne »als Zeichen für das Un-perfekt-Sein des Menschen – der Mensch als biologisches Wesen, und keine sterile, keine ›wohltemperierte‹ Maschine. Mikrotöne als Ausdruck von Schmerz, aber auch von Leidenschaft und Erotik«.
Erst unter dieser Voraussetzung kann der Musik Persönliches anvertraut werden: In zwei Stücken verarbeitet Eres Holz das Sterben seiner Mutter an der Alzheimer-Krankheit und ihren Tod im Jahr 2019: Es sind das Streichquartett Dunkle Risse und die Ensemblekomposition Touching Universes and Ends.
Das Streichquartett entstand für das Festival »Forum neuer Musik« des Deutschlandfunks 2021, das unter dem Motto stand: »Wollen wir den Tod überwinden?«. Dem Quartett liegt wiederum eine Akkordprogression zugrunde: »Wie eine Art endlose Schleife, und die zieht den Zuhörer mit« – so der Komponist im Gespräch mit Hanno Ehrler anlässlich der Erstsendung im November 2021. Tatsächlich dominiert in diesem Stück über weite Strecken das harmonische Element, das das Melodische gleichsam mitreißt und im dritten Satz in der zerstörerischen Maschinerie doppelgriffgepanzerter Akkorde zermalmt: Ein Triumph des Todes. Andererseits sind da zarte und auch kräftige, »redende« melodische Gesten, in denen sich vorübergehend das Leben wieder aufzurichten scheint. In unregelmäßigen Abständen tauchen außerdem in sich entwicklungslose Passagen mit hohen Flageolett-Tönen auf, fern, fremd und unverfügbar: »Die Flageolett-Töne sind das Jenseits, Licht, Gott – wenn man so will«, so der Komponist. Sie formulieren aber keine Gewissheit, sondern eine Frage, ein tastendes Suchen und Ahnen.
Ein Jahr nach dem Streichquartett wendet sich die Ensemblekomposition Touching Universes and Ends dem Thema Tod und Verlust noch einmal zu: Anders als das Streichquartett, das als klassisch umrissene Kammermusik weitgehend ohne erweiterte Spieltechniken auskommt, greift Touching Universes and Ends auf alle denkbaren Farbwerte und Geräuschklänge zu, die einem siebenköpfigen Ensemble abverlangt werden können: Eine Musik, die in symphonische Dimensionen ausgreift.
Es beginnt als ein Stück der Erinnerung, des Gedenkens: Ruhige Klavierakkorde, in denen tonale Reminiszenzen mitschwingen – »Schönheit, das Wunder der Geburt«, notiert der Komponist dazu. Zugleich aber auch Wehmut, ein angedeuteter Trauermarschrhythmus, ein Anfang, der um das Ende weiß. Es ist die über weite Strecken in Mikrotönen spielende Viola, die dieses Geschehen mit sprunghaften melodischen Figuren belebt; sie reißt das Cello, später auch die übrigen Instrumente mit: Der Ensemblesatz wird schnell, im weiteren Verlauf sogar hektisch, und so dicht, dass sich der Komponist der von Schönberg eingeführten Zeichen zur Markierung von Haupt- und Nebenstimme bedienen muss: Es ist »der lange, verzweifelte, tägliche Widerstand gegen den unaufhörlich stellenweise fortschreitenden Tod« (Marcel Proust). Am Ende der
Zusammenbruch: Der Instrumentalklang, Signum des redenden, sich ausdrückenden Individuums löst sich in Geräuschklängen auf, die an und mit den Instrumenten erzeugt werden. Im Klavier werden elektronisch erzeugte Klangimpulse mittels eines sogenannten »Transducers« direkt auf die Saiten des Klaviers gegeben. Es ist eine akustische und musikalische Grenzüberschreitung, in eine andere Dimension. Ganz am Ende die Wiederkehr des Anfangs – neues Leben, immer schon todverfallen.
Wie ein Nachspiel zu diesen existentiellen Dimensionen aufreißenden Stücken wirkt die Komposition Die Frau aus dem Jahr 2020 – ein groteskes Impromptu. Ein Stück nach einem Text des rumänischen Dichters Constantin Virgil Bănescu: Hier ist es die Furcht vor dem Leben, die einen Mann dazu veranlasst, sich eine Gefährtin zu schaffen, »Fleisch von seinem Fleisch« – und das buchstäblich, da er es sich zu diesem Zweck vom eigenen Körper heruntersäbelt: Eine Gefährtin, die ihm in wörtlicher Auslegung des biblischen Schöpfungsberichtes »ganz gleich« sein soll. Freilich wird diese Gefährtin kein menschliches Wesen sein, sondern ein schauerlicher Homunculus, totes Fleisch, das keine Ansprüche stellt … Umgesetzt ist das mit syllabisch deklamierendem Gesang, der mit spitzen Blockflöten-Staccati, mit Glissando-Effekten und perkussiven Kontrabass-Akzenten buchstäblich in Szene gesetzt wird.
Die Harmonie als notwendiger Referenzrahmen des Melodischen: Diese Grundannahme in der Musik von Eres Holz stellt die Quintettkomposition Schakalkopf (2016) auf höchst spannende Weise wieder in Frage. Harmonie und Melodie werden als Gegensätze artikuliert (»unruhig, mysteriös« vs. »rhythmisch, tänzerisch«). Ihr schließliches Aufeinandertreffen im Schlussabschnitt führt nicht zur Synthese, sondern neutralisiert alle Energie, eine Coda der Erschöpfung (versprengte Einzeltöne, »ruhig jedoch verstört«) beendet das Stück. Der Titel bezieht sich auf den altägyptischen Totengott Anubis, der schakalköpfig dargestellt wurde. »Die Strenge der altägyptischen Kunst« habe seine Arbeit inspiriert, notiert der Komponist. »Durch sehr klare Phrasenbildung, in einer Weise fast ›scharfkantig‹, klingt die Musik archaisch und mystisch. Das unermüdliche Tremolo der Streicher irgendwie verhext …«
Ingo Dorfmüller
Für Eres Holz stehen die Mikrotöne »als Zeichen für das Un-perfekt-Sein des Menschen – der Mensch als biologisches Wesen, und keine sterile, keine ›wohltemperierte‹ Maschine. Mikrotöne als Ausdruck von Schmerz, aber auch von Leidenschaft und Erotik«.