Ernst Helmuth Flammer: Der Turmbau zu Babel

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Artikelnummer: NEOS 12015 Kategorie:
Veröffentlicht am: September 25, 2020

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Der Turmbau zu Babel

Oratorium in 8 Teilen (1981 / 82)
für 3 Orchestergruppen, 3 Chöre, 2 Gesangssoli (Sopran und Bariton), Sprecher, quadrophones Zuspielband und Live-Elektronik,
nach Texten von Friedrich Schiller, Arthur Schopenhauer, Friedrich Nietzsche, Richard Wagner, Niccolò Machiavelli und Kurt Tucholsky

Zum Komponieren im zeitkritischen Sujet

»Nichts Sinnliches ist erhaben, und je mehr der Markt
die Musik zum kindischen Spaß erniedrigt,
um so emphatischer drängt sie auf ihre Mündigkeit
durch Vergeistigung.«
Immanuel Kant

I.
Ein zeitkritisches Sujet hat nur eine vermeintliche, im Sinne eines auf den unmittelbaren Augenblick bezogenen Gegenwartsbegriffs verstandene Aktualität. Es ist vielmehr zu den Zeiten und ineins an den Orten aktuell, wo und wann immer Verhältnisse anzutreffen sind, die den in diesem Sujet beschriebenen oder – beim Drama – abgehandelten Zuständen ähneln.

Eine so verstandene Aktualität ist, bezogen auf Raum und Zeit, allgegenwärtig. Ist sie es wirklich, so wird eine Metaebene des Aktuellen schlechthin erreicht, deren philosophische und künstlerische Dimension sich nach Hegel im geistigen Gehalt philosophischen und musikalischen Denkens und künstlerischen Tuns allgemein widerspiegelt. Musikalisches Denken ist seiner Art nach begriffslos.

II.
Der stereotype Einwand, man wolle sich, indem man den Begriff der Aktualität verallgemeinert betrachtet, nur um ein »Position beziehen« in gesellschaftlicher oder politischer Hinsicht drücken, sticht nicht, weil künstlerische Tätigkeit nicht mit Agitation verwechselt werden darf. Position beziehen mit künstlerischen Mitteln heißt nicht, in konkrete tagespolitische Ereignisse einzugreifen. Position bezieht der Künstler allein mit der Auswahl und danach der Ausgestaltung seines Sujets mit seinen künstlerischen Mitteln, mit der Aktualität seines Themas auf den Augenblick bezogen, weil er aufgreift.

Jener Aktualität Metaniveau verleihen heißt, die Thematik mit künstlerischen Mitteln verallgemeinernd und zugleich verbindlich zu behandeln. Eine implizite Vieldeutigkeit, die sich aus dem Verhältnis Musik und Text ergibt, ist zwar verallgemeinernd, jedoch in ihrer Eigenschaft des Allgemeinen allgegenwärtig, und deshalb gerade in einem höheren Grade allgemeinverbindlich. Diese Allgemeinverbindlichkeit fehlte, wenn jedes Ausdrucksmittel einem eindeutigen Zweck zugeordnet und zuzuordnen wäre. Eine solche Zuordnung wäre einem konkreten politischen Ereignis oder Zustand zwar näher, aber mehr politische Demonstration, mehr Agitation als künstlerischer Ausdruckswille. Sie bedingt, für die Beschreibung einer bestimmten Augenblickssituation sehr konkret und für den Augenblick in hohem Maße verbindlich zu sein.

Mit der impliziten Vieldeutigkeit jedoch und der damit verbundenen symbolbildenden Allgemeingültigkeit wird die Fragestellung drängender, konkreter, aktueller, uns alle betreffend und damit verbindlicher. Die Augenblicksverbindlichkeit ist der generellen Unverbindlichkeit demnach sehr nahe. Das Fehlen des Gleichnis- und Symbolcharakters hat den Verlust von Sinnfälligkeit, weitergreifend den der Gehalte von Musik und Text zur Folge, jenem Unaussprechbaren und Unergründlichen, welches eigentlich künstlerisch ist. Der Kunstcharakter wäre ernsthaft in Gefahr. Daher liegen Agitprop und sogenannte »Engagierte Musik« im Grenzbereich des Künstlerischen.

III.
Kunst kann nicht agitieren, am allerwenigsten von allen Künsten die körperlose Musik in ihrer Begriffslosigkeit. Ihre Semantik erfährt sie aus dem Zusammenhang, in den sie gestellt wird. Kunstmusik kann nicht im Sinne von »politischem Handeln mittels Musik« politisch sein, ohne sich der Gefahr des Trivialen im Sinne falsch verstandener Allgemeinverständlichkeit auszusetzen, etwa über umgangssprachliche musikalische Idiome. Das hieße nichts anderes, als sich in plakativer Manier jedem Hörer anzubiedern, ohne dass dieser zur Reflexion veranlasst und angeregt wäre.

Theodor W. Adorno wählte dafür ein anschauliches Bild, das von der Flaschenpost, jener in einem kleinen, unscheinbaren Behältnis konservierten Mitteilung. Auf dem Meeresgrund ruhend, wartet sie darauf, an irgendeinem Ort (Strand) quasi als Strandgut angeschwemmt zu werden und so ihren Empfänger zu finden, der versteht. Das soll zeigen, wie weit der Weg vom Aufnehmen zum Verstehen, zum Erfassen eines Werksujets sein kann. Es wird immer eine Minderheit sein, die diese Signale erfasst. Für einen Musiker wird es schon viel bedeuten, mit diesen Wenigen, und wenn es nur Einer ist, ins Gespräch zu treten. Der Wunsch, dies auch mit der Mehrheit zu können, wird wohl ein Traum bleiben. Schon solches Strandgut auszusenden ist ein großes Glück für jeden Künstler.

IV. Was will der Turmbau zu Babel?
»Dante erklärt zunächst von sich aus, dass das eine Werk des Turmbaus die vielfältigen Tätigkeiten des Menschen erforderlich machte, das Befehlen, das Entwerfen, das Behauen von Steinen, deren Transport usw. Der himmlische Strafakt nahm nun den so verschiedenen Arbeitern mit der einen Sprache die Verständigung über das Ganze des gigantomanischen Werks. Ab nun verstanden sich bloß noch die Spezialisten innerhalb ihres engen Kreises. Je hervorragender sie ihre Spezialität ausführten, umso roher, so barbarischer wurde ihre Sprache. Ein Wort, das bis zu den Heutigen schallt… Das Gesetz der Sprachverwirrung ist mächtig. Die Spezialistik, diese zu überwinden, ist die Sache neuer Spezialisten geworden«, schreibt der Kunsthistoriker Martin Gosebruch (vgl. dazu: Epochenstile – historische Tatsächlichkeit und Wandel des wissenschaftlichen Begriffs, Zeitschrift für Kunstgeschichte 44, 1981, S. 9).

Man darf hinzufügen, diese Aufgabe wird gewöhnlich sogenannten Expertenkommissionen überlassen, zu diesen Zwecken gebildet, und wird so auf bürokratische Ebenen abgeschoben und damit auf die lange Bank. Solche Experten sind im Bereich der Musik die wissenschaftlichen Pädagogen, die in unserer verkümmerten Sprachfähigkeit den Gegenstand Musik »didaktisch« und »curricular« vermitteln sollen. Aber erreichen sie mit ihrem wissenschaftlichen Kauderwelsch, ihren zahlreichen Neuschöpfungen von Worthülsen nicht nachgerade das Gegenteil? Zur Überwindung der Sprachverwirrung, der daraus folgenden Sprachlosigkeit verabreichen sie als neue Medizin erneute Sprachverwirrung!

Das ist die eine Seite meines Verständnisses von der Aktualität des Themas »Turmbau zu Babel«. Die andere ist die einer Verwirrung des Einzelnen durch permanente Reizüberflutung – auch in mein Werk einkomponiert – und damit seiner totalen Desorientiertheit in einer kalten, materialistischen Umwelt. Die Verwirrung in Form der Desorientierung wird mit den neuen Kabelmedien (1980), heute mit der Digitalisierung einen weiteren Aufschwung nehmen und ihr zerstörerisches, aktuelles Werk fortsetzen. Der Mensch erfährt seine Umwelt mehr und mehr nur noch vermittelt, wie das Wort »Medium« sagt.

Im Schatten von all dem, und das ist die dritte Seite jener Verwirrungen und Verirrungen, ersinnen Spezialisten, besessen vom Größenwahn, großtechnologische Projekte, wie Atomkraftwerke, Atomwaffen, die den Menschen versklaven, weil er unfähig sein wird, jene Technologie und ihre Folgen zu beherrschen. Der Turm wird zwar gebaut werden, aber er wird nie zu Ende gebaut werden können…

Eine kollektive Verweigerung unserer Verantwortlichen in aller Welt, die Folgen solchen Tuns zu Ende zu denken, und weiter für die Folgen selbst, macht das Thema »Turmbau zu Babel« über alle Gesellschaftssysteme und -ordnungen hinweg aktuell. War die Bedrohung des Menschen durch seinen eigenen Größenwahn in der Vergangenheit jeweils nur regional auf bestimmte Kulturkreise begrenzt, so ist sie heute weltweit und damit für die Menschheit existentiell. Sprachverwirrung stiftet partikularen Egoismus, ein nachgerade unüberwindlich scheinendes Hindernis, unsere Politiker zur Auseinandersetzung mit jenen Kernfragen zu zwingen, die dieses Thema ontologisch anschneidet.

V.
Es wäre aus der Sicht der existentiellen und alles übergreifenden Aktualität des Themas »Turmbau zu Babel« inkonsequent, künstlerisch zugunsten einer vordergründigen tagespolitischen Aktualität nicht eine solche auf Metaebene anzustreben, die Problematik nicht auf verallgemeinernde Weise und trotzdem allgemeinverbindlich durch Schaffung einer Symbolik anzugehen. Dies habe ich in meinem Werk versucht. Die musiksprachlichen Mittel in ihrer Pluralität, die sich scheinbar beziehungslos gegenüberstehen im Sinne der Sprachverwirrung, des Sich-nicht-Verstehens, haben alle eine gemeinsame kompositorische Keimzelle, sowohl harmonisch in zwei miteinander korrespondierenden Reihen und daraus abgeleiteten Akkorden, als auch rhythmisch und in ihrer Ausdrucksgestalt.

Die Vielheit der aus den Reihen abgeleiteten Akkord- sowie der musiksprachlichen Mittel nimmt im Laufe des Werks mehr und mehr zu. Im gegenläufigen Prozess nimmt deren individuelle Ausdruckskraft zu Gunsten vorgefertigter musikalischer Statements (komponierte Sprachlosigkeit) allmählich ab. Das kompositorische Material durchläuft auf dem Wege seiner prozesshaften Zerstörung (musiksprachlichen Verkümmerung) quasi einen Prozess seiner Industrialisierung. Die Vielheit der Ausdrucksmittel ist eingebunden in ein episches Konzept im Sinne eines Beschreibens und Ausleuchtens des Themas unter den verschiedensten Blickwinkeln (implizite Vieldeutigkeit).

Schrieben etliche Autoren aus Trend- und Modegründen das Ende der seriellen Musik herbei, so unterblieb dabei stets fein säuberlich die Sinn- und Gehaltsfrage, deren Behandlung solche Erörterungen als modische Geschwätzigkeit offengelegt hätte. Der Einsatz serieller Arbeitsweisen erfolgt im Turmbau zu Babel parallel zu einem Verfahren der Aufspaltung des Textes in Silben und deren semantisch-vieldeutiger Zuordnungen, um die im Text implizierte Vieldeutigkeit vielfältiger Bedeutungsschichten zwar nicht unbedingt für den Moment des Hörens voll begreifbar, jedoch erlebbar zu machen.

Das der selektierenden, gebrochenen Textbehandlung adäquateste kompositorische Verfahren ist die streng serielle Behandlungsweise von Rhythmus, Dynamik und Harmonie als Äquivalent sterilisierter Sprachlosigkeit. Der emphatische Höreindruck, der sich dem Hörer dabei vermittelt, hat seinen tieferen musikalischen Ausdrucksgehalt, der künstlerisch gewollt ist, den zu verbalisieren aber das unvoreingenommene Hören verbietet.

Die elektronische Musik im Turmbau zu Babel ist eng bezogen auf das Sujet, ihr Einsatz ist nicht beziehungslos, ihr Sinn nicht lediglich der spielerisch-unterhaltsame Umgang mit einem für Viele neuartigen Medium, wie er so oft unter abstrakten Werktiteln wie etwa »Workshop 27« oder anderen beliebig scheinenden Titelgebungen anzutreffen ist.

Dass die Wahl der Mittel einer der Musik und dem Text sowie dem Sujet innewohnenden Ordnung gehorcht, und dies sinnfällig und musikalisch begründbar, macht sie verbindlich und nicht willkürlich. Der Gehalt eines Musikwerkes begründet ihren Einsatz, ihre Aktualität im Nachhinein. Sie leiten ihre Rechtfertigung nicht aus sich selbst ab, sondern aus dem Kontext, in dem sie stehen. So gesehen, gewinnen serielles Denken und auch andere vorschnell totgesagte Kompositionsverfahren von neuem immer wieder an Aktualität, auch wenn sie als musikalischer Selbstzweck ihre Aktualität eingebüßt zu haben scheinen. Der Turmbau zu Babel will also keinesfalls die kompositionstechnische Innovation vorantreiben, er stellte zu seiner Entstehungszeit kompositorische Mittel allenfalls zuweilen in damals neue Zusammenhänge.

Der Text, vom idealistischen Denken Schillers über Schopenhauer, Nietzsche und Wagner zur Gewaltphilosophie Machiavellis, folgt einer Konzeption eines geistigen Turmbaus zu Babel. Die harte Gegenüberstellung so verschiedenartiger Köpfe wie Schiller und Nietzsche kann auch als ein Stück komponierter Sprachverwirrung verstanden werden. Dem gegenüber steht eine Musik, die in ihrer gewollten Diskrepanz, ja Distanz zum Text, zu eigenen Deutungen unabhängig vom Text einlädt. Sicher wird das Erklingen einzelner musiksprachlicher Idiome Textinterpretationen im Werk Passagen der oben beschriebenen, historisch bedingten Allgemeinverständlichkeit liefern, vom Komponisten so gewollt. Diese Stellen sind aber nur Inseln im Werk. Der Text wird mal vertont, also illustriert, mal, distanziert von der Musik, kommentierend behandelt. Der ständige Wechsel solcher dramaturgischer Mittel verleiht diesen die gewünschte Sprachfähigkeit, die sture Beibehaltung eines Mittels wäre öde und schematisch.

Das Oratorium Der Turmbau zu Babel war eine Auftragskomposition zum 25. Jubiläum der »Tage der Neuen Musik Hannover«, 1983. Das Oratorium ist all denen gewidmet, die im Kampf für Freiheit und Gerechtigkeit und ein menschenwürdiges Zusammenleben ihr Leben lassen mussten; allen Unerschrockenen, die unter Inkaufnahme auch schwerwiegender persönlicher Nachteile ihren Weg aufrecht und geradlinig gehen; für Klaus Bernbacher.

Ernst Helmuth Flammer
(Freiburg, 2. Januar 1983, rev. München, 7. April 2020)

Programm:

Der Turmbau zu Babel

Oratorium in 8 Teilen(1981 / 82)
für 3 Orchestergruppen, 3 Chöre, 2 Gesangssoli (Sopran und Bariton), Sprecher, quadrophones Zuspielband und Live-Elektronik,
nach Texten von Friedrich Schiller, Arthur Schopenhauer, Friedrich Nietzsche, Richard Wagner, Niccolò Machiavelli und Kurt Tucholsky

[01] A. Prolog 03:04
[02] B. “… und die Erde war wüst und leer und Gott sah, daß es gut war …” 11:47
[03] C. Der Sündenfall 11:18
[04] Interludium I 01:50
[05] D. “Der unaufhaltsame Aufbau einer ‘natürlichen’ Rangordnung” 11:04
[06] Interludium II 02:45
[07] E. “Die Volksgemeinschaft ist eine Rettungs- und Not…” 10:49
[08] F. “Der Zweck heiligt die Mittel … den Krieg …!?” 08:07
[09] G. “Mißverständnisse … Irrtümer … Wirren … die Offenbarung” 05:11
[10] H. Epilog: “Gott schuf den Menschen und setzte ihn in den Garten Eden, daß er ihn bebaue und bewahre …” 10:32

Gesamtspielzeit: 76:32

Catherine Gayer, Sopran
Günter Binge, Bariton
Theophil Maier, Sprecher

Jan L. McDaniel, Synclavier & Cembalo
Thomas Bracht, Transformiertes Klavier

Live-Elektronik: Elektronisches Studio der Technischen Universität Berlin
Zuspielband: Experimentalstudio der Heinrich-Strobel-Stiftung des Südwestfunks (now SWR Experimentalstudio)

Chor des Norddeutschen Rundfunks
Ein Jugendchor
Nordwestdeutsche Philharmonie
Klaus Bernbacher, Roland Bader, Günter Koller, Dirigenten

 

Ersteinspielung

Pressestimmen:

April 2021

[…] Das Werk ist schon deshalb bemerkenswert, weil es den damaligen Gepflogenheiten einer subjektiven Neo-Expressivität nicht entspricht und stattdessen seriellen Strukturprinzipien folgt, mit Mitteln der Collage kombiniert. So entsteht im „Turmbau zu Babel“ Dramatik, die der Reizüberflutung einer destruktiven Gegenwart in der Pluralität der Mittel Rechnung tragen möchte.

Dirk Wieschollek

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