Ernst Helmuth Flammer: Orchestral Works Vol. 2

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Veröffentlicht am: November 22, 2019

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ERNST HELMUTH FLAMMER – ORCHESTERWERKE · VOL. 2

Die Gestalt der Zeit, das Nachdenken über Zeit als phänomenologische Kategorie, also den Gehalt, der sich über die Zeitgestalt in der Musik artikuliert, ist mir als Komponist immer wichtig gewesen. Dabei ist das Zeitdenken sowohl strukturell zu verstehen als auch in Kategorien von Geschichte und Gegenwart, Tradition und ästhetischem Fortschritt. Ästhetischer Fortschritt ist mir eine innere Notwendigkeit, auch indem er sich historisch legitimiert, sich durch das Sieb der Reflexion aus der Tradition speist, sich von ihr herleitet und – ob bewusst oder unbewusst – auf ihr aufbaut. Ästhetischer Fortschritt, sinnbildlich im luftleeren Raum, nicht historisch verortet, nicht reflektiert in der Wahl und Auswahl seiner Mittel, bleibt unverbindlich, ziel- und formlos, führt somit nicht zur Einheit in der Mannigfaltigkeit. Im äußersten Fall führt seine Erosion – die Gesellschaft ist heute vom Zerfall alles Zusammenhängenden, die zeitgeistaffine Musik in ihr vom Zerfall der musikalischen Morphologie ins Beliebige, vom Zerfall ihrer Struktur geprägt – in verdinglichte Versatzstücke, die allenfalls unverbindlich Fortschritt als Fassade drapieren, also auf direktem Weg in die Postmoderne. Form, gleich welcher Art auf der Basis der rigorosen Beschränkung und zugleich des konsequenten Auskomponierens ästhetischer Mittel, entwickelt sich stets aus einer langen historischen Tradition heraus. Sie ist notwendig für den inneren Zusammenhang eines Stückes, sofern dieser gewollt ist. Und was die auf dieser CD vorgestellten Werke anbelangt, ist er gewollt.

Ein ästhetisch rigoroses Vorangehen – bei mir in sehr unterschiedlichen Ausformungen immer vorhanden – war für mich in meinen Anfangsjahren als Komponist zunächst eine Selbsterfahrung im seriellen Bezirk, die jedoch schon bald anderen, sujetabhängigeren Prioritäten wich. Diese waren mehr an den künstlerischen Anforderungen orientiert, welche sich aus der Aufgabenstellung der einzelnen Projekte ergaben. Rigorosität ordnete sich auch zunehmend ästhetischen Kategorien unter. Dies konnte, zuweilen radikal der gewählten Zeitgestalt folgend, in mehreren Fällen in konsequent minimalistischen Strukturen enden, wie etwa in Passagen des Anfangs- und des Schlussabschnittes im Klavierkonzert Zeitzeichen – Zeitmaße auf dieser CD. Ästhetischer Rigorismus ist aber auch stets einer anderen Komponente des Komponierens geschuldet: Es werden artikulatorische, spieltechnische und instrumentatorische Grenzbereiche erforscht und da, wo sich Räume, Perspektiven und Visionen eröffnen, konsequent ausgeweitet. Solches Tun beeinflusst den Instrumentenbau – wegen der historisch geschwundenen Bedeutung der Gegenwartsmusik leider weit weniger als in anderen Epochen –, es führt aber umso mehr zu kreativen Erweiterungen im Bereich der Interpretation.

Die Auseinandersetzung mit der Gattung des Solokonzertes führt, wie an meinen Werken dieser Gattung unschwer festzustellen ist, zu bisweilen völlig unterschiedlichen Ergebnissen. Diese bedeuten insofern eine völlige Abkehr vom traditionellen Denkansatz des Solokonzertes, als der Solist mitnichten den circensischen Virtuosen gibt, hingegen als Träger kompositorischer Innovation, integriert in das Gesamtensemble (Orchester), in Erscheinung tritt. In mehreren anderen Konzerten (so dem Klavierkonzert Zeitzeichen – Zeitmaße) erscheint dieser lediglich als obligater Solist, als Primus inter Pares, wie er etwa im Ersten Klavierkonzert von Brahms zu erleben ist.

Zeitzeichen – Zeitmaße, Konzert für Klavier und großes Orchester (1985–87), zählt vielleicht neben jenem von Mathias Spahlinger zum Rigorosesten, was je in diesem Gattungssegment komponiert worden ist. Es hat bei manch einem Rezipienten im ersten Hören aus Anlass der Uraufführung Erstaunen und Verstörung hervorgerufen, aber auch Neugier auf noch nie Gehörtes. So ging es schon vielen anderen bedeutenden Werken. Der Titel des Werkes sagt bereits viel über das Sujet aus, welches diesem Stück zugrunde liegt, die Frage von Sein und Zeit, nicht nur in einem naturphilosophisch rationalen Sinne, sondern auch mit einem emphatischen Blickwinkel auf die Humanità, auf die Seelenwanderung im Raum. Physisch ist unsere Existenz in ihrer Körperlichkeit, in ihrer Gegenwärtigkeit empirisch messbar, also in Raum und Zeit begrenzt. Jedoch im Kindesalter erscheint Gegenwart als immerwährend. Doch wird uns durch diesen eigentlich einfachen, uns selbstverständlich erscheinenden Umstand unserer Begrenztheit, wenn wir ihn denken, mit einem Male bewusst, was unsere Gegenwart im Zeitall ist: Sie ist kaum wahrnehmbar, wir kaum eine Fußnote im Weltgeschehen. So empfangen wir unser Schicksal, statt es eigentlich zu gestalten. Dies vergisst der Mensch, wenn er gigantische Träume in maßloser Selbstüberschätzung hegt, wenn er über Leben und Tod seiner Mitmenschen gebietet, bewusstseinsmäßig seinem Dasein entrückt, anmaßend, unbescheiden. Diese Thematik teilt Zeitzeichen – Zeitmaße mit beiden anderen Werken dieses Sujets, Anmaßung im Turmbau zu Babel, Anmaßung in der übergriffigen Überwachungsthematik, die dem anderen Orchesterwerk dieser CD, Der Mensch steht im Mittelpunkt, als Sujet überschrieben ist; Anmaßung, die zur existentiellen Bedrohung des Menschen werden kann, also eine endzeitliche, ja apokalyptische Dimension über das gesellschaftlich kritisch Reflektierte hinaus besitzt.

In seiner Körperlichkeit ist der Mensch ein Abbild der Schöpfung, die real-messbare Zeit ist ein Abbild der absoluten Zeit. Diese ist wiederum so komplex, dass sie sich jeder Messbarkeit entzieht.

Diese Gedanken bewegten mich, als ich dem Stück eine in seiner Binnenstruktur sehr polyphone, ja stellenweise polymorphe Form gab, deren Ziel es sein sollte, das reale Zeitempfinden, d. h. die Orientierung darüber, wie lange das Stück wirklich dauert, beim Hören der Musik zu verunsichern. Am besten scheint für eine solche Zielsetzung die Momentform zu sein, die Reihung von 21 kurzen Stücken nach bestimmten Prinzipien, vor allem jenem der Symmetrie. In den Momenten werden musikalische Gedanken zitathaft angerissen, dann urplötzlich wieder unterbrochen, um auf sie an anderer Stelle in einer völlig veränderten Erscheinungsweise des Gleichen wieder zurückzukommen. Oftmals sind es Episoden gleichsam aus einem Traum, der das bisherige Leben blitzschnell Revue passieren lässt als kleinen Ausschnitt aus der Ewigkeit. Jene Momente sind durch in sich homogene Zwischenspiele miteinander verbunden, in denen sich dramaturgisch nicht viel ereignet, aber klangfarblich sehr wohl. In lediglich zwei Fällen des Werkes treten Generalpausen, sozusagen komponierte angespannte Stille, an deren Stelle.

Diese Pausen und ein kurzer, von ihnen eingeschlossener Mittelabschnitt trennen den vorderen Großabschnitt des Stückes vom hinteren, die beide proportional, gemessen an ihrer Dauer, im Goldenen Schnitt zueinanderstehen, deren hinterer sich jedoch retrograd zum vorderen verhält. Wer in der Zahl 21 eine Symbolzahl sieht, liegt nicht falsch. In den Binnenverhältnissen finden diese Proportionen ihre Entsprechung. Diese realen Zahlen stehen im obigen Sinne für das Abbild jener absolut-zahlhaften Ordnung, auf deren Grundlage die Fähigkeit des Menschen beruht, zu existieren, auf deren Grundlage der Weltenlauf funktioniert. Jene Ordnung im Rausch menschlichen Größenwahns auch nur anzutasten, geschweige denn zu zerstören, ist eine apokalyptische Strategie. Dass im Verlauf gewisse Prozesse von Zerstörung, Entfremdung und Denaturierung einbeschrieben sind, der Prozess der Denaturierung des Klanglichen eine formale Schicht ausmacht, der Pianist ständig zwischen einem konventionell klingenden und einem anderen, stark präparierten Flügel auf einem Drehschemel hin- und herwechselt, ist durchaus in diesem Sinne zu interpretieren. Das Thema Masse und Individuum, in diesem Werk von zentraler Bedeutung, wird im Verlauf des Stückes kompositorisch dekonstruiert.

In 666600 3261 D 4901150 M 9804050 oder: Der Mensch steht im Mittelpunkt für großes Orchester (1998 / 99) treibt Polyphonie das Geschehen in dem Sinne voran, dass alles Sein prozesshaft ist. Die teilweise »neutrale« anonymisierte musikalische Morphologie sowie deren Textur steht für das Sujet, dass der Mensch nur noch als eine depersonalisierte Nummer, zunehmend rabiaten technologischen Überwachungsmethoden ausgesetzt zu sehen ist, und das aktuell in zunehmendem Maße, heute mehr noch und weit subtiler als zur Entstehungszeit dieses Stücks. Die Nummer erscheint als das Entscheidende, der Mensch steht sozusagen im Mittelpunkt und damit im Wege.

Der Turmbau zu Babel, Suite für großes Orchester (1983 / 84), ist eine überarbeitete und teilweise nachorchestrierte Zusammenfassung orchestraler Partien aus dem knapp zwei Jahre zuvor entstandenen Oratorium Der Turmbau zu Babel, welche wie die anderen beiden Werke dieser CD wichtige Zeitfragen zum Sujet hat. Dem Blechbläserprolog, dem Oratorium gleich, folgen fünf Zwischenspiele, die von einem Tableau zum nächsten im Oratorium überleiten. Wie im Oratorium legt hier jedes Tableau ein Augenmerk auf einen anderen Aspekt der Thematik. Die Form der sechsteiligen Suite ist der des offenen Rondos (A B A’ C A’’ D) angelehnt. Die Teile A’ und A’’ sind also Varianten des Prologs, Zwischenspiele im echten Sinne. Teil B, mit »Genesis« überschrieben, ist bestimmt von einer ausgeprägt individualistischen, kammermusikalischen Kompositionsweise – jede Einzelstimme entfaltet sich melodisch und artikulatorisch sehr stark. Dies kann als Symbol der noch vorhandenen Freiheit und Individualität des Urmenschen verstanden werden, der noch frei vom Joch eines gigantischen, von Menschenhand gemachten Weltenplans sein Leben lebt.

Das Wörtchen »natürlich« in der Überschrift von Teil C»Der unaufhaltsame Aufstieg einer ›natürlichen‹ Rangordnung«, steckt selbstverständlich voller Ironie. Sind Rangordnungen wirklich natürlich und nicht Ausfluss von Willkür? Die Musik marschiert folglich in eine Richtung. Artikulatorisch und melodisch ist sie nicht mehr so reich wie zu Anfang, mehr und mehr »gleichgeschaltet«. Mehrere musikalische Schichten bilden sich heraus, die später einander sprachlos und fremd gegenüberstehen. Ihre einzige innere, jedoch nicht mehr hörbare Beziehung ist das gemeinsame Ausgangsmaterial.

A’’ ist ein an Friedhofsruhe gemahnendes, von Flageoletts der Streicher bestimmtes Zwischenspiel mit dem Titel »Rückbesinnung … die Not wird die Hölle des Luxus beenden…«. Doch was ist das für eine Not? – auch jene von Konzentrationslagern…

In Teil D mit dem Titel »Sprachverwirrung – der jüngste Tag« versinkt das Orchester im tosenden Chaos. Die vorhandene kompositorische Ordnung vermag das Ohr – und das ist musikalisch beabsichtigt – vor dem Schlussknall nicht mehr wahrzunehmen. Der Mensch, darin ertrinkend, verliert sich in seiner Vereinzelung. Dem apokalyptischen Schluss folgt im Gegensatz zum gleichnamigen Oratorium keine Vision mehr, die erahnen lassen könnte, wie es danach in der eternità aussehen könnte, nach dem kollektiven Ende einer kollektivistischen Weltordnung, die in die Katastrophe führte.

Ernst Helmuth Flammer

Programm:

Der Turmbau zu Babel Suite für großes Orchester (1983/84) 20:58

[01] Teil A 03:26
[02] Teil B 06:23
[03] Teil C 01:30
[04] Teil D 03:53
[05] Teil E 03:07
[06] Teil F 02:40

Radio-Sinfonieorchester Basel
Ulrich Backofen, Dirigent

[07] 666600 3261 D 4901150 M 9804050 oder: Der Mensch steht im Mittelpunkt für großes Orchester (1998/99) 16:06

Philharmonisches Orchester Freiburg
Hannu Koivula, Dirigent

Zeitzeichen – Zeitmaße Konzert für Klavier und großes Orchester (1985–87) 39:22

[08] 05:22
[09] 16:34
[10] 05:06
[11] 08:12
[12] 04:08

Ortwin Stürmer, Klavier
BBC Symphony Orchestra
Lothar Zagrosek, Dirigent

Gesamtspielzeit: 76:34

 

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