Ernst Helmuth Flammer: Orchestral Works Vol. 3

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Artikelnummer: NEOS 12025 Kategorie:
Veröffentlicht am: Oktober 14, 2021

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ERNST HELMUTH FLAMMER · ORCHESTERWERKE · VOL. 3

Was grundsätzlich zu Raum und Zeit, zur Polyphonie, zu speziellen artikulatorischen und textuellen Fragen sowie zu Fragen der Polyphonie meines Komponierens für Orchester, vor allem an den Orten, an denen es gegen den Strich der Konvention gebürstet ist, weiter zu dessen Methodik zu sagen ist, möge in den einführenden Texten der ersten beiden, auch bei NEOS erschienenen CDs mit Orchesterwerken nachzulesen sein [NEOS 10803 & NEOS 11909]. Nur eines sei prinzipiell hervorgehoben: Fragen der Polyphonie sind Zeitfragen dergestalt, dass alles Seiende einem steten Wandel (Heraklit) unterworfen ist. So gesehen, entspricht dies intentional einem Ansatz des kritischen Komponierens.

Die auf dieser CD wiedergegebenen Werke nehmen – bis auf eine Ausnahme, das Cellokonzert Capriccio – Bezug auf ein Sujet, welchem neben jenem zu Raum, Zeit und den damit verbundenen Seinsfragen in meinem Schaffen größte Bedeutung zukommt: Anfang und Ende des Seins, dessen Endlichkeit, weiter Geburt, Tod, Genesis und Apokalypse. Sie werden narrativ, bei Gethsemani vermeintlich über diese biblische Geschichte verifiziert. GEN evoziert den Schöpfungsgedanken als Teilwort von Genesis, aber auch implizit vieldeutig, seine Illustration verweigernd, über die Begrifflichkeit des »Gen« mit einer deutlich dunklen, apokalyptischen Farbgebung versehen, die mehr ist als nur ein Schatten, der über dem Ganzen schwebt. Durch die Erde geht ein Riß gegen das Vergessen mahnt, dem Grauen nicht durch Wegsehen und Verdrängen auszuweichen. Die Musik nimmt dem Sujet gegenüber eine durchweg kritisch-diskursive, kommentierende und implizit vieldeutige Position ein.

Gethsemani – vor dem Verschwinden und Vergessenwerden für großes Orchester lässt sich vortrefflich mit Worten des Musikwissenschaftlers Peter Becker (Dem Rad in die Speichen fallen …, Notate zum Schaffen von Ernst Helmuth Flammer) umschreiben, aus denen ich hier zitieren möchte: »Der Titel verweist auf den historischen Ort, mit dem wir Abschiednehmen und beginnende Passion verbinden. Im Untertitel wird die Perspektive in unsere Gegenwart hineingezogen, die, anders als der zum Leiden bereite Gottessohn, vom guten Ende nichts mehr weiß. Vor dem Verschwinden und Vergessenwerden meint das Leiden der Vielen und die Schuld Aller, die davon wissen, ohne mitzuleiden und – was noch das Wenigste wäre – den vor Leiden Stummen ihre Stimme, ihren Schrei zu geben. In Gethsemani macht sich die Musik zu unserem Stellvertreter, schreit ihr vielfaches ›Eli, Eli, lama asabtani‹ gegen die Mauern des Unrechts und des Schweigens, scheitert im Ausbruchsversuch und droht schließlich selbst zu zerbrechen. Gethsemani partizipiert nicht am verklärenden E-Dur-Schluss in Pendereckis Lukas-Passion, antizipiert keine Versöhnung im musikalischen Material. Die Intention heißt Verklarung, nicht anders als in Helmut Lachenmanns Les Consolations, und das heißt, den Blick unerbittlich auf das lenken, was ist.«

Gethsemani gliedert sich in fünf Teile, deren 2. und 4. Teil in ihrer zerbrechlichen Schönheit noch so etwas wie Hoffnung widerspiegeln, wohingegen der Schlussteil in seiner Denaturiertheit fast als eine »Gegenmusik« zu verstehen ist, die nach der »rupture« alles Klanglichen alle Brücken abzubrechen scheint, bevor das Stück mit einem Schrei des Orchesters schließt. Wer »diesen als Schrei wahrnimmt – und nicht nur als schmerzhafte Klangballung registriert – der wird auch anders und anderes sehen als bisher, und er wird den Gedanken nicht mehr loswerden können, dass das, was ist, veränderbar ist« (Peter Becker).

Durch die Erde geht ein Riß gegen das Vergessen für großes Orchester: Es handelt von Unrecht, Wegsehen, mit dem Verweis auf die posthumen Widmungsträger Wolfgang Harich und Walter Janka, jüdisch, der eine Verleger, der andere Schriftsteller, grausam verfolgt in stalinistischer Zeit durch die Justizministerin Hilde Benjamin, Opfer seinerzeit üblicher Schauprozesse, Opfer ihrer Liebe zur Wahrheit, ihrer Unbeugsamkeit trotz aller ideologischer Anfechtung. Der Riss, der sich bis heute ungebrochen durch die Gesellschaft zieht, handelt auch von jenem Grauen, das sich mit Holocaust verbindet, und von allem Unrecht, massenhaftem Sterben, welches uns das grausame 20. Jahrhundert beschert hat. Für all dies stehen die Einzelschicksale von Wolfgang Harich und Walter Janka stellvertretend.

Die sieben Miniaturen beschreiben paradigmatisch Lebenssituationen und Stimmungsbilder solcher vom Schicksal Heimgesuchten, Auflehnung, Resignation, Hoffnung und Ausweglosigkeit. Das kürzeste dieser Stücke, sehr konzentriert und dennoch als sehr lichtes Gegenbild zu anderen Formmomenten in diesem Werk stehend, dauert nur etwa 20 Sekunden.

Die Zartheit und stellenweise große Zerbrechlichkeit der Musik, ihre denaturierten Passagen, ihr Verschwinden, kaum, dass sie episodenhaft erschienen ist, malen gleichsam ein Bild von der Zerbrechlichkeit jener Freiheit, die in der Wahrheit liegt, jener Wahrheit, die sich gegen das Wegsehen und Vergessen, gegen das Verstummen und Schweigen durch Schreien, aber auch leise wehrt.

GEN für Sopran, Bariton und großes Orchester: Joseph Haydns Die Schöpfung steht für Aufbruch, für eine ideale, ungebrochene Utopie im Sinne der Aufklärung. Die Sicht des Auftraggebers Lothar Zagrosek war es, GEN in den Verlauf von Haydns Oratorium zu integrieren und so dieses mit unserer gebrochenen Lebensrealität zu konfrontieren. So hat neben der vieldeutbaren Titelgebung, neben der Bedeutung »Genesis«, etwa die dunkle Variante der die organische Welt bedrohenden GEN-Technologie beinhaltend, die den Aspekt der Apokalypse vorzeigt, auch die Musik eine einerseits dunkle, andererseits sehr gebrochene und zerrissene Seite.

Mit »GenTech«, »Genital«, »Genozid«, »genial«, »genuin«, »generell« und »sui generis« werden alle Aspekte der Komplexität von Schöpfung und auch Untergang mit einbezogen. Diese Begriffe werden im Gesangstext gespalten, zerlegt in Silben, filetiert, syllabisch gebrochen bis ins Absurde, wieder »zusammengeschraubt« und so ständig, da mit der Musik kontrapunktisch dasselbe geschieht, mit neuen Kontexten variativ konfrontiert. Entsprechend diesem Zerfallsprozess denaturiert der Gesang fortschreitend ins Geräuschhafte wie Unverständliche. Dagegen nehmen die textlosen orchestralen Partien als Zeichen des Verstummens immer breiteren Raum ein.

Capriccio für Violoncello und großes Orchester: Mit dem Begriff »Capriccio« verbindet der Rezipient landläufig ein kurzes musikalisches Werk von großer Virtuosität, die gelegentlich balladenhafte und narrative Ausbreitung eines musikalischen Gedankens, dessen Auskomposition. Dem Verlauf liegt kein werkübergreifendes Konzept zugrunde. Der Komponist kann sich für jedes Werk dieser Art sein Formkonzept selbst bestimmen. Ein Capriccio entwickelt die Idee des »moment musical«, oft zunächst introvertiert, in Richtung einer spielerischen Virtuosität, so auch in meinem Stück. Capriccio ist ein Diptychon, es reiht zwei musikalische Gedanken aneinander, schiebt sie nach der Exposition ineinander. Beide sind gegensätzlicher Natur, der eine bewegt, der andere eher ruhig. Dennoch leitet sich der zweite, der ruhige Gedanke, aus dem ersten ab. Die Polyphonie des ersten Gedankens wird zur Fläche eines gewobenen Klangteppichs und dieser am Schluss zum gehaltenen Einzelklang, schließlich zum gehaltenen Einzelton zurückgenommen. Die polyphone Struktur benutzt kleine Intervalle, die sich für vielschichtige Überlagerungen und den virtuosen Umgang mit dieser Technik vortrefflich eignen. Gleichwohl durchzieht der Gedanke der Symmetrie das ganze Stück. Das große Orchesterzwischenspiel der ersten Hälfte, an Klangsinnlichkeit nicht sparend und ein Höhepunkt virtuoser Polyphonie, erscheint in leicht abgewandelter Form am Schluss im retrograden Verlauf wieder. Dies ist nur das auffälligste Symmetrieelement. Jene anderen Symmetrien sind im Sinn der Reduktion der Mittel auf den Schluss hin stärker abgewandelt. Insofern sind die dem Stück innewohnenden Gesetzmäßigkeiten strenger als beim »moment musical«, mit dem es die Entstehung des musikalischen Gedankens gemeinsam hat, nämlich spontan erfunden worden zu sein. Dieses Werk ist im Gegensatz zu den drei vorangehenden ein Konzertstück in einem sehr klassischen Sinne.

Ernst Helmuth Flammer

Programm:

Ernst Helmuth Flammer (*1949)
Orchestral Works Vol. 3

[01–05] Gethsemani – vor dem Verschwinden und Vergessenwerden für großes Orchester (1985/86) 20:16

[01] Teil I 08:03
[02] Teil II 03:16
[03] Teil III 04:00
[04] Teil IV 01:37
[05] Teil V 03:20

Rundfunk-Sinfonieorchester Saarbrücken (jetzt Deutsche Radio Philharmonie)
Lothar Zagrosek, Dirigent

[06–12] Durch die Erde geht ein Riß gegen das Vergessen Sieben Stücke für großes Orchester (1990) 17:10
Live

[06] Nr. 1 03:08
[07] Nr. 2 00:40
[08] Nr. 3 01:04
[09] Nr. 4 02:57
[10] Nr. 5 02:07
[11] Nr. 6 01:03
[12] Nr. 7 06:11

Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks
Olaf Henzold, Dirigent

[13] GEN für Sopran, Bariton und großes Orchester (1998)* 09:46

Gabriele Rossmanith, Sopran
Wolfgang Schöne, Bariton
Württembergisches Staatsorchester Stuttgart (jetzt Staatsorchester Stuttgart)
Lothar Zagrosek, Dirigent

[14] Capriccio für Violoncello und großes Orchester (1992)* 25:15
Live

Tilmann Wick, Violoncello
Radio-Philharmonie Leipzig (jetzt MDR-Sinfonieorchester)
Olaf Henzold, Dirigent

Gesamtspielzeit   72:38

* Ersteinspielungen

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