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POLYPHONIE UND POLYMORPHIE ALS SEINSALLEGORIE Voyage éternel de l’oiseau de feu – Des Feuervogels Zeitreise Der Film gehorcht als Kunstgenre einer Dramaturgie der Gleichzeitigkeit verschiedener Handlungs- oder Widerspiegelungsebenen. Gleich ihm lebt diese Komposition vom raschen Paradigmenwechsel verschiedener musikalischer Zeit- und damit Bewusstseinsebenen. Durch jenes rasche Umschalten bleiben alle Ebenen – ich nenne sie mal Schichten – immer latent vorhanden oder sogar präsent, auch wenn zuweilen im Hintergrund, kaum wahrnehmbar oder gar ganz weggetreten. Es folgt daraus eine Gleichzeitigkeit verschiedener Zeitebenen, Zeitörter und Zeitgeschwindigkeiten bis hin zum »Fluss der Zeit«, weiter die Gleichzeitigkeit verschiedener Seinszustände gleich der Zimmermannschen »Kugelgestalt der Zeit«. Phasen der Stille, Teilzeiten ohne Grenze, Teilzeiten des »Jenzeitigen«, des aus der Zeit fließenden Klingens erscheinen gebrochen, Klangflächen hingegen zuweilen durch den »Störenfried« Struktur, aus dem Hintergrund kommend, wieder einer Ordnung unterworfen, einer zahlhaften Ordnung strukturierter Zeitabläufe und dadurch mit einer Grenze versehen. Das Auskomponieren der Beschleunigung von wahrnehmbarer Zeit verunsichert das Zeitempfinden. Daraus erschließen sich viele Bedeutungsebenen, etwa jene von Beschleunigung als gesellschaftlich verdinglichtem Selbstzweck des »immer mehr… immer schneller…«; etwa jene von subjektiv empfundener Beschleunigung des Zeitgefühls, wenn wir älter werden. Die Rolle des »Störenfrieds« (Kurt Schwitters: »Fehler im System«) übernimmt stets einer der an der Aufführung beteiligten Musiker, sich einander abwechselnd, mal stören mehrere Musiker gleichzeitig. Wir sind heute durch die Masse der auf uns eindringenden Reize, »durch die Zeit gehetzt«, in Angst vor leiser Ereignislosigkeit, vor dem Dahinfließen im ewigen Strom. Dementsprechend sind dieser Musik dynamische, kontinuierliche Entwicklungsprozesse im Sinne tradierten europäischen Musikverständnisses bis auf kleine Ellipsen weitestgehend fremd. Ruhige Passagen und Klangteppiche im Hintergrund stehen zugleich für den abgeklärten Zeitenbetrachter oder phasenweise für die Vision der Abwesenheit von Zeit. Die Fülle gleichzeitiger Schichten verschleiert zuweilen die klare, gleich der Bogenform unseres Seins auf Symmetrie angelegte Form des Stücks und dessen strenge Struktur, die in der komponierten Stille jedoch zu zerfließen scheint, aufbrechend ins Unendliche. Die Zeitreise des Feuervogels, jenes stets neugierigen Wesens, stets auf Wanderschaft zu neuen Ufern, sich mit Verve auf das Neue stürzend, unbekümmert, das Risiko nicht scheuend, sondern es als Herausforderung suchend, meint die Obsession der Reise ins Unendliche, immer wieder hart unterbrochen durch den »Störenfried«, doch schließlich für immer ins Virtuelle, ins Offene aufbrechend. Abschiede Abschiede für Anton Webern Sieben selbstständige Abschnitte bestimmen das Stück, ganz ausgesparte alternieren mit lebhaften, jeder auf seine Art schmerzvoll, jeder Abschnitt ein Stück Trauerarbeit, verschieden in der Art, Abschied zu nehmen. Alle Abschnitte basieren auf einem gemeinsamen melodischen und harmonischen Material, welches in seiner Struktur symmetrisch angeordnet ist, gleichsam wie die Bogenform des Seins als Werden und Vergehen. Die Trauer evoziert strenge Kühle, wie zu Beginn, aber auch Emotion und lebhaften Kampf, lebhaftes Ringen, nicht als Hadern zu verstehen, sondern durchaus als ein Sichfügen. Der Tod kommt zuweilen auf sehr verschiedene Weise daher. Ist die Struktur dekomponiert, implodiert deren Dichte ins Innere als innere Einkehr. Jutta Philippi-Eigen war eine deutsche Mutter Theresa, die als Ärztin ihr Leben in zuweilen gefährlichen Einsätzen den geschundenen Menschen in Indien (Kalkutta) und Afrika verschrieb; sie war eine nicht weniger wundervolle musikalische Exegetin vorwiegend John Cages.
Zur Seinsallegorie Dass die »Polyphonie« und auch die »Polymorphie« in meinem Komponieren nahezu allgegenwärtig sind, hat nach meinem Verständnis sehr grundsätzlich mit zwei Aggregaten unseres Seins zu tun, seiner Prozesshaftigkeit, d.h. seiner stetigen Veränderung und Wandlung, und seiner komplexen (polymorphen) Vielgestaltigkeit. »Polyphones« Komponieren ist in seiner Vielheit »kritisches« Komponieren in seiner Mannigfaltigkeit von aus dem musikalisch autonomen Prinzip abgeleiteten Semantiken. Meine inhaltsästhetischen Ansätze sind stets aus der musikalischen Morphologie entwickelt und umgekehrt mit ihr kongruent. Aus jener Morphologie leitet sich im Grundsatz auch selbst bei textgebundener Musik der Gehalt her, der sich aus dem kompositorischen Umgang mit dem Text musikalisch immanent, also nicht aus dem Text selbst ergibt. Letzteres ist das radikalst mögliche Desiderat eines musikalisch autonomen Prinzips in seiner konsequentesten und zugleich fruchtbarsten Form. Aus dem polyphonen Einsatz aller musikalischer Parameter, auch dem direkt polyphonisch-kontrapunktischen Verhältnis zweier unterschiedlicher Parameter, ergibt sich Polymorphie. In beiden Quartetten findet dieses Prinzip Anwendung, im 4. Quartett mehr als in Abschiede. Von dichten strettaartigen Refrains, stark vorwärtsdrängend und von vielgestaltiger Engführungspolyphonie durchbrochen, sind die ruhigeren Teile der Formschicht »Offenes Rondo« (die andere ist eine Entwicklungsschicht!) von verschiedenen Fortschreitungsgeschwindigkeiten der Zeit bestimmt, die sich auch aus dem Grad der Materialisierung von Zeit ergeben, auch diese als Textur polymorph gestaltet. Der oft aus Liegetönen bestehende Klangteppich ist im Hintergrund, zugleich die Tiefe des Raumes und das Ende von Zeit im unendlichen Raum der Eternità und des Universums allegorisch umschreibend, mal stärker und mal weniger präsent, also verschieden real oder virtuell in seinem grundsätzlich amorphen Materialisierungszustand. Seine gegen Schluss räumlich stark zunehmend dominante Präsenz, polymorph in der unendlich scheinenden Variationsbreite seiner Binnenstruktur, kündet allegorisch mit dem Ende von Raum und Zeit zugleich vom niedergehenden Lebensbogen. Andererseits stehen diesem eine Vielzahl haptisch sehr präsenter polyphon angelegter rhythmischer Mikrostrukturen gegenüber – abgeleitet aus einem allen gemeinsamen musikalischer Nukleus. Deren Verhältnis zu den anderen musikalischen Parametern ist stets polymorph. Ähnliche polyphone Engführungsstrukturen sind in den Refrains zu finden, die sich zuweilen prozesshaft zu rhythmisch homophonen, fast hermetischen Passagen kollektivistisch zusammenschieben, das emanzipatorische Prinzip Individualität in Frage stellend. Das 5. Streichquartett basiert ebenso auf dem Prinzip Polyphonie und Polymorphie im Sinne der Vielgestaltigkeit der zu betrauernden Individuen. Am stärksten wird das sichtbar im forciert vorwärtsschreitenden IV. Abschnitt, indem sich vom Fugato über die Engführung Strukturen fast bis zum Unisono zusammenschieben und wieder voneinander entfernen. Noch deutlicher wird dieses Prinzip im VI. Abschnitt »Furioso«, indem sich Trauer zum wütenden Kampf gegen das Unausweichliche eskapiert. Zunächst strikt polyphon in weiter Lage geführt, auch in der Disposition der Dynamik und jener der Artikulation fugatoartig geführt, eine Stimme aus dem Kollektiv heraustretend, dann wieder durch eine andere dekonstruiert, vereinigen sich die Individuen prozesshaft zu einem Kollektiv, sowohl morphologisch als auch textorell, also auf polymorphe Weise, um sich hernach wieder voneinander zu entfernen, bevor sich im VII. Teil das Sein über eine nach und nach retardierende streng polyphone Pizzicato-Struktur aus der Zeit verabschiedet, hervorragend interpretiert vom Jade Quartett. Ernst Helmuth Flammer Programm:
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