Ernst Helmuth Flammer: superverso per organo

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Artikelnummer: NEOS 10913-14 Kategorie:
Veröffentlicht am: Juni 30, 2015

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Ernst Helmuth Flammer · superverso per organo

Die Größe des Künstlers bemißt sich nicht nach den »schönen Gefühlen« die er erregt […] Sondern nach dem Grade, indem er sich dem großen Stile nähert, indem er fähig ist des großen Stils. Dieser Stil hat das mit der Leidenschaft gemein, daß er es verschmäht zu gefallen; daß er es vergißt zu überreden; daß er befiehlt; daß er will …

Friedrich Nietzsche
»Die nachgelassenen Fragmente« 14/61/1888

Der Orgelzyklus »superverso per organo« als geistlicher Entwurf

Der Orgelzyklus superverso entstand in den Jahren 1985–1992 im Auftrag verschiedener Institutionen, darunter auch solcher, die bestimmte Orgeln wieder beleben und Orgelprojekte fördern wollten. Dieser im Ursprung zunächst auf lediglich drei Etüden konzipierte Orgelzyklus wuchs nach und nach und wurde 1992 mit insgesamt zwölf Stücken vollendet. Wie in den ersten drei Stücken wird in jedem »superverso« (»totale Umwandlung«) am Ende das virtuelle Gegenbild der musikalischen Ausgangsform erreicht sein. So wird aus Ruhe Bewegung, aus einer vertikalen Struktur eine vorwiegend horizontale, sich im melodischen Lauf ergehende. Auch der umgekehrte Weg kann beschritten werden.

 

Zu den einzelnen Stücken

Die ersten drei Stücke, eigentlich Etüden für Orgel, waren im Wortsinne virtuose Gelegenheitskompositionen, einer spontanen Idee entstammend, die sofort nach Verwirklichung drängte.

Zu Beginn der ersten Studie stehen repetierte, melodische Figuren einem Akkord aus Liegetönen gegenüber, die sich sukzessive, beinahe unmerklich miteinander verschmelzen.
Christoph Maria Moosmann hat diesem Stück später zutreffend den Titel Genesis gegeben.

Liegetöne, durchbrochen durch rasch dahinhuschende Quintolen mit der stets gleichen Tonfolge in verschiedenen Transpositionen bestimmen die zweite Studie. Gegen Schluss verschwinden die Liegetöne nach und nach vollständig.

Im vierten Stück gibt es einen ständigen Klangfarbenwechsel in sehr kleinen Schritten zweier sich kontrapunktisch gegenüberstehenden, polyrhythmischen Melodiebögen, die sich erst im Schlussteil des dreiteiligen Stückes nach und nach in Akkordstrukturen im Sinne einer großen Verdichtung verwandeln. Diese Entwicklung wird durch einen rigiden, in gebrochenen Akkorden gehaltenen Mittelteil zugleich unterbrochen und antizipiert. Danach verklumpen die Strukturen bis fast zur Unkenntlichkeit und gleichzeitig absichtsvoller Hypertrophie. Ein erstes Wetterleuchten dessen, was Seinsgrenzen erkennen lässt, apokalyptisch im Sinne einer Johanneischen Offenbarung der biblischen Katastrophe. Dementsprechend ist das Stück als unendliches Fortschreiten mit einer passacagliaartigen Basslinie unterlegt und, entsprechend ausladend, symphonisch angelegt. Ich habe es später Symphonie I genannt.

Gehaltene Töne und schnelle Tonrepetitionen emanzipieren sich im fünften Stück zu Melodiefetzen.

Das virtuose Feuerwerk einer latent zweistimmigen Akkordfolge bestimmt das sechste Stück, Auch hier werden die Grenzen der Repetierfähigkeit des Orgelinstruments weit überschritten – mit dem Ergebnis, dass ein virtueller Klangschirm gleichsam als Firmament, das Universum des Überzeitlichen umschließend, entsteht: bestehend aus Schwebungen, Nachklängen und Interferenzen, sehr obertonreich, sehr spektral und sehr spekulativ, eine sozusagen deduktive, nicht im Notenbild greifbare Sekundärharmonik.

Das siebente Stück ist für eine Kleinorgel komponiert. Es ist auch von seiner Dauer her eine Miniatur. Aus Einstimmigkeit, sich selbst quasi als »ewige Melodie« transponierend, die sich unendlich fortsetzen ließe, erwachsen eine zweite und eine sehr ruhige dritte Stimme, die sich zu Akkorden verwandeln. Alle Stimmen sind klangfarblich deutlich voneinander unterschieden, jedoch beschränkt auf ein Manual, welches bei zahlreichen Orgeln vom Bau her mit dem Pedal gekoppelt ist.

Mit Clusterstudie ist das achte Stück überschrieben. Es befasst sich orgelmäßig mit der Clustertechnik, kompositorisch im Sinne einer sich entwickelnden Variation. Doch wer das erwartet, was man sich landläufig unter einem Cluster vorstellt, wird enttäuscht. Leise entstehen die Stimmen aus dem Nichts. Eine obere Stimme glissiert nach und nach möglichst bruchlos nach unten, eine untere entwickelt sich in Richtung Diskant. Das Ganze wird in seiner Tendenz verstärkt durch die bis ins Detail auskomponierte Anlage der Registrierung. Der Schnittpunkt der beiden Stimmen beschreibt ein lateinisches Kreuz nahe dem goldenen Schnitt als Symbol des Leidens (»Le martyre de Jésus-Christ«), des Todes sowie all dessen, was über den Tod hinausgeht: Auffahrt der Seele, der menschlichen Existenz in eine virtuelle, aeternale Welt; Seelenwanderung.

Farbenmusik, wie das neunte Stück genannt wird, beschränkt sich auf wenige Tonhöhen. Es gibt insgesamt vier Klangfarben, d.h. vier Registerkombinationen in fünf Stimmen, die über das ganze Stück beibehalten werden. Jeder Stimme ist eine bestimmte Tondauer zugeordnet, einer Stimme 5 Sechzehntel, der nächsten 7, der dritten 8, den weiteren 9 und 11 Sechzehntel. Da alle Stimmen rigide-repetierend an ihren Tondauern festhalten, entsteht eine polyrhythmische Struktur von recht hoher Komplexität. Rhythmisch gesehen, erfolgt ein Gesamtdurchlauf, d.h. ein Durchmessen des Abstands von zwei Orten eines zeitgleichen Einsatzes aller Stimmen. Farbenmusik ist das Symbol de la Cité Céleste, des unendlich weiten Himmelsortes des Seinsuniversums, aus dem unsere Physis nur einen kleinen Zeitausschnitt ausmacht. Die physische Grenze eines Menschen lässt nur eine begrenzte Dauer der unendlichen Struktur (unendlichen Farbenmelodie) von Farbenmusik zu.

Die Toccata als tradierte Erwartungshaltung wird schon alleine durch deren Charakter, narrativ und damit musikalische Prosa zu sein, hinterfragt und notwendig enttäuscht. Der fällige Auflösungsakkord nach einem sich entwickelnden Melodiebogen, nach dessen Sequenzierung in Fahrt gekommen, wird verweigert. Im Sinne von »superverso« verschwinden die für eine Toccata typischen Akkorde mehr und mehr zugunsten polyphoner, horizontaler Strukturen mit dem für eine Toccata untypischen Schluss, der das virtuelle Bild des Anfangs des zehnten Stückes zeichnet.

Im Sinne einer Kleinplastik (Bozzetto) ist das elfte Stück eine Klangskulptur, die sich dem Betrachter zuweilen klar erschließt, zuweilen gleichsam einem Traumbild ähnelnd im Nebel verschwindet. Dabei bedient sich die Komposition einer Technik, die die Luftzufuhr der Orgelpfeifen manipuliert, somit den stehenden Klang einerseits verfremdet, aber auch wieder präsenter werden lässt. Durch Figuren, die mehr klangliche Präsenz besitzen als die stehenden Akkorde, wird die Profilierung des scheinbar unbehauenen Monoliths sichtbar. Doch diese Figuren, die in den anderen superverso-Stücken die Entwicklung vorwärtstreiben, ändern am statischen Charakter des endlos erscheinenden Stückes nichts, daher der Titel Bozzetto. Nur ein einziges Mal erscheint die Klangfigur konkret präsent, an der einzigen Tuttistelle dieses Stücks.

Mit Symphonie II ist auch das zwölfte, das ausgedehnteste Stück des Zyklus’ überschrieben. Eigentlich im Sinne von Zusammenklang ist hier auch eine Zusammenfassung des Ideengehaltes des ganzen Zyklus’ zu verstehen. So baut sich eine Bassmelodie systematisch auf, die zunehmend an Komplexität gewinnt, noch einmal verstärkt durch das Entstehen eigenständiger Stimmen, zunächst in Bruchstücken, dann durchlaufend in den Manualen. Rhapsodisch erscheint das vierte, auch symphonische Stück in der zweiten von drei groß angelegten apokalyptischen Steigerungen. Wir befinden uns in einer Situation zwischen Traum und Wirklichkeit, zwischen Diesseits und Jenseits. Das Material wir nun in Analogie zu Symphonie I ins Absurde gesteigert und erleidet in der Verklumpung den Prozess seiner eigenen Zerstörung. Mit fünf sehr leisen, sphärischen, jenseitigen Akkorden, sehr langsam, quasi aus der Zeit fließend dargeboten, endet der Zyklus.

Zum Gesamtentwurf

Obschon in seiner musikalischen Anlage und Sprache sehr viel avancierter, da historisch gesehen erheblich später entstanden, ist die Verwandtschaft des superverso-Zyklus’ zu Messiaens großen Orgelzyklen unverkennbar. Zwar verzichtet superverso per organo, anders als etwa der große Orgelzyklus Livre du Saint Sacrement von Olivier Messiaen auf eine konkrete theologische Titulierung der einzelnen Stücke zugunsten, und auch zurückgenommen auf, musikalische(r) und technische(r) Titelgebungen. Doch gemeinsam ist beiden der große Entwurf des Gesamtprogramms Trinitas einerseits und Sein und Zeit andererseits als nichtmythologische, rationale, naturphilosophische Denkansätze, die den Glauben im cartesianischen Sinne aus einer übergeordneten Schöpfungsinstanz beziehen, die unsere Welt ordnet, und deren Abbild zugleich die äußere und innere Ordnung der Dinge in unserer Lebenswelt ausmacht.

Unser Schöpfertum ist (gleich der Vorstellung Messiaens) ein Werk Gottes. Unserer Grenzen und unserer Begrenztheit bewusst, sind wir zur Demut als Diener des Großen Ganzen angehalten. Wo haben hier Schuld und Sühne als Folge des Durcheinanderbringens dieser Ordnung ihren Platz? Dieses daraus folgende Beladensein im protestantischen Sinne kann es für mich nicht geben, wohl aber einen ethischen Imperativ für das als Gegeben Hinzunehmende dieser Ordnung als Verantwortung. Insofern ist superverso ein im weitesten Sinne »katholischer« Orgelzyklus.

»Trinitas« heißt hier Trinité de la Nature, de l’Esprit et de l’Architecture als eine cartesianische Dreieinigkeit der Natur, des Geistes, der aus der ungeformten Natur (Materie) Struktur quasi als Ausfluss des schöpferischen Geistes schafft. Dies steht in der Tradition der mittelalterlichen Septem Artes Liberales, der sieben natürlichen Grundwissenschaften beziehungsweise -disziplinen, die die Ordnung der Welt erforschen, definieren, erklären.

Die Gegenwart der Trinitas ergibt sich im superverso-Zyklus aus der im Verlauf seiner Entstehung immer bewusster konzipierten Dreiergruppierung der Stücke, die nicht ihrer Reihenfolge entspricht. So sind die Stücke I–III ebenso zusammengefasst als Eröffnung einerseits und andererseits als Klimax zu einem ersten Höhepunkt, dem vierten Stück, wie auch die Stücke IV, XI und XII. Sie sind die ausgedehntesten Stücke des Zyklus’, das elfte Stück verlässt gar eine gewisse Form messbarer Zeitlichkeit. Bleiben die Stücke V, VI und VII, und die Stücke VIII, IX und X. Bei ihnen läuft das Uhrwerk, und das Firmament wird vorgestellt, der Zugang zum Aeternum im Bewusstsein unserer Endlichkeit. Dafür steht auch das achte Stück über das Kreuzsymbol und jene Vogelstimme, die auf den Ausgang ins Unendliche führt, ob dies nun der Fluss »Styx« ist oder die Auffahrt, sei dahingestellt. Doch das Kreuz steht auch für Erlösung. In Farbenmusik setzt einer auf Unendlichkeit entworfenen musikalischen Struktur (Großpassacaglia) die Physis des Menschen eine Grenze. Bezüglich der Toccata verschwindet die unendliche Melodie im »nichtenden Nichts des Unendlichen« (Heidegger). Noch ist es hier die Vision einer Möglichkeit, nicht die Offenbarung als drohende (Stück IV) und apokalyptische Wirklichkeit (Stück XII). Genauso wie die Binnengliederung der einzelnen Stücke sehr häufig eine Dreiteiligkeit aufweist, ist die Anzahl der Stücke »zwölf« durchaus als »symbolische« zu verstehen. Die wenigsten Stücke sind einzeln aufführbar. Auch ist eine Änderung der Reihenfolge wegen dieser in Musik gegossenen Programmatik schwer vorstellbar.

Ernst Helmuth Flammer

Programm:

superverso per organo
Organ cycle in 12 parts (1985–1992)

Christoph Maria Moosmann
at the Rieger Organ of Vierzehnheiligen Basilica

CD 1

[01] I Genesis 04:52
[02] II Trio 03:10
[03] III et exclamavi 04:35
[04] IV Symphonie I (Halberg-Studie I)12:11
[05] V Halberg-Studie II 03:40
[06] VI Halberg-Studie III 03:42
[07] VII superverso für eine Kleinorgel (superversolino) 03:06
[08] VIII in media noctis (Clusterstudie) 07:08

CD 2

[01] IX Farbenmusik 09:18
[02] X Toccata 05:51
[03] XI Bozzetto 11:13
[04] XII Symphonie II, Apokalypse/Finalis 19:33

total playing time (CD 1 & CD 2) 90:13

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