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DER KOMPONIST IM ZEITFLUSS Gleich meiner bei NEOS erschienen Orchester-CD sind auch die Kammermusikwerke dieser CD von der Zeitgestalt im Zeitfluss bestimmt, der das menschliche Sein existentiell konditioniert. Die Kompositionen setzten sich mit dem Phänomen Zeit und dessen philosophischem und auch anthropologischem Kontext emphatisch auseinander. Warum emphatisch? Weil wir so sehr als menschliche Individuen davon betroffen sind, auch in der Bedrohung unserer kollektiven Existenz. Die Zeit determiniert existentiell alles, was ist. Jeder Teil der Materie in unserer Welt hat seine Eigenzeit, seine eigene Geschwindigkeit der Zeit. Insofern relativieren sich Gegenwart, Zukunft und Vergangenheit auf unsere bewusste Wahrnehmung von Zeit und sind keine Kategorien existentieller Objektivation von Zeit. Deren Gleichzeitigkeit ist mehr als eine Möglichkeit, sie ist ein Faktum und ebenso ihre horizontale (in Zeitschichten) sowie vertikale (in sich unablässig verändernden Aggregatszuständen sich vollziehende) Verfasstheit. Was bedeutet uns Zeit für unser Sein? Was bedeutet Zeit in ihrer Gleichzeitigkeit mehrerer Zeitschichten, in ihrem ontologischen kontingenten Aggregatzustand? Dehnt sie sich ins unendliche Nichts, verdichtet sie sich, indem sie sich beschleunigt und ins »Strudeln« gerät, gleich dem Raum und der Materie zum »Schwarzen Loch«, einer apokalyptischen Vision, die unser in der Zeit verankertes Sein unmittelbar betrifft? Gleich jener naturgegebenen Prozesshaftigkeit des Seins als einem sich permanent vollziehenden Werden und Vergehen bestimmen verschiedene Aggregatzustände von Polyphonie als Ausdrucksgestalten von Zeit und deren Voranschreiten, auch individuativem Voranschreiten, diese Kompositionen und insgesamt mein Werk in hohem Maße. Polyphonie ist Ausdruck von Bewegung und Ausdruck der Gleichzeitigkeit verschiedener Zeitschichten, die sich nur relativ in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft als gelebte Orte des Bewusstseins dissoziieren. Daher ist Zukunft vorweggenommene Vergangenheit. Die Polyphonie, die sich in verschiedenen Fortschreitungsgeschwindigkeiten vollzieht, ihr Fortschreitungstempo mittels Dehnung und Stauchung (prolatio major und prolatio minor) variabel gestaltet, ist das naheliegende Abbild dieser komplexen Erscheinungsformen von Zeit, vor allem ihrer Prozesshaftigkeit, die jedem im Alltag, wenn auch im Einzelnen nicht wahrgenommen und unbewusst, allgegenwärtig, begegnen. Polyphonie ist nach diesem Verständnis ein Ausdruck von Individuation, ein Äquivalent für das Einebnen hierarchischer Strukturen, welches in der Utopie des herrschaftsfreien Raums mündet, in dem, und nur in dem allein sich das menschliche Individuum kreativ frei entfalten kann. Polyphonie hat wie bei Bach auch hier eine stark auf die umanità bezogene religiöse Komponente: Alle Menschen sind vor Gott gleich. Noch ein anderer Aspekt ist wichtig: Nach der heraklitschen Weisheit, an ihrem geschichtlichen Ort nur atemberaubend zu nennen, wonach »wir niemals zweimal in denselben Fluss steigen«, ist alles Seiende nicht statisch und somit diskontinuierlich (Polyphonie und Polymorphie), also einem permanenten Wandel unterworfen. Dahingegangen, komponiert 1992, meint den Übergang ins Jenseits, jenseitig von Zeit, jenseits des realen Seins. Dahingegangen meint das Bewusstsein dessen, was mit Hilfe der menschlichen Auffassungsgabe nicht erfasst werden kann; Dahingegangen meint den virtuellen Seinsgrund, von dem die menschlich-reale Existenz lediglich ein Abbild ist. Im ersten Teil wird Beschleunigung des Zeitlaufs mittels planvoll auskomponierter Ereignisdichte einerseits als Höreindruck vermittelt, andererseits die Entwicklung des Individuums symbolisiert. Im zweiten Teil zerfallen die Strukturen, werden dekomponiert, das Polyphone erodiert, die musikalische Zeit, entschleunigt, kommt zum Stillstand, »geht dahin« ins nach vorn Offene. Interludium X, komponiert 2010, ist ein Interludium aus der jazzartigen Komposition StalCalvin arrived at the beach, deren Ensemblebesetzung zwischen »Big Band« und »Octandre« angesiedelt ist. Interludium 10 ist eine relativ strenge dreistimmige Fuge für Oboe, Klarinette und Fagott. Zeitflucht, komponiert 1988, arbeitet mit der Differenz zwischen »Erlebniszeit«, dem subjektiven Empfinden des zeitlichen Fortschreitens und der real messbaren Zeit (temps mesuré) andererseits. Am Werkanfang verunsichert der konsequent gegen das Metrum im Verhältnis 7:6 komponierte Rhythmus das Zeitempfinden, indem er schneller »läuft« als das Metrum. Dieses gleichmäßige Fortschreiten wird, arithmetisch streng auskomponiert, mehr und mehr verdichtet. Über jene kompositorische Verdichtung rezipiert sich als subjektiver Höreindruck Beschleunigung bis zum Höchsttempo des Zeitlaufs. Im zweiten Werkteil geschieht dasselbe erneut in einem völlig andersartigen Aggregatzustand von Textur und musikalischer Morphologie desselben Materials, um schließlich in ein rasend schnelles Fugato aller acht Instrumente des Zeitfluchtensembles zu münden und als »haptische Zeit«, ganz anders als in Dahingegangen, in sich zusammenzustürzen. Begegnungen mit einem ungewöhnlichen Solisten, komponiert 1979, ist eines der frühesten existierenden Stücke für ein Soloinstrument, was (daher der Titel) als solches in dieser Zeit noch kaum rezipiert wurde. Zwei Individuen, vom Wesen her Schumanns Florestan und Eusebius, der eine temperamentvoll, der andere eher ruhig, stehen sich zunächst relativ schroff gegenüber, treten nach und nach in einen Dialog, um sich danach wieder zu entfremden, aneinander vorbeizureden – eine Thematik, auch heute noch sehr aktuell. Das Instrument wird spieltechnisch und artikulatorisch extrem ausgelotet, woran sich Interpretation weiterentwickeln konnte und prinzipiell kann. Formal rekurriert Begegnungen mit einem ungewöhnlichen Solisten auf die klassische Form des Rondos. Dabei nimmt es eine Zwitterstellung zwischen einer geschlossenen und einer offenen Rondoform ein – im Sinne des Fortschreitens als eines nie endenden, offenen Prozesses im kontingenten Sein, über dessen Begrenztheit auf den haptischen Raum und die temps mesuré (die messbare Zeit) hinaus. Obzwar der Schlussteil sich stark auf den Anfang bezieht, indem er wie Letzterer (anders als im klassischen Rondo) kein Refrainteil, sondern ein metamorphosischer ist, unterscheidet er sich durch seine Öffnung in die Stille der Eternità prinzipiell von der ausgeprägten Geschlossenheit des Anfangsteils. In …zerstoben, durchbrochen, zerfallen…, komponiert 2009, dokumentieren neun Miniaturen den Zerfall jeglicher Zeitordnung, ihre Relativität, und lassen diese als virtuell erscheinen, als Zerfall von Wahrnehmung und damit von Gewissheiten. Drei rasche Teile kontrastieren die eher langsamen und ruhigen Abschnitte. Im zweiten Teil erscheint eine Fuge im Sinne einer Flucht vor der Realität des »Zerbrechens«, des Einsturzes, des Zerfalls all dessen, was bislang als gut und recht interpretiert wurde, des Zerfalls vieler Illusionen eingeschlossen. Den schon kürzeren, sechsten Teil bestimmt eine wüste Stretta, die, obschon sehr rigide durchkomponiert, den Eindruck des Zerfalls von Ordnung, der prozesshaften Zerstörung hinterlässt, deren Einzelelemente als Trümmer zurückbleiben. Der kürzeste, achte Teil erinnert mit einem dreifachen Kontrapunkt, äußerst knapp und konzentriert gefasst, nochmals an das Vorangegangene und lässt zudem die Zeit quasi im schwarzen Loch komprimiert verschwinden. All Ding will haben ein End, Schlussstück für Kammerensemble, komponiert 1993, steht auch deshalb am Ende dieser CD. In den Eckteilen treibt ein Ereignis polyphon das andere voran und musikalisch stets temperamentvoll vor sich her. Die Beschleunigung des Zeitempfindens wird hier, anders als in Zeitflucht, evoziert durch die systematische, dennoch nichtarithmetische Stauchung der musikalischen Morphologie und ihrer Strukturen bis zum Schluss des Stückes. In einem rhythmisch prononcierten, weil fast im rhythmischen Unisono gehaltenen Mittelteil, unterbrochen durch ein kurzes ruhiges Innehalten, scheint das Rasen der Zeit aus den Fugen geraten zu sein. Ein Prozess des Lösens aus der Erstarrung des repetitiv »rasenden« Mittelteils leitet den Schlussteil ein, bis dieser in einer umso dichteren Polyphonie (vgl. Zeitflucht) mündet, bei gleichzeitig bewusster Reduktion der musikalischen Artikulation. Nicht zufällig erscheint All Ding will haben ein End in »Pierrot Lunaire«-Besetzung, da (dem »Pierrot-Sujet« gleich) jähe, gleichsam filmische Tableau- oder Szenenwechsel das Stück bestimmen. Seine Rondoform ist wie bei Begegnungen als ein Zeichen des Seinsprozesses vom »Werden und Vergehen« zu verstehen. Ernst Helmuth Flammer |
Programm:
[01] Dahingegangen for flute, clarinet, piano, violin and violoncello (1992) 16:56 Martina Roth, flute [02] Interludium X for oboe, clarinet and bassoon (2010) 05:46 Alexander Ott, oboe [03] Zeitflucht for flute, oboe, clarinet, piano, violin, viola, violoncello and double bass (1988) 15:38 Martina Roth, flute [04] Begegnungen mit einem ungewöhnlichen Solisten for solo double bass (1979) 12:15 Johannes Nied, double bass …zerstoben, durchbrochen, zerfallen… for flute, clarinet, percussion and violoncello (2009) 09:29 Martina Roth, flute [14] All Ding will haben ein End Schlussstück für Kammerensemble 06:48 Martina Roth, flute total playing time: 67:29 |