Gunnar Geisse: TRIPTYCH

17,99 

+ Free Shipping
Artikelnummer: NEOS 12017 Kategorie:
Veröffentlicht am: November 13, 2020

Infotext:

Gimis Klavierkonzert

Warum sollte man im Jahre 2020 noch ein Klavierkonzert komponieren? Hat sich dieses Leitgenre der absoluten Musik nicht schon seit Jahrzehnten erschöpft? Gunnar Geisses Klavierkonzert, das auf der vorliegenden CD seine Premiere erlebt, fügt dem Genre auf jeden Fall eine neue Facette hinzu, bei der nicht sicher ist, ob sie die Gattung fortschreibt oder sprengt. Obwohl das Klavier als Soloinstrument zu hören ist und von einer Vielzahl von Orchesterinstrumenten begleitet wird, wurde bei dieser Aufnahme nur ein einziges Instrument wirklich gespielt, das wiederum kein Klavier, sondern eine E-Gitarre ist.

I.

In den letzten fünf Jahren hat Gunnar Geisse ein Programm entwickelt, das es ihm nicht nur erlaubt, mit der E-Gitarre virtuelle Orchesterinstrumente zu spielen und mit ihr komplexe Klangstrukturen in Echtzeit zu generieren, sondern mit diesen musikalischen Strukturen auch zu improvisieren. Geisse hat seine Improvisationen bislang als Stücke für »Laptop-Gitarre« beschrieben, im Prinzip handelt es sich aber um ein universelles Improvisationssystem, das sich mit jedem beliebigen Musikinstrument spielen lässt. Insofern spricht er inzwischen auch von Gimi, einem General Improvisational Meta Instrument, wenn von dem Programm die Rede ist. Der Ausgangspunkt dieser Improvisationsstücke ist stets eine Spektralanalyse des digitalisierten E-Gitarren-Signals. Aus diesem werden MIDI-Daten gewonnen, mit denen sich virtuelle Instrumente und Software-Sampler ansteuern, spielen, modulieren und transformieren lassen. Das eigentlich Spektakuläre an diesem Improvisationssystem ist, dass und wie hier die ansonsten getrennten Prozesse des Programmierens, Komponierens und Improvisierens miteinander verschmelzen.

Im Allgemeinen lassen sich drei unterschiedliche Arbeitsphasen unterscheiden, in denen Geisse seine Improvisationsstücke kreiert. Zunächst einmal wird eine konzeptuelle Idee – im vorliegenden Fall, dass sich die Musik in Gestalt eines Klavierkonzerts entwickelt – in eine Abfolge von »Szenen« gebracht, die sich mit Shortcuts zeitlich nacheinander auf dem Computer ansteuern lassen. Jede einzelne Szene besteht aus einer Vorauswahl von virtuellen Instrumenten und Algorithmen, mit denen diese Instrumente gespielt und in Echtzeit manipuliert werden können. Bei diesen Szenen handelt es sich also um eine Art von Improvisationsschablonen, die so programmiert werden, dass sich mit ihnen ganz bestimmte musikalische Vorstellungen realisieren lassen.

So setzt zum Beispiel der zweite Satz des Klavierkonzerts mit Spektralklängen ein. Geisse hat hier in einer Reihe von Experimenten nach Möglichkeiten gesucht, mit Hilfe von Algorithmen, die seine »midisierten« Gitarrenklänge weiterverarbeiten, den Eindruck von Spektralklängen zu erzeugen. Schließlich wurde diese Szene so prästrukturiert, dass einzelne Gitarrentöne zeitgleich ein Streich-, ein Holzbläser-, und ein Hornquartett triggern, wobei die einzelnen Instrumente in den Quartetten jeweils mit einer geringen Zeitverzögerung einsetzen und entsprechend »spektralistisch« zu interferieren beginnen. Diese erste Experimentierphase, in welcher die Improvisationsschablonen entworfen werden, betrifft aber nicht nur das Ausprobieren von Klängen, die sich ergeben, wenn Gruppen von virtuellen Instrumenten mit einer Gitarre angesteuert und deren Signale algorithmisch weiterverarbeitet werden, sondern die Szenen beeinflussen rückwirkend auch das Gitarrenspiel selbst. Nicht jede freie Improvisation passt zu jeder Szene, sondern es sind ganz bestimmte Spieltechniken, Tonhöhen, Akkorde und Läufe, mit denen man die gewünschten Klangeffekte generieren und variieren kann.

Im Prinzip ließe sich das Klavierkonzert auch von einem anderen Instrument wie etwa einem Saxofon oder einer Violine aufführen. Auch die von solchen Instrumenten gespielten Töne würden automatisch über eine Spektralanalyse in MIDI-Daten gewandelt und könnten dann wie Geisses Gitarre einzelne Szenen ansteuern. Allerdings müssten die Solisten das Improvisieren mit ihren Instrumenten erst trainieren, um für die Improvisationsschablonen instrumentenspezifische Spielweisen zu entwickeln.

Jede einzelne Szene ist also durch eine spezifische Parametereinstellung definiert, die während eines Konzerts per Shortcut abgerufen wird. Diese einzelnen Szenen werden schließlich zu einer chronologischen Szenenfolge zusammengestellt, die man sich als digitale Improvisationspartitur vorstellen kann. In den einzelnen Szenen wird konkret festgelegt, welche virtuellen Instrumente zum Einsatz kommen und welche Spieltechniken dabei verwendet werden; zudem können hier z. B. die Tonhöhenauswahl eingeengt und die Lautstärkeverhältnisse in den Instrumentalgruppen festgelegt werden. Determinieren lässt sich aber auch, ob Instrumente mikrotonal oder temperiert angesteuert werden, welche Plugins in der Szene aktiviert sind und ob musikalische Prozesse zufallsgesteuert verlaufen sollen. Für die Live-Manipulationen verwendet Geisse zusätzlich einen MIDI-Controller (eine kleine Box mit Reglern, Schaltern und Joystick), um neben der E-Gitarre weitere Optionen zu gewinnen, die MIDI-Signale haptisch zu manipulieren. Oft ist es der Fall, dass einzelne Regler und Schalter mehrfach belegt sind und entsprechend mehr als einen Parameter gleichzeitig steuern, was den Effekt haben kann, dass sich das ganze Improvisationssystem von Zeit zu Zeit wie eine Black Box verhält und unvorhersehbar wird. Der MIDI-Controller bringt also paradoxerweise ein Stück Unkontrollierbarkeit in die Improvisation. Aber gerade aufgrund dieser Überraschungsmomente zwingt das System den Musiker, der mit ihm improvisiert, spontan auf unerwartete Klangereignisse zu reagieren. In ihrer Radikalität haben Geisses Improvisationen eher etwas mit Free Jazz als mit Jazz Standards zu tun.

Jede Szene ist also nicht durchkomponiert, sondern definiert mit einem Set von Parametereinstellungen und Algorithmen einen Interpretationsspielraum, in dem sich spezifische musikalische Ideen realisieren lassen. Mit der von Geisse geschaffenen digitalen Präkomposition des Klavierkonzerts ließe sich im Prinzip eine infinite Zahl von Improvisationen realisieren. Bei der vorliegenden CD-Einspielung hat es im Vorfeld der Aufnahme ebenfalls eine Vielzahl solcher improvisierter Aufführungen gegeben, nur dass sie im Studio und nicht auf der Bühne stattgefunden haben. Aus dieser Vielzahl von Klavierkonzert-Versionen wurden dann in einem abschließenden Schritt besonders gelungene Passagen ausgewählt, nachbearbeitet und zu einer Endversion montiert.

Letztendlich lassen sich bei der CD-Einspielung drei Ebenen der Innovation unterscheiden: die digitale Präkompositionsebene, in welcher für eine konzeptuelle Abfolge von musikalischen Ideen die entsprechenden Improvisationsschablonen programmiert wurden, eine Improvisationsebene, in welcher verschiedene Versionen des Klavierkonzerts entstanden sind, und schließlich eine Produktionsebene, in der die gelungensten Studio-Improvisationen für die vorliegende CD-Fassung zusammengeschnitten wurden.

II.

Das Klavierkonzert wurde standardmäßig in drei Sätzen komponiert, von denen Geisse aber den letzten später wieder verwarf. Der erste Satz ist im Wesentlichen eine Hommage an die Gattung und enthält Allusionen an die Klavierkonzerte von Tschaikowski, Brahms, Schumann und Chopin, wobei es sich hier in erster Linie um Imitationen charakteristischer Klavierläufe handelt, bei denen Pianisten ihre Virtuosität unter Beweis stellen können. Diese Läufe nehmen in Geisses Klavierkonzert insofern eine Sonderstellung ein, als sie ausnahmsweise nicht aus der Live-Improvisation entstanden sind, sondern in Form von MIDI-Daten vorab erstellt wurden. Diese steuern dann während des Konzerts das virtuelle Klavier an und behalten als fixierte MIDI-Dateien ihren Zitatcharakter. Am Beginn von Track 02 hört man auch ein echtes Rachmaninow-Zitat aus dessen 3. Klavierkonzert.

Der zweite Satz hingegen entfaltet die Idee des Klavierkonzerts ohne Klassik-Zitate und arbeitet hauptsächlich mit jenen Mitteln der Avantgarde, die im 20. Jahrhundert die Spielmöglichkeiten des Klaviers erweitert und entgrenzt haben. Man hört jetzt zum Beispiel Anklänge an die unspielbar schnellen Kompositionen für Selbstspielklavier von Conlon Nancarrow, die sich heute zum Black MIDI-Stil gesteigert haben (Track 05, 02:23), eine Pedal Steel Guitar (Track 05, 03:24), mikrotonale Klangfelder (Track 06, 00:50) und elektronisch verzerrte Pianoklänge (Track 06, 01:00). Damit vollzieht das Konzert vom ersten zum zweiten Teil einen musikgeschichtlichen Übergang, und zwar von einer postmodernen Ästhetik, die mit den Klängen der Tradition spielt, zu einer zeitgenössischen Ästhetik, in der das gesamte musikalische Universum als Medium der Komposition und Improvisation zur Verfügung steht. Wenn aber dieser in der Musikgeschichte sich tatsächlich vollziehende Bruch das übergreifende Thema des Klavierkonzerts wird, dann lässt sich daran auch nicht, wie das beim klassischen Klavierkonzert gewöhnlich der Fall war, ein dritter Satz anschließen – ohne diese Aussage zu schwächen. Vermutlich hat die improvisatorische Ausarbeitung von Geisses Klavierkonzert die vorgegebene Großform in ähnlicher Weise gesprengt wie dies bei Schuberts »Unvollendeter Sinfonie« der Fall war. Schubert hatte in den ersten beiden Sätzen dieser Sinfonie die Idee des musikalisch Schönen in einer bislang nie gehörten Intensität ins Erhabene gesteigert, demgegenüber ein dritter und vierter Satz nur abfallen konnte. Geisse fügte schließlich auf seiner CD anstelle eines dritten Klavierkonzert-Satzes mit rhythm changes ein vollständig eigenständiges Werk in Gestalt einer Sonate für Laptop-Gitarre Solo hinzu.

III.

Was für ein Werk hat Gunnar Geisse mit seinem Klavierkonzert eigentlich geschaffen? Der erste Eindruck mag sein, dass es sich hier um einen Hybriden aus elektronischer, improvisierter und virtuell eingespielter akustischer Musik handelt. Tatsächlich ist dieses Konzert aber weit mehr als nur eine Synthese vorhandener musikalischer Praxen, sondern es entsteht etwas qualitativ Neues, das es in dieser Form bislang nicht gab. Ein einziger Musiker vermag in einer Live-Improvisation mit allen nur denkbaren musikalischen Strukturen zu improvisieren, wobei dies, da es am klassischen Genre des Klavierkonzerts vorgeführt wird, wie ein Sinnbild einer digitalen Musikkultur wirkt, in der die überwundene literale Musikkultur aufgehoben bleibt.

Nun haben sich bereits im 20. Jahrhundert mit dem Jazz und der Improvisierten Musik eigenständige musikalische Improvisationskulturen ausgebildet, und es kam natürlich auch zur gezielten Inklusion von Jazz-Elementen in die Zeitgenössische Klassische Musik und zum Einsatz von Live-Elektronik in den Neue Musik-Konzerten. Undenkbar war es aber bisher, dass ein Musiker im Medium der Samples große Orchesterwerke für beliebige Ensemblebesetzungen konzipierte und allein mit einer Gitarre, einem Laptop und zwei guten Lautsprechern als Live-Improvisation aufführen konnte. Letztendlich kommt es hier zu einer systematischen Auflösung der Grenzen sowohl zwischen experimenteller, komponierter und improvisierter Musik als auch zwischen elektronischer und akustischer Musik, da der ganze Kompositionsprozess nicht wie bislang im Medium der Notenschrift, sondern im Medium von Samples stattfindet, in dem die ästhetischen Entscheidungen wie in einer oralen Musikkultur unmittelbar mit dem Ohr getroffen werden. Ein Stück weit ähnelt die Arbeit mit Geisses Improvisationssystem wieder dem »Komponieren am Klavier«, bei dem klassische Komponisten über das Improvisieren an ihrem Instrument auf neue musikalische Ideen gekommen sind, die sie dann aufgeschrieben haben – nur dass diese Improvisationsphase sich jetzt auf alle möglichen virtuellen Instrumente zugleich erstrecken kann.

Gunnar Geisse hat mit seinem Klavierkonzert erstmals die technischen Möglichkeiten von Gimi in seinem ganzen Spektrum vorgeführt und dürfte mit diesem Prototypen vor allem auch eine jüngere Generation von Musikern und Komponisten beeinflussen, die daran interessiert sind, mit Maschinen zu improvisieren. Doch Geisses Klavierkonzert ist nicht bloß eine technologische Innovation, insofern dieses Werk überhaupt nur von einem derart genuinem Musiker wie ihm geschaffen werden konnte. Geisse hat mit Jazzbands improvisiert, konzertierte als Gitarrist in Ensembles für Neue Musik, hat als Solist in großen Orchestern gespielt und kennt sich in den Klangwelten, Kompositionstechniken und Stilrichtungen der gesamten Musikgeschichte bestens aus. Es ist dieses umfassende musikalische Wissen, dass es ihm erlaubt, mit dem musikalischen Universum, das jedem in einer digitalen Musikkultur zur Verfügung steht, tatsächlich auch in einer originellen Weise zu improvisieren.

Harry Lehmann

Programm:

Piano Concerto (2019) 38:15

Digital pre-structured improvisation in two movements for any solo instrument and interactive computer setup, realisation with electric guitar, post-edited montage of the recorded improvisations for the present fixed media Version

1st movement
[01] I. 1 06:29
[02] I. 2 08:28
[03] I. 3 05:00

2nd movement
[04] II. 1 05:36
[05] II. 2 04:41
[06] II. 3 08:01

rhythm changes (2020) 27:43
Sonata for solo laptop guitar

Digital pre-structured improvisation for electric guitar and interactive computer setup, post-edited montage of the recorded improvisations for the present fixed media Version

[07] 1 10:54
[08] 2 07:02
[09] 3 05:13
[10] 4 04:34

total playing time: 66:10

Gunnar Geisse, laptop guitar

World premiere recordings

Pressestimmen:

 

Artikelnummer

Brand

EAN

Warenkorb

Melden Sie sich bei dem brandneuen NEOS Newsletter an.

X