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ZWEITES KLAVIERKONZERT UND KAMMERMUSIK Hermann Keller ist der Prototyp eines so bedachtsamen wie unruhevollen Experimentators und ungeahnte Erfindungen freisetzenden Improvisators, der es versteht, den berühmten Funken überspringen zu lassen. Eine seiner Lieblingsbeschäftigungen: das Ex tempore auf dem Flügel, das er inWahnsinnsakten ebenso auf den Tasten wie im Korpus des Instruments realisiert. Was zu intonieren und zu denaturieren geht mit dem Instrument, kommt in Anschlag. Und es gibt etliche Plusvarianten. Die nachhaltigsten sind Präparationen, also Verformungen des Klavierklangs mit Hilfe verschiedener Mittel – Radiergummis, Schrauben, Schlegel, Becken. Arbeiten mit Clusterstäben, dem Fingernagel, der Faust, dem Ellenbogen, ja, so scheint es, dem ganzen Körper. Er habe nie einen von Cage präparierten Flügel zu Gesicht bekommen, sagt Keller, aber kenne natürlich die betreffenden Cage-Aufnahmen. Henry Cowell, John Cage, Hermann Keller. Das sei eine Entwicklungslinie, hat einmal der Komponist und Klavierpräparator Hans Rempel gesagt. Und er hat Recht. Keller hat auf dem Gebiet der Präparationen über viele Jahre unablässig experimentiert und echte Entwicklungsarbeit geleistet. Konzert für Klavier und 13 Instrumentalisten (2. Klavierkonzert) Die Klangwelt des Konzerts ist so fern vom Üblichen, dass man nur staunen kann. Keller sucht vornehmlich dem Soloinstrument die fremdesten Dinge zu entlocken. Aber die restlichen 13 Instrumente sind genauso betroffen. Denaturierung, Verfremdung, Zuspitzung allerorten. Über Techniken der Präparierung des Flügels kombiniert Keller Vierteltöne, Achteltöne, alle Sorten Flageolett-Töne, präparierte Zusammenklänge mit anderen Instrumenten. Genauso erstaunlich die immanente Welt der Rhythmen und Klangfarben. Eingang finden unregelmäßige afrikanische, vom Jazz inspirierte wie eigens entwickelte Rhythmen und rhythmische Kombinationen. Das Stück zeigt, wie Ordnungen sich verfestigen, zerfallen und untergehen. – Das sechssätzige Werk schlägt eine Bogenform. Am Anfang herrscht die Idylle, das harmonische, ausgeglichene, nicht unproblematische Spiel der Kräfte. Am Ende strukturelle Implosion, Zerstörung, Chaos. Die Eröffnung, »Im Garten Eden«, Satz 1, baut diese Idylle. Das Piano ist daraufhin präpariert. Die Präparationen klingen angenehm, gehen ins Ohr. Es gibt einen subtilen Abtausch zwischen Streichern und präparierten Klavierklängen. Holzbläser und Horn gesellen sich dem Schönen. Aber die Szenerie endet unsicher, fragend. In Satz 2, »Scherzo I«, diktiert das Soloinstrument den rhythmisch-klanglichen Puls des Satzes. Afrikanische Rhythmen sind Triebmomente. Instrumenten und Gruppen gewinnen mehr und mehr Raum, weiten ihren Spielhorizont aus. Bläsersignale fahren unversehens in den Vorgang. Dann allmähliche Auflösung des ursprünglichen Rhythmus’. Schließlich freies Musizieren ohne Metrum. Satz 3, »Auf die Erde voller kaltem Wind«, ist kampfdurchtobt. Er aktiviert die Energien aller Spieler. Die Faktur ist durchlöchert. Kurze Pausen in jeder Stimme lassen nirgends eine komplette Vertikale der 14 Instrumente zu. Alle Pulsationen, über die Keller gebietet, kommen in Anschlag. Reihenweise, in wildester Art, fegen Klaviercluster, realisiert mit Clusterstäben auf den Tasten, ratternde Tonrepetitionen, Streicher-Glissandi, eruptive Einwürfe von Blech und Holz, dazu Schlagzeug durch die Faktur. Am Satz-Ende steht der Gewalt die Poesie eines kurzen Solos entgegen. Bevor es eintritt, schießen sirenenhafte Streicher mit Schlagzeug zusammen und gellen in ff-Tonrepetitionen radikal auf. Stehen bleiben ferne Geräusche eines pedalisierten Klavierklangs, vor denen die nahe, intervallisch weit ausgreifende Bassklarinettenstimme ihr zärtlich Lied singt. Satz 4, »Unterbrochene Elegie«, baut kurzzeitig Erinnerungen an Vergangenes auf, um sie sogleich zu zertrümmern. Teil 1 beispielsweise besteht aus wenigen Takten, als hätte Webern ihn komponiert, und schließt mit einer Generalpause. Das Soloinstru-ment belebt die Szenerie lediglich durch präparierte Einzeltöne, auch Zweiklänge, sodann gezupfte und gekratzte Töne. Parallel laufen fugatohaft eintretende kantable Stimmen. Zuerst »singt« das Horn, dann Violoncello, Oboe, Violine, 2. Violine, Fagott, Viola. Doch der Schein trügt. Heftige Glissandi in Posaune, Streichern und Schlagzeug zerstäuben alle Hoffnung. Im Schlussteil, »Amok«, dem freiesten und radikalsten Teil, agieren Solist und Instrumentalisten – jeder gegen jeden – all ihre Möglichkeiten aus. Satz 5, »Scherzo 2«, klingt auf den ersten Blick fast beschwingt, rhythmisch heiter, tänzerisch. Charakteristisch: Er spielt mit Tonalität und konterkariert sie, hält Harmoniebildungen Ironisches, Groteskes entgegen. Auf Dreiklänge folgen deren Brechungen etwa in scharfen Gesten der Blechbläser. Das Duett zwischen Piano und Violine materialisieren flirrende, vierteltönige Flageoletts. Am Ende stehen choralförmige, beinahe weinende Bläserattitüden. Sonate für Streichtrio und Klavier Präpariert sind neben Klavier auch Violine und Bratsche mit Hilfe von Präparationsstäben. Die klemmen zwischen den Saiten auf dem Griffbrett. Für die Form der Sonate steht zunächst die Dreisätzigkeit. Die Ecksätze sind ungleich schneller, mobiler als der Mittelsatz. Dann werden Themen durchaus exponiert und verarbeitet. Soli, Duette, Terzette, Quartette leben sich teils satztechnisch streng geführt, teils freudig musikantisch aus. Der Finalsatz kennt entlang ausgehaltener Oktaven auch Dur – Harmonie – Punkte, die, vom Pianisten kurz angerissen, durch Abdämpfung, Verformung sogleich wieder kippen. Umgekehrt erwächst aus dissonanten Strukturen blitzhaft ein Dur-Klang. Derlei verweist auf Sehnsüchte, Erinnerungen. Szene für Solo-Posaune (Teil 2) Diese Szene, Bestandteil eines sechsteiligen Posaunen-Solowerkes, testet Möglichkeiten der Posaune vornehmlich im rhythmischen Bereich. Verschiedene Techniken kommen zum Zuge: Tongebung durch lautes oder leises Ein- und Ausatmen, zugleich Vokalisieren und Blasen, Techniken der Geräuschbildung (Luftgeräusche, Blasen durchs Mundstück u. ä.), Glissandotechniken. Der Puls wie die Kontur des Stückes sind einheitlich. Dafür stehen die durchrhythmisierten, über Ein- und Ausatmungsvorgänge erzeugten Töne und Geräusche. Allerdings wird die Kontur immer wieder durchschossen. Etwa durch kurze, über gestopfte Klänge realisierte Zusammenbruchsfelder. Die Metren wechseln periodisch: drei Halbe, vier Viertel, drei Viertel. Dominierende Intervalle sind Quarten, Quinten, Tritoni, große Septimen. Deren Ausgangsstufen wechseln, so dass Harmoniebildungen zumindest durchscheinen. Szenen für 1 GeigerIn und 1 PianistIn Das Stück entstand in Zusammenarbeit mit der Geigerin Antje Messerschmidt. Sein Titel, gewiss ironisch gemeint, bezeichnet den Plural »In«, in dem der Singular »in« verkappt ist. Zwei musizierende Subjekte stehen im Clinch. Clinchs kennen bekanntlich die subtilsten bis gröbsten Facetten. Ein weites Feld. Keller hat es auf seine Weise beleuchtet, nämlich rein musikalisch, was denkbar schwer ist. Das sechsteilige Stück formuliert ein Zusammenspiel zweier Individualisten, die jeweils, wie man sagt, ihren Stiebel durchziehen. Wodurch – die eigentliche Würze des Stücks – vielerlei komische Korrespondenzen entstehen. Nach anfänglichem Abtasten kommt es erwartungsgemäß zu schärfsten Kollisionen. Während die Pianistin sich in wildesten Gebärden übt, musiziert die Geigerin klassizistische Figuren. Die Szenerie wechselt immerfort. Teil 4 verbildlicht eine Art Prügelstrafe. Auf extremste strukturelle Verdichtungen weiß die verzweifelte Violinistin lediglich mit Floskeln zu antworten. Das Ende führt imitatorisch ausgefochtene Reflexaktionen, Stoßseufzer, Ermattungen mit. Ein lauter Klavierton im Diskant beendet den Reigen. Stefan Amzoll |
Programm:
[01] Konzert für Klavier und 13 Instrumentalisten 2. Klavierkonzert (2003) 26:40
Hermann Keller, piano
ensemble chronophonie
Manuel Nawri, conductor
[02] Sonate für Streichtrio und Klavier (2002) 15:27
Antje Messerschmidt, violin
Martin Flade, viola
Ralph-Raimund Krause, violoncello
Hermann Keller, piano
[03] Szene für Solo-Posaune (Teil 2) (1987) 07:09
Matthias Jann, trombone
[04] Szenen für 1 GeigerIn und 1 PianistIn (2002) 22:05
Antje Messerschmidt, violin
Hermann Keller, piano
total time 71:23
World Premiere Recordings