James Wood – John Cage – Brian Ferneyhough: Ensemble VERTIGO der Hochschule der Künste Bern – Nouvel Ensemble Contemporain

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Artikelnummer: NEOS 11825 Kategorie:
Veröffentlicht am: Januar 25, 2019

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PRÄZISE, KOMPLEX UND VOLATIL – IN VERSCHIEDENEN KOMBINATIONEN

Noch vor einigen Jahren wären die drei Werke, die hier dokumentiert sind, kaum je mit einem Hochschulensemble aufgeführt worden, und dies obschon das jüngste davon bereits zwanzig Jahre alt ist. Das hat mindestens zwei Gründe: Zeitgenössiche Musik ist noch nicht sehr lange selbstverständlicher Teil des Hochschulrepertoires. Man benötigt dafür spezialisierte Ensembles, eine adäquate Infrastruktur (etwa im Bereich der elektronischen Musik), eine professionelle Veranstaltungstechnik und Dozierende mit großer Erfahrung in diesem Feld. Wir schätzen uns glücklich, dass wir an der Hochschule der Künste Bern darüber verfügen. Zum anderen kann man feststellen: Das spieltechnische Niveau ist heute bereits bei jungen Musikstudierenden enorm hoch und bildet die Voraussetzung für Programme wie das vorliegende. Was man heute im In- und Ausland an Hochschulen bei Eintrittsprüfungen hört, wäre vor einiger Zeit noch eher als Diplomprogramm nach langem Studium aufgetaucht… Diese Leidenschaft und Selbstverständlichkeit, mit der sich in der Hochschullandschaft Studierende und Dozierende der aktuellen Musik annehmen, wollen wir hier dokumentieren.

Die drei Werke, die versammelt sind, wurden innerhalb von wenigen Monaten in Bern an der Hochschule der Künste einstudiert, im Falle von Brian Ferneyhoughs La Chute d’Icare bildeten jedoch nicht Studierende das Begleitorchester, sondern das Nouvel Ensemble Contemporain aus Neuenburg (Schweiz) stellte sich zur Verfügung, um die Studentin Shuyue Zhao zu begleiten, die das Stück für ihr Solistendiplom ausgewählt hatte. Die beiden anderen Werke von John Cage und James Wood hingegen fanden im selben Programm statt und waren Teil eines ordentlichen Programmes des Ensemble VERTIGO der Hochschule der Künste Bern.

Die Werke von Cage und Ferneyhough wurden dabei von Anfang an in einem traditionellen Probenprozess erarbeitet. Das bedeutet, dass das Verhältnis von Partitur und instrumentaltechnischer Realisierung auf klassischen Instrumenten Schritt für Schritt zu einer Interpretation führt. Bei James Wood hingegen tauchte zunächst eine Schwierigkeit auf, die uns im 21. Jahrhundert immer häufiger begegnen wird: die historische Aufführungspraxis zeitgenössischer Musik mit Elektronik. Insbesondere die beiden Synthesizer aus den 1980er-Jahren sind heute kaum mehr aufzutreiben, von den Schwierigkeiten ihrer Programmierung und Einbindung in ein Ensemble ganz zu schweigen. Es wurden zwei Keyboard-Setups benutzt, bestehend aus je einem Yamaha KX 88 Masterkeyboard sowie einem Yamaha TX802 Synthesizer-Modul und einem Yamaha TX16W Sampler. Beide Musiker spielten also über das Keyboard gleichzeitig einen Synthesizer und einen Sampler. Die Synthesizer-Klänge sind teilweise mikrotonal verstimmt, wofür der Komponist ein detailliertes Manual geschrieben hat. Überhaupt hat Wood die spezifischen Möglichkeiten dieser Geräte so stark ausgereizt, dass das Werk fast nur mit diesen seltenen Originalinstrumenten aufgeführt werden kann. Nur dank der Unterstützung des Schweizerischen Museums für elektronische Musikinstrumente (SMEM), aus dem die Instrumente stammen, war die Realisierung möglich. Ähnliches gilt für den Schlagzeugpart. Die hölzernen Trommeln haben anstelle eines Fells eine dünne Holzplatte, sind in Ansprache und Klangentwicklung eher zurückhaltend und werden kaum je solistisch in Szene gesetzt. Der Schlagzeuger Brian Archinal hat keinen Aufwand gescheut, diesen Instrumenten im Werk von Wood einen gebührenden Platz zu geben. Ensemble, Soloschlagzeug und elektronische Klänge: Die fulminant gesetzten Kontraste dieser drei Klangquellen, das hohe Tempo an dichten Ereignissen und die Sensibilität für die Gegenüberstellung vieler Klangfarben machen den großen Reiz dieser ungemein schwierig einzustudierenden Komposition aus, und wir freuen uns, dass wir mit der vorliegenden Aufnahme eine der ganz wenigen Aufführungen dieses Werkes zugänglich machen können.

Während also Woods Stück hinsichtlich Instrumentarium bereits große Hürden bietet, liegen die Schwierigkeiten bei Ferneyhough und Cage an ganz anderen Stellen. Allein die technischen Ansprüche im Klarinettenpart von La Chute d’Icare sind horrend. Man höre dazu die ersten paar Sekunden, in denen die Klarinette wilde Auf- und Ab-Bewegungen vollzieht, die auf der Partitur visuell quasi als Flügelschläge gesehen werden können. Ferneyhough hatte beim Komponieren das Ölgemälde von Pieter Bruegel dem Älteren vor Augen: Landschaft mit dem Sturz des Ikarus (1555–68), ein opulentes Bild, auf dem das zentrale Motiv, nämlich der Sturz des Ikarus, kaum zu sehen ist. Diese Episode wiederum ist zwar eine bekannte, wenn auch nur kleine Geschichte aus den Metamorphosen Ovids. Ferneyhoughs Partituren werden meist mit dem Begriff »komplexe Musik« in Verbindung gebracht – diese etwas simple Zuschreibung (oder auch: dieses Vorurteil) könnte sich darauf beziehen, dass viele Noten pro Seite in unvorhersehbaren Verhältnissen zueinander stünden. Ferneyhough begegnet dieser Aussage zu Recht mit dem Hinweis, dass jede Musik ihre ganz eigene Art von Komplexität aufweist, und es gehe ihm denn auch weniger um die absolute Präzision oder Exaktheit der Wiedergabe (dazu gäbe es ja heute Apparaturen), als um Wiedergabetreue in einem durchaus übergeordneten, auch spirituellen Sinne (vgl. dazu: Brian Ferneyhough, Collected Writings, 1996). Zu seinem Stück, das ursprünglich als Kleine Serenade des Verschwindens (Little Serenade of Disappearance) überschrieben war, meint Ferneyhough: »Die ursprüngliche Motivation für diese Kleine Serenade des Verschwindens entstammt dem berühmten Gemälde Landschaft mit dem Sturz des Ikarus von Bruegel. Nebst den leuchtenden Bildern ländlicher Fruchtbarkeit beeindruckte mich am meisten die ergreifende Diskrepanz zwischen dem Titel und der komplett inkonsequenten Rolle, die dem bezeichneten und dargestellten Ereignis zukommt. Wie in vielen anderen Bildern der Epoche dient Letzteres als Vorwand für einen wahrhaftigen Strudel von Bildern und Referenzen, die darin ein eigenes Leben annehmen.«

Bei Cages Werk Ryoanji wiederum liegen die Dinge nochmals ganz anders, denn es verlangt von den Musikern eine völlig unübliche Haltung zu klassischen Parametern wie etwa Präzision, Ansprache oder Interaktion mit dem Dirigenten. Das für das Ensemble vorgeschriebene sogenannte »koreanische Unisono« bedeutet, dass die Spielenden innerhalb eines kurzen Zeitrahmens den Anfangszeitpunkt ihrer Töne selbst wählen können. Sie sind also nicht alle exakt auf dem Puls, sondern individuell verschoben. In der unvorhersehbaren Art (und auch unkomponierbaren Weise, wollte man das präzise festhalten) solchermaßen diffuser und fließender Akzente liegt ein besonderer Reiz dieser Komposition. Der Dirigent schlägt dabei ausschließlich Viertelnoten. Cage schreibt in der Partitur unter anderem: “The conductor’s function will be to keep the beat in the air, so to speak, not to bring it down to earth. These tempo deviations should be micro-rhythmic. […] Each player may make any instrumental sound or aggregate of sounds. Having made a choice, he will repeat his sounds faithfully throughout a single rehearsal or performance as though he had become a percussion instrument.” Wir haben also extrem stabile und sehr volatile Elemente gleichzeitig vor uns. Und dass die Solistin – im vorliegenden Fall an der Flöte – angewiesen ist, quasi nicht-solistisch zu interpretieren, trägt zum Effekt bei, dass Ryoanji nicht nur als »Programmmusik« in Anlehnung an japanische Steingärten aufgefasst werden kann, sondern auch als eindrückliche Alternative zu herkömmlichen westlichen Spielweisen.

Allen drei hier versammelten Kompositionen ist gemeinsam, dass sie auf Grundlage visueller Werke entstanden sind: Bei Cage sind es Umrisse existierender Steine, bei Ferneyhough ist es Pieter Bruegel der Ältere (wobei Zweifel an dieser Urheberschaft bestehen), und Wood bezieht sich auf Paul Klees Kupferstich Zwei Männer, einander in höherer Stellung vermutend, begegnen sich (1903; vgl. dazu auch den Text von Wood zu seinem Werk unten). Dieser Zugang ist ganz im Sinne der Schwerpunkte der Hochschule der Künste Bern, die seit vielen Jahren spartenübergreifende Projekte aller Art fördert und ermöglicht. Deshalb geht an dieser Stelle unser Dank auch an die beteiligten Institutionen, welche die Aufnahmen möglich gemacht haben: das Nouvel Ensemble Contemporain, das Zentrum Paul Klee, das Yehudi Menuhin Forum Bern und das Schweizerische Museum für elektronische Musikinstrumente in Fribourg.

Peter Kraut
Stv. Leiter Musik, Hochschule der Künste Bern

James Wood: Two men meet, each presuming the other to be from a distant planet (1995)

JAMES WOOD: »Als ich das erste Mal über ein Konzert für Schlagzeug nachdachte, war mir der ›Kulturkampf‹, der diesem Gedanken innewohnte, unmittelbar bewusst. Während das Schlagzeug eine historische, fast archaische musikalische Tradition verkörpern würde, sollte das moderne ›Hi-Tech‹-Orchester den Fortschritt, die anspruchsvolle Welt der ›hohen Kunst‹ repräsentieren. Die eloquente und elaborierte rhythmische Sprache des Schlagzeugers sollte – so der erste Gedanke – eine absolut andere Welt bewohnen als die an Melodien, Harmonien und Farben reiche Musik des Orchesters.

Es wäre einfach gewesen, sich auf diesen Kulturkampf als einzige Idee für das Werk zu verlassen, ich war aber entschlossen, einen Weg zu finden, um diese zwei gegensätzlichen Kräfte zu verbinden, in ein zusammenhängendes musikalisches Werk zu integrieren. Diese Herausforderung beschäftigte mich über Jahre, bevor ich überhaupt die Möglichkeit hatte, das Konzert zu schreiben. Als sich schließlich die Gelegenheit ergab, erinnerte ich mich plötzlich an den frühen und äußerst ironischen Kupferstich von Paul Klee mit dem Titel Zwei Männer, einander in höherer Stellung vermutend, begegnen sich. Der Kupferstich stellt zwei abgemagerte Gestalten dar, die sich tief voreinander verbeugen und sich dabei argwöhnisch anblicken. Indem ich den Titel umdrehte in Two men meet, each presuming the other to be from a distant planet wird Klees Satire weitergedacht – jeder meiner zwei Männer fühlt sich dem Anderen überlegen, aber zugleich von ihm bedroht; dennoch wünschen sie sich, eine gemeinsame Sprache zu finden, in der sie kommunizieren können.

Ich erkannte schließlich, dass die Lösung des ›Integrations-Problems‹ in den Instrumenten selbst lag. Ich musste dafür sorgen, dass jeder ›Spieler‹ ein gleichwertiges Blatt auf der Hand hatte – die Instrumentation von Schlagzeug und Ensemble musste in ihren dynamischen Möglichkeiten gut zueinander passen und alle Ausdrucksmöglichkeiten in den Bereichen Rhythmus, Melodie, Harmonie und Klangfarbe zulassen.

Deshalb habe ich mich beim Schlagzeug für drei Sets von Instrumenten entschieden: 13 Holztrommeln, 37 Kuhglocken (die einen Umfang von etwa zwei Oktaven abdecken, einschließlich einiger Vierteltöne) und vier ›Microxyls‹ (mikrotonale Xylophone). Die wuchtigen, sonoren Klänge der Holztrommeln entsprechen der kraftvollen Bläsergruppe (sieben Holz- und fünf Blechbläser), während die subtileren Harmonien, Melodien, Mikrotontriller und Klangfarben von acht Streichern, Harfe, Vibraphon und zwei elektronischen Keyboards gut zu den Kuhglocken und ›Microxyls‹ passen. Das Werk ist einsätzig und hat die Form eines dramatischen Dialoges zwischen Schlagzeug und Ensemble. Es gibt in diesem Dialog jedoch klar unterscheidbare Phasen oder Abschnitte, die fast ›klassisch‹ angelegt sind. Im rhetorischen Austausch von Grüßen in der Einleitung gibt der Schlagzeuger sich und die Kultur, die er repräsentiert, klar zu erkennen, wenn er seine Stimme benutzt, um eine Art ›rhythmisches Solfeggio‹ zu artikulieren, das an alte Trommelsprachen erinnert. Danach könnte man die Hauptabschnitte wie folgt beschreiben: ›Exposition‹, ›Scherzo‹, ›Versöhnung‹ (eine ausgeweitete Serie von zögerlichen ›Fragen‹ des Schlagzeugers und ›Antworten‹ einzelner Solisten aus dem Ensemble), ›Rekapitulation‹, ›Tanz‹ und ›Coda‹.«

Two men meet… war eine Auftragsarbeit der BBC für die 1995 stattfindenden Promenade Concerts und wurde von Steven Schick und der Critical Band am 11. September 1995 unter der Leitung des Komponisten in der Royal Albert Hall (London) uraufgeführt.

BRIAN ARCHINAL: »James Wood ist ein ›Renaissance Man‹. Nicht nur aufgrund seiner historischen Perspektive (er hat die Praxis des modernen Schlagzeugs maßgeblich beeinflusst) und seiner einfallsreichen Anwendung dieser historischen Perspektive im modernen musikalischen Vokabular, sondern auch aufgrund seiner Fähigkeiten als Schreiner.

Der Schlagzeugsolist spielt ein Set, das aus drei verschiedenen Instrumentenfamilien besteht, von denen zwei aus Holz sind, das dritte ist eine Reihe gestimmter Kuhglocken. Diese Instrumente und ihr jeweiliges Befestigungs-Equipment wurden von James entworfen und gebaut. Die Ständer und Rahmen für die Kuhglocken wurden aus zweckentfremdeten Schlaginstrumenten konstruiert. Der Aufwand, sie zu bauen, sollte nicht unterschätzt werden: Mindestens vier Monate brauchte er allein für die Trommeln, die trotz ihrer unterschiedlichen Tiefen und Durchmesser alle perfekt auf einer Ebene liegen – eine Herausforderung für jeden Schreiner.

Die erste Gruppe von Instrumenten sind 13 hölzerne Trommeln, von denen einige mit einem feinen Stoff überzogen sind, was ihnen ihren runden, tiefen und warmen Charakter verleiht. Es ist nicht einfach, perfekt runde Kreise aus Holz zu schneiden, um sie als Trommelfelle zu verwenden. Die Rahmen der Trommeln wurden ebenfalls akribisch aus mehreren Lagen von gebogenem Holz gefertigt, was nicht nur hohe Schreinerkünste, sondern auch einiges an Geduld erfordert. Die Stimmung der Trommeln ergibt sich aus ihrer Größe und der Dicke des hölzernen Fells. Musikalisch gesprochen, sind die Melodien oder ›Sprach‹-Patterns, die der Schlagzeuger spielt, teilweise aus der Mikrostimmung der Trommeln und den mikrorhythmischen Variationen entwickelt. James hat die Gelegenheit genutzt, sogar eigene Schlägel herzustellen. Eine besondere Herausforderung des Stücks ist es, die jeweils richtigen Schlägel zu wählen. Es geht dabei nicht einfach darum, einen guten Klang auf jedem Instrument zu finden. Die Herausforderung besteht darin, dass der Charakter der Trommelmusik zu dem des Instrumentalensembles passen muss.

Mein Lieblingsinstrument, das Microxyl – oder mikrotonales Xylophon, wie es James nennt – ist eine Art Xylophon mit knapp 160 Stäben pro Oktave. Es wird nicht wie ein normales Xylophon geschlagen, sondern ›gerieben‹. Der Schlagzeuger reibt entlang der Stäbe, was zu einer Reihe langsamer Glissandi und dem Eindruck einer unendlichen musikalischen Linie führt. Mitunter werden diese Glissandi von den Synthesizern oder dem Ensemble verdoppelt, und so werden verschiedene formale und dramaturgische Ideen transportiert. Die Spieltechniken ähneln den Bewegungen, die ein Schlagzeuger sonst auf Stabspielen machen würde, wirken aber trotzdem fremd. Dieses Prinzip zieht sich für den Schlagzeuger durch das ganze Stück hindurch.

Der Schlagzeugpart wirkt als eine Art Kommunikation zwischen Ensemble und Solist. Die Trommeln sind in einer spezifischen nicht-westlichen Stimmung gehalten, und genau diese mikrotonale Stimmung ist die Sprache des Solisten. Die rhythmischen Schwierigkeiten haben ebenfalls mit diesen kleinsten Variationen zu tun. Es ist, als ob James eine rhythmische Struktur durch eine Lupe betrachtete, um einige winzige Details hervorzuheben. Es gleicht einer Erforschung rhythmischer Linien, manchmal mit drei gleichzeitig sich bewegenden Stimmen. Die Kuhglocken sind ebenfalls auf verschiedene Vierteltöne gestimmt – Noten zwischen den Tonhöhen der westlichen Skala –, um dieselben Eindrücke hervorzurufen, wenngleich mit brillanterem Klang.«

 

John Cage: Ryoanji (1983–1985)

Im Jahre 1983 begann John Cage eine fortlaufende Reihe von Kompositionen mit dem Titel Ryonaji, in Anlehnung an den Steingarten in Kyoto, Japan. Dieser Garten ist eine Sammlung aus 15 Steinen, die auf geharktem weißen Sand angeordnet sind. Im Sommer 1983 begann Cage eine Serie von Zeichnungen, basierend auf den Umrissen dieser 15 Steine, mit dem Titel Where R=Ryoanji. Zur selben Zeit bat der Oboist James Ostryniec Cage, eine Komposition für ihn zu schreiben, was zu einer Serie von Stücken mit dem Titel Royanji führte. Zwischen 1983 und 1985 kamen vier weitere Stücke dazu: für Stimme, Flöte, Kontrabass und Posaune […] Diese Solostimmen (in beliebiger Kombination oder als Solostück) werden immer durch einen Schlagzeugpart oder ein Ensemble von 20 MusikerInnen begleitet. Jede Serie besteht aus acht »Liedern«, mit Ausnahme der Version für Stimme mit deren neun. Ein »Lied« findet Platz auf zwei Seiten, beide mit jeweils zwei rechteckigen Systemen versehen. In jedem dieser Systeme dokumentierte Cage Spuren der Umfänge der gegebenen Steine nach. Diese Linien ergeben Glissandi innerhalb eines vorgegebenen Tonraums. An manchen Stellen überlappen sich die Linien, so dass sie unspielbar werden. In diesen Fällen können vorproduzierte Aufnahmen zum Einsatz kommen, welche dann mit dem Solisten ein Duo oder Trio bilden. Der Schlagzeugpart ist ein einzelner Komplex mit zwei unspezifischen Holz- und Metallklängen, die unisono gespielt werden. Die metrische Einteilung ist dabei auf 12, 13, 14 oder 15 festgelegt. Die zwanzig Mitglieder des Ensembles wählen je einen einzigen bestimmten Ton, den sie während des ganzen Stücks verwenden. Die Klänge sollen im »koreanischem Einklang« gespielt werden – das heißt, die Einsätze sind nicht präzise zusammen, sondern nur ungefähr. Die Ensemblestimmen bestehen (gleich der Schlagzeugstimme) aus einer Abfolge von Viertelnoten, welche (bei jedem Instrument anders) kurz vor oder nach dem Schlag, oder aber mehr oder weniger auf den Schlag gespielt werden sollen. Die Solistin/der Solist repräsentiert dabei die Steine des Gartens, während die Begleitung für den geharkten Sand steht.

Widmungsträger: Joelle Léandre (Kontrabass und Ensemble), Robert Aitkin (Flöte), James Fulkerson (Posaune), Isabelle Ganz (Stimme), Michael Pugliese (Perkussion)

Quelle: johncage.org (Zugriff am 27.8.2018)
Übersetzung: Edition Peters/Peter Kraut

Brian Ferneyhough: La Chute d’Icare (1988)

Die ursprüngliche Motivation für diese Kleine Serenade des Verschwindens entstammt dem berühmten Gemälde Landschaft mit dem Sturz des Ikarus von Bruegel. Nebst den leuchtenden Bildern ländlicher Fruchtbarkeit beeindruckte mich am meisten die ergreifende Diskrepanz zwischen dem Titel und der komplett inkonsequenten Rolle, die dem dargestellten Ereignis zukommt. Wie in vielen anderen Bildern der Epoche, dient Letzteres als Vorwand für einen wahrhaftigen Strudel von Bildern und Referenzen, die darin ein eigenes Leben annehmen. Deshalb versucht dieses Stück weniger, eine heldenhaft tragische Reflektion des zugrunde liegenden Mythos zu sein, als vielmehr eine Transkription der seltsamen Anmutung des »Es-war-schon«, was Bruegel meisterhaft darstellt mit einer Welt, die gelassen ihre eigenen Angelegenheiten verfolgt und die beiden winzigen Beine vergisst, die pathetisch aus dem Wasser heraus winken, während die einzige Spur eines apokalyptischen Ereignisses ein paar Federn sind, die trostlos im Gefolge ihres einstigen Besitzers untergehen.

Zwei Aspekte dieser Lage werden deutlich in der Komposition reflektiert, ohne dabei illustrative Funktionen vorzugeben. (1) Das musikalische Material des Beginns explodiert und ist bereits voll geformt, seine Entstehungsprozesse hinter sich lassend, als fiktive Autobiographie. (2) Eine graduelle Erosion dieser klar skizzierten, repetitiven Substanz führt zur einer Serie von Tableaus, die erst in den Lücken des zunehmend zerschlissenen Ursprungsmaterials erkennbar werden.

La Chute d’Icare for obbligato clarinet and small ensemble wurde von der Gulbenkian Stiftung Lissabon in Auftrag gegeben und erlebte die Uraufführung beim Strasbourg Festival 1988 durch Armand Angster und das Het Nieuw Ensemble, Amsterdam.

Brian Ferneyhough (Quelle: Edition Peters)
Übersetzung: Peter Kraut

Programm:

James Wood (*1953)
[01] Two men meet, each presuming the other to be from a distant planet (1995) 21:49
A concerto for percussionist and twenty-four instruments

Brian Archinal, percussion
Ensemble VERTIGO der Hochschule der Künste Bern
Lennart Dohms, conductor

John Cage (1912–1992)
[02] Ryoanji (1983–1985) 13:12
For any solo from or combination of voice, flute, oboe, trombone, double bass ad libitum with tape, and obbligato percussionist or any 20 instruments

Livia Schönbächler, flute
Ensemble VERTIGO der Hochschule der Künste Bern
Lennart Dohms, conductor

Brian Ferneyhough (*1943)
[03] La Chute d’Icare (1988) 11:33
For solo clarinet and chamber ensemble

Shuyue Zhao, clarinet
Ensemble VERTIGO der Hochschule der Künste Bern
Nouvel Ensemble Contemporain
Lennart Dohms, conductor

total playing time: 46:37

Pressestimmen:

Unter der Überschrift „KREATIV“ schrieb Cécile Olshausen von SRF 2 Kultur in der „Kulturtipp“-Ausgabe 05/19:

Die Schweizer Musikhochschulen tragen mit ihrer Top-Ausbildung im Bereich der zeitgenössischen Musik dazu bei, dass sich viele junge Ensembles mit kreativen Konzepten formieren. Ein Hörerlebnis sind diese Aufnahmen mit Kompositionen aus den 80ern und 90ern. Das Ensemble Vertigo (Studierende
der Hochschule der Künste Bern) und das Nouvel Ensemble Contemporain aus La Chaux-de-Fonds spielen Wood, Cage und Ferneyhough.

(siehe auch www.kultur-tipp.ch)

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