Laurie Altman: Sonic Migrations

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Artikelnummer: NEOS 11614-15 Kategorie:
Veröffentlicht am: Februar 4, 2017

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KLANGWANDERUNGEN

Die Kompositionen von Sonic Migrations stellen gewissermaßen einen Streifzug dar: einen Streifzug durch Orte (weltweit), durch die Geschichte und besondere Ereignisse, durch Worte, Klanglandschaften, das Leben und die wechselseitigen Gefühle von Menschen. Die Stücke sind ein Nebenprodukt aus 25 Jahren Erfahrung, die verschiedene Ensembles und Klangräume, weit verstreute Einflüsse, Texturen und Emotionen umschließen.

CD1 beginnt mit den Five Variations (1994), die aus Rachmaninows Klaviersonate op. 35 hergeleitet sind. Ich beginne sie mit einem einfachen Gedanken: Wenn diese Noten und musikalischen Themen meine eigenen wären, anstatt von Rachmaninow, wo würden sie mich hinführen, und was für Gestalten würden diese Ausdrucksweisen annehmen?

Mit Through the Cracks (2015) für Klarinette und Klavier wird der Versuch unternommen, Wege hinein in das und heraus aus dem zu finden, was mit musikalischen Kompositionen gesucht wird, was sie verkörpern, wie sie sich auflösen, wie sie gesteuert werden. Die beiden Instrumente sind durchgehend in einen einheitlichen, hochverdichteten und präzisen Dialog verwickelt.

No Hay Olvido (Sonata) / There is No Forgetting (1994) für Sopran, Flöte und Gitarre beruht auf dem gleichnamigen Gedicht des chilenischen Dichters Pablo Neruda. Das Gedicht stellt in seinem Verlauf reichhaltige akustische Informationen zur Verfügung und ermöglicht damit eine Musik der Übergänge, plötzlichen Rückungen und Neubeginn; ein lyrischer Unterbau mit vielen überstürzt verwinkelten Kanten.

Filaments (2004) für zwei Klaviere ist in vielerlei Hinsicht ein ausgelassenes Tanzstück, das zu Beginn zwischen lateinamerikanischen und jazzigen Rhythmen wechselt und zur Mitte hin in einen entspannt gestimmten Abschnitt überführt, bevor das Feuer wieder entfacht wird. Ursprünglich war Filaments ein Werk für zwei Klaviere zu acht Händen. Mein lieber Freund, der Komponist und Pianist Randy Bauer, entwickelte die neue Fassung für zwei Klaviere zu vier Händen, die auf dieser CD zu hören ist.

Die großartige Sonate für Klavier und Violine in G-Dur von Johannes Brahms diente mir als Inspiration für Brahms Takes (2012), eine Erforschung, Weiterentwicklung und musikalische Neuorganisation des klanglichen Gehalts hin zu einem radikal andersartigen musikalischen und instrumentalen Gefüge. Der thematische Inhalt des Brahms’schen Werks wird verwandelt, hinzugefügt oder entfernt, um Interaktionen und Kommentare an einzigartigen und verschiedenen Stellen zu ermöglichen.

Die erste CD endet mit Selfless Gifts (2012) für Sopransaxophon und Klavier, einem indirekten Kommentar zu Aaron Coplands Simple Gifts-Thema. In dessen Struktur sind zwei improvisatorische Abschnitte eingelassen, die als Brücken zu weiterführenden Inhalten wie auch als Wiederaufnahmen dienen.

CD 2 beginnt mit der Piano Sonata # 7 (2011), die durch eine Reise nach Tansania, die meine Frau Jeannine Hummel und ich im selben Jahr unternommen hatten, angeregt wurde. Der ursprüngliche Impetus erwächst aus dem Trommeln mit der Hand und den Fingern, im Versuch, den perkussiven Charakter direkt auf das Klavier zu übertragen, ganz besonders im ersten Satz. Der zweite Satz, »Legacy«, ist ein Kommentar zu Afrikas Vergangenheit – das ausbeutende und räuberische Verhalten, das von verschiedenen fremden Nationen ausgeübt wurde – von Eindringlingen, die so viel von dieser Kultur verachtet und zerstört haben: ihre Weisheit und Wahrheit, ihre Schönheit und Lebendigkeit. Der vierte Satz beginnt mit einem Volkslied aus Tansania, von zwei Mitgliedern des Hazda-Stammes am Lagerfeuer gesungen: Zwei Sänger lassen ihre Worte im nächtlichen Sternenhimmel und in der stets bewegenden Tierwelt widerhallen.

Laments of the Homeless Women (1992) für Sopran, Klarinette und Klavier basiert auf einem wunderbaren Gedicht des amerikanischen Dichters David Sten Herrstrom. Das Gedicht verwebt auf großartige Weise Herrstroms Worte mit denen einzelner Frauen zu einem universellen Kommentar über eine Welt, die sie sich nicht zwingend ausgesucht haben, aber in der sie leben – eine Welt von eigener Form und Struktur.

Sonic Drifts (2014) ist ein Stück für SABRE (Sensor Augmented Bass Clarinet Research): eine einzigartige Erfindung des Komponisten und Klarinettisten Matthias Mueller dank seiner tiefgreifenden Erkenntnisse und Vorstellungen (siehe dazu Matthias Muellers Erklärungen zu diesem Instrument). Am Anfang des Stücks stand ein Werk für eine gewöhnliche Bassklarinette, aufgrund dessen Matthias und ich ein klangliches Umfeld für den Inhalt der Komposition fanden, das ungewöhnliche und einzigartige Klangvisionen und Klangreize zutage förderte – eine Abkehr von der Musik auf dem Papier, hin zu klanglichen Manifestationen und Kommentaren des Inhalts, wie er in der ursprünglichen Erfahrung nicht gegeben war.

Shirakawa River Song (2015) für Streichquartett kam mir während des morgendlichen Laufens entlang des Flusses Shirakawa in der japanischen Stadt Kanazawa in den Sinn. Die natürlichen Elemente des Lichts, die Vogelrufe, das Fließen des Wassers, die Tai-Chi praktizierenden Menschen: Diese Klarheit und Frische des Morgens wird von den Streichern gezeichnet und von den Orten, wohin und wodurch das Stück sie trägt.

Die Ten Miniatures for Piano (2009) folgten unmittelbar auf die Klaviersonaten Nr. 5, 6 und 7 – lange, intensive und programmatische Werke voller Energie und Emotion. Mein Ziel war ein in sich geschlossener, hochpräziser und klar bestimmter Charakter für jedes der Stücke, die mit geringen Unterbrechungen ausgeführt werden: eine Abfolge musikalischer Pinselstriche, Flecken und Farben, die schnell, unmittelbar, in abweichender Stimmung etwas aussprechen und dabei auf ausgiebige Strukturbildung und Entwicklung des Inhalts verzichten.

Abschließend möchte ich zum Ausdruck bringen, welch großer Segen und unbezahlbares Geschenk es für mich ist, dass meine Musik von so vielen inspirierten, schöpferischen und einzigartigen musikalischen Individualisten so hervorragend aufgeführt wird. Indem sie sich in die musikalische Welt des Komponisten begaben, trugen alle durch ihre Interpretationen und kreativen Beiträge zur Weiterentwicklung des Werkes bei, wie ich es mir nicht besser hätte erhoffen und wünschen können: Meine persönlichen Vorstellungen wurden brillant umgesetzt! Vielen Dank Euch allen!

Nicht minder wertvoll ist für mich die Mitwirkung des Teams von NEOS, das mit seiner Arbeit ein wesentlich unterstützendes Element für meine schöpferischen Bemühungen einbringt und ausmacht. Wulf, Brigitte und Dominik – ich kann nicht genug betonen, wie großartig Euer Einsatz für mein Werk und für viele andere Komponisten ist, denen in all den Jahren Euer Engagement zugute gekommen ist. Meinen tiefsten Dank an Euch.

Laurie Altman
Übersetzung aus dem Englischen: Bernd Künzig

Programm:

Sonic Migrations
Music of Laurie Altman

 

CD 1
total playing time: 57:04

[01] Five Variations on Rachmaninoff for piano (1994) 12:46
Clipper Erickson, piano

[02] Through the Cracks for clarinet and piano (2015) 04:47
Matthias Mueller, clarinet · Clipper Erickson, piano

[03] No Hay Olvido (Sonata) for soprano, flute and guitar (1994) 12:21
On the poem by Pablo Neruda
Patrice Michaels, soprano
Cavatina Duo (Eugenia Moliner, flute · Denis Azabagic, guitar)

[04] Filaments for two pianos (2004), re-imagined by Randy Bauer 07:04
Randy Bauer and Kuang-Hao Huang, pianos

Brahms Takes for clarinet and string quartet (2012) 13:40
[05] 05:55
[06] 03:16
[07] 04:29
Matthias Mueller, clarinet
Manhattan String Quartet
(Curtis Macomber & Calvin Wiersma, violins · John Dexter, viola · Christopher Finckel, cello)
Jeannine Hummel as the voice of Clara Schumann

[08] Selfless Gifts for soprano saxophone and piano (2012) 06:29
Andrew Rathbun, soprano saxophone
Laurie Altman, piano

 

CD 2
total playing time: 72:26

Piano Sonata # 7 “Tanzania” (2011) 27:36
[01] I Drumming I 05:05
[02] II Legacy 08:52
[03] III Drumming II 03:29
[04] IV Song Dance 10:10
Clipper Erickson, piano

Laments of the Homeless Women for soprano, clarinet and piano (1992) 15:07
On a poem by David Sten Herrstrom
[05] I Saint Escalator 03:02
[06] II Today I Shall Collect a Look 03:35
[07] III Condemned 03:05
[08] IV Inside Things 01:59
[09] V A Sidewalk Life 03:25
Patrice Michaels, soprano
John Bruce Yeh, clarinet
Kuang-Hao Huang, piano

[10] Sonic Drifts for Sensor Augmented Bass Clarinet (2014) 09:03
Matthias Mueller, Sensor Augmented Bass Clarinet (SABRE)

[11] Shirakawa River Song for string quartet (2015) 07:24
Manhattan String Quartet

[12] Ten Miniatures for Piano (2009) 13:16
Kuang-Hao Huang, piano

Pressestimmen:

 

Juni 2017

Konzentration auf das Wesentliche
Kammermusik-Neuerscheinungen im Dunstkreis von Jazz, Renaissance und Anton Webern

[…]
Wer Kompositionen mit Jazzeinflüssen mag, aber nicht billiges Crossover, ist bei Laurie Altman bestens aufgehoben. Unter dem Titel „Sonic Migrations“ gibt NEOS hier einen umfangreichen Überblick über das vielseitige Schaffen des New Yorker Komponisten und Jazzpianisten, der seit einigen Jahren in der Schweiz lebt. Klaviermusik und kleinere Kammermusikstücke wie „Through the Cracks“ für Klarinette und Klavier (2015), „Filaments“ für zwei Klaviere (2004) oder „Selfless Gifts“ für Saxofon und Klavier (2012) zeigen melodisch, harmonisch und rhythmisch intensive Nähe zum Jazz, manchmal auch lateinamerikanische Elemente. Von afrikanischer Musik inspiriert wurde die raumgreifende, anspruchsvolle Klaviersonate Nr. 7 „Tanzania“ (2011), die nicht nur auf dortige Trommelmusik zurückgeht, sondern auch ethnische Gesänge integriert. Altman hegt aber auch deutliche Vorlieben für die europäische Musiktradition in Stücken, die kompositorisches Material von Ikonen der Romantik umformen, fortschreiben, weiterdenken: Die „Five Variations on Rachmaninoff“ für Klavier (1994) trüben dessen Klaviersonate op. 35 allmählich dissonant ein; durchaus kitschige Züge können Assimilierung und Transformation in den „Brahms Takes“ für Klarinette und Streichquartett (2012) annehmen, die sich auf Brahms populäre Sonate für Klavier und Violine G-Dur bezieht.
[…]

Dirk Wieschollek

 

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