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Marcus Antonius Wesselmann: ensemble works I

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Artikelnummer: NEOS 11507 Kategorien: ,
Veröffentlicht am: April 8, 2015

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KONSTRUIERTES CHAOS
Ensemblewerke von Marcus Antonius Wesselmann

»Wer sich nicht in Gefahr begibt, kommt darin um.« So das Motto, das Marcus Wesselmann seinem NONETT voranstellte – ein augenzwinkernder Hinweis auf das irrwitzige, kaum zu realisierende Tempo, das – lakonisch mit »512 bpm« angegeben – den Musikern eigentlich nur die riskante »Flucht nach vorne« lässt. So prescht das Stück von der ersten Sekunde an voran, als gäbe es kein Morgen mehr. Auch wenn nicht alle seine Werke solches »Gefahrenpotential« bereithalten, liegt in diesem Beginn durchaus Typisches für Wesselmanns Musik: etwa die Kompromisslosigkeit und die nüchterne Konsequenz, mit der er sich kompositorisch immer wieder in komplexeste Strukturierungen und scheinbar chaotisch ausufernde Prozesse stürzt, ebenso aber auch die unmittelbare, zuweilen harte und aggressive Klanglichkeit seiner Werke, die keinen Raum lassen möchten für eine sich dem Hörer aufdrängende Emotionalität oder Geborgenheit im Wohlbekannten.

Mit meist jazztypischen Besetzungen, entsprechender Harmonik und einer zwar irregulären und vertrackten, letztendlich aber auf durchgängigen Impulsrastern fußenden Rhythmik scheint Wesselmann gleichzeitig alles daranzusetzen, sich von den nicht selten zum Klischee erstarrten, akademisch wirkenden Klangbildern der »Neuen Musik« fernzuhalten. Dabei gründet auch seine Musik auf strukturellen Vorordnungen, auf einer komplexen, vom Hörer nicht zu entschlüsselnden aber latent wahrnehmbaren Organisation des Materials, wie man sie in ähnlichem Ausmaß von der seriellen Musik kennt. Die Spannung zwischen strenger Konstruktion und scheinbar chaotisch-desorganisierten Strukturen ist – als eines der zentralen ästhetischen Motive in Wesselmanns Schaffen – stets spürbar.

Grundlegend ist für ihn vor allem die Idee, sowohl formale Entwicklungen als auch die kompositorische Integration einzelner musikalischer Parameter (wie Tonhöhen, Tondauern, Dynamik) sowie harmonische Konstellationen, Ereignisdichten, Instrumentierungen und zuweilen sogar Spieltechniken über vorab definierte Zahlenformeln oder Binärcode-Reihen, die permutiert oder kombinatorisch weiterentwickelt werden, zu steuern. Immer wieder greift Wesselmann auf repetitive, jeweils geringfügig variierte »Pattern« zurück, die in der Wiederholung und Überlagerung vexierbildähnliche Zustände suggerieren. Das alles lässt an die Minimal Music bzw. die repetitive Musik denken, auch wenn Wesselmann im Unterschied zu dieser auf Vorgänge abzielt, die eben nicht-linear verlaufen und an ihren Kulminationspunkten in unvorhersehbare strukturelle Muster umschlagen können.

Während solche Prozesse im NONETT kaum einzeln nachzuvollziehen sind, da sie simultan geschichtet, als konkurrierende und sich gegenseitig beeinflussende musikalische Ebenen über- und gegeneinander gestellt werden, treten sie in den sieben Sätzen des SEPTETTS geradezu beispielhaft hervor. Titel und Besetzungsgröße liefern hier mit der Zahl 7 eine Vorgabe, aus der fast alles abgeleitet wird. So setzen im 1. Satz (AUFbau), der als nicht-lineares Instrumentationscrescendo konzipiert ist, die sieben Instrumente nacheinander ein, wobei die sieben zunächst »unbesetzten« Achtelpositionen des Taktes sukzessive mit jeder weiteren hinzutretenden Stimme von hinten nach vorne »aufgefüllt« werden. Kurz vor Schluss schlägt alles in eine akkordisch geprägte Struktur um, die in den 2. Satz (ABgesang) mündet. Dieser ist umgekehrt als auskomponiertes »Decrescendo« angelegt, ausgehend von sieben Akkorden bis hin zu sieben Pausen im letzten der insgesamt 128 Durchgänge des zugrunde liegenden 7er-Rasters.

Während im 3. Satz (scherzo, lento) harmonische Verschiebungen und Klangfarbenänderungen über eine ostinate Bewegung im Klavierbass gesteuert werden (mit jeder Pendelbewegung im Bass tritt ein neues Ereignis in der darüber liegenden akkordischen Struktur ein), bildet der Ensembleklang im 4. Satz, relief (quasi rondo), durch abschnittsweises harmonisches Hin-und-her-Pendeln sowie ostinate Akkordketten mit stimmenweise ausdifferenzierter Dynamik scheinbar plastische »harmonische Reliefs« heraus. Inspiriert wurde dieser Satz auch von den changierenden Klangfarben in Schönbergs Orchesterstück op. 16,3. Auf dessen Titel Farben (Sommermorgen am See) und den Umstand, dass sein eigenes Werk jeder romantischen Färbung entbehrt, spielt Wesselmann mit dem Untertitel sommerabend an einer umgehungsstraße an.

Im 5. Satz, spaltung (lamento), wird ein 7-töniges Modell nach und nach »aufgespalten«, indem sich immer weitere Töne aus einer auf und ab bewegenden Tonskala lösen und auf ihrer Tonhöhe liegen bleiben, was schließlich zur akkordischen Schichtung der anfangs melodischen Skala führt. Genau umgekehrt der 6. Satz (kette bilden)!: An einen siebenfach wiederholten Akkord schließen sich mit jedem Takt weitere Töne an, sodass die akkordische Struktur zunehmend in melodische Pattern übergeht. Verschleierung (oder: das schweigen des sängers) ist der 7. Satz betitelt, der sich als eine Art Gesangsbegleitung zu einer imaginierten Gesangsstimme verstehen lässt. Neben dem Prozess einer abnehmenden Ereignisdichte prägt diesen Satz die Idee der Verdeckung musikalischer Strukturen, die hier durch die Überlagerung mehrerer verschiedenartiger formgebender Prinzipien in einer Art Materialmultiplikation realisiert wird.

Das OKTETT, das älteste Stück dieser CD, war konzeptioneller Ausgangspunkt für alle folgenden Solo- und Ensemblewerke. Mathematisches Kalkül generiert auch hier eine komplex verschachtelte formale Anlage. Nacheinander werden verschiedene musikalische Bausteine eingeführt, die sich durch eigene satztechnische Charakteristika auszeichnen und deren Dauer im Verlauf des Stücks jeweils exponentiell zunimmt. Bevor ein neues Strukturmodell erklingt, werden jeweils alle bis dahin verwendeten Modelle in kombinatorisch weiterentwickelter Form zwischengeschaltet – eine von innen heraus betriebene Expansion der Form, die das Stück wie aus einer Keimzelle scheinbar ins Unendliche wuchern lässt. Zum Ende hin kippt dieser Prozess um und es erscheinen alle Modelle einmal in umgekehrter Reihenfolge.

Dem jüngsten Werk der CD, dem SEXTETT, legte Wesselmann eine Art Materialfolie zugrunde, die – im Kern bestehend aus einer Akkordfolge und einer einfachen, in sich kreisenden Melodie – zwar auf abstrakter Ebene für das gesamte Stück Geltung hat, jedoch erst nach und nach und in unterschiedlichsten Ausprägungen und Färbungen klanglich aufscheint. Für die ständige Variation und Umfärbung des Materials sorgen nicht nur die einander überlagerten, sich wegen ihrer unterschiedlichen »Periodenlängen« zueinander verschiebenden Strukturen, sondern auch die streng geregelte Instrumentierung der einzelnen Sektionen, wobei jede Instrumentenkombination nur genau ein Mal im Stück auftritt. Je mehr Instrumente zusammenspielen, desto länger ist nicht nur der jeweilige formale Abschnitt, sondern desto klarer tritt auch das Grundmaterial des Stücks hervor. Die dafür notwendigen Filterungsprozesse steuert Wesselmann auch hier über eine strikt angewandte Binärcode-Kombinatorik, die zwar im Untergrund beinahe alles akribisch regelt, dem Stück aber keineswegs seine erstaunliche, beinahe »musikantische« Spiellaune nimmt.

Andreas Günther

Programm:

NONETT -512 bpm- (1998) 12:46

[01] nonett 11:08
[02] lamento  01:38

Lutz Koppetsch, soprano saxophone · Matthias Stich, baritone saxophone
Sava Stoianov, trumpet · Uwe Dierksen, trombone
Jürgen Kruse, electric organ · Ueli Wiget, piano · Mats Bergström, electric guitar
Christopher Brandt, electric bass · Rumi Ogawa, drum set

SEPTETT (2001) 23:16

[03] No. 1 AUFbau 02:44
[04] No. 2 Abgesang 02:15
[05] No. 3 scherzo, lento 03:10
[06] No. 4 relief, quasi rondo 07:42
(sommerabend an einer umgehungsstraße summer evening by a beltway)
[07] No. 5 spaltung splitting (lamento) 01:11
[08] No. 6 kette bilden! form a chain! 03:34
[09] No. 7 verschleierung (oder: das schweigen des sängers) 02:40
concealment (or: the silence of the singer)

Lutz Koppetsch, alto saxophone · Matthias Stich, baritone saxophone
Sava Stoianov, trumpet · Uwe Dierksen, trombone · Ueli Wiget, piano
Mats Bergström, electric guitar · Christopher Brandt, electric bass

[10] SEXTETT (2006) 10:32

Nina Janßen, clarinet · Rafal Zambrzycki-Payne, violin
Axel Bouchaux, double bass · Vladimir Blagojevic, accordion
Christopher Brandt, banjo · Rumi Ogawa, drum set

11 OKTETT (1995) 18:30

Nina Janssen, alto saxophone · Lutz Koppetsch, tenor saxophone
Sava Stoianov, trumpet · Uwe Dierksen, trombone
Ueli Wiget, piano · Mats Bergström, electric guitar
Christopher Brandt, electric bass · Rumi Ogawa, drum set

total playing time: 65:12

Ensemble Modern
Franck Ollu
 conductor

 

 

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