Martin Herchenröder (*1961)
Programm:
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»BLEIBEN IST NIRGENDS«
Musik für Flöte und Saiten von Martin Herchenröder
Mit The Tempest für Flöte und Gitarre (1992) ein »imaginäres Theater nach William Shakespeare« in die Mitte dieser CD zu stellen, strahlt markant auf die schöpferische Identität Martin Herchenröders zurück. Darin zeigt sich zum einen seine tiefe Verwurzelung in der europäischen Kulturgeschichte, die sich auch in profunder Schulung an der Musiktradition niederschlägt, und zum anderen seine Offenheit für literarische Inspirationsquellen, die er in autonome Klänge transformiert.
Herchenröder schuf in dem viersätzigen Werk vielschichtige Klanggebilde, worin vor allem atmosphärische Dimensionen aufscheinen – die Natur als auratische Umhüllung des Geschehens in Shakespeares Der Sturm, aber auch seelische und emotionale Aufwallungen, die in herben Instrumentalgesten auskristallisieren. »Zart bewegt und sehr frei« lautet die Vortragsanweisung für den kurzen ersten Satz (»Music of the Island«), der visionär an ein von allen menschlichen Belangen losgelöstes Ambiente gemahnt. Demgegenüber hält der zweite Satz (»Caliban’s Revolution«) der menschlichen Existenz den Spiegel vor, bevor sich jenseits von Raum und Zeit das »Inselreich« erneut in Erinnerung ruft und im vierten Satz die Welt der Geister und der Menschen traumentrückte Verbindungen eingehen.
Wie ein Nachwort zu The Tempest mutet Greek Blessing für Gitarre (2013) an, das mit komplexen Akkorden und melodischen Anklängen noch einmal die Gefilde Shakespeares heraufbeschwört – doch auch um sie zu versiegeln und das Fenster zu neuen Klängen aufzustoßen.
In Terzattacke für Flöte (2009) betritt Herchenröder ein ganz anderes Terrain, denn diesem und weiteren Stücken liegen keine literarischen Bezugspunkte zugrunde, sondern abstrakte Phänomene oder flüchtige Eindrücke, die sich bei ihm einbrennen, ihn berühren und seine Klangfantasie beflügeln. »Winkelmusik I« lautet der Untertitel von Terzattacke, und in der Tat windet sich die Flöte winkelförmig vorwärts, lotet Ecken und Kanten aus, rundet und weitet sich, taucht episodenhaft ins Elegische ein, um sich im nächsten Moment wieder zu verengen und um sich selbst zu drehen.
»Aufgewühlt« und »geisterhaft«
Dagegen geleitet »Winkelmusik II«, ebenfalls für Flöte solo, in den Sekundenschlaf (2013), der vor dem geistigen Auge durch einen bizarren Parcours wechselnder Stimmungen und Reizzustände führt. Prägnante Reizzustände entfaltet auch Orion für Violoncello und Orgel (2018), worin Martin Herchenröder bei der Aufnahme im Mai 2021 in der Nikolaikirche in Siegen selbst als Organist mitwirkte. Die Orgel ist »sein« Instrument und nimmt in seinem musikalischen Denken und Komponieren eine wichtige Rolle ein – als experimenteller Klangkörper, aber auch wegen ihrer großen Beziehungsvielfalt und ihrer, so Herchenröder, »weit in die Musikgeschichte hineinragenden semantischen Aura«. Orion entstand für das Internationale Orgelfestival Göteborg, das kosmische Aspekte der Orgel fokussierte. Herchenröder formulierte, zwischen »aufgewühlt« und »geisterhaft«, eine Reise in den Kosmos, die im übertragenen Sinn einen Lebensweg bis zum Tod mit Phasen des Aufbegehrens und der Kontemplation skizziert – bis zum ersterbenden Schluss, der zugleich die Himmelfahrt und den Absturz in die Tiefe symbolisiert.
In Waves (2022) kombinierte Herchenröder die Orgel mit Flöte, und auch dieses Werk lässt an eine »Reise« denken, in der sich das lyrische Subjekt jedoch nicht in kosmische Regionen, sondern mit extremen Ausdrucksgegensätzen in Bezirke des Traumhaften, Skurrilen und Unbewussten vortastet.
Zwar sind Orion und Waves als größere Bögen angelegt, ihre Expressionskraft leitet sich aber auch und vor allem aus der Fülle kontrastierender Details ab. Und dies verweist auf ein zentrales Merkmal von Martin Herchenröders Musik, in der das Verletzliche, Angreifbare, Zersplitterte und Bruchstückhafte wesentlich sind. In einem dichten Beziehungsnetz zusammengehalten werden diese Elemente von der existenziellen Frage nach der Vergänglichkeit des Lebens, nach Werden und Vergehen. Zum Schlüsselbegriff gerieten für ihn in diesem Kontext die Worte »Denn Bleiben ist nirgends« aus Rainer Maria Rilkes 1922 vollendeten Duineser Elegien. Er fasst diese Worte als Metapher für Musik auf, sie deuten aber zugleich darüber hinaus und lenken den Blick auf eine Grundpolarität in der Wahrnehmung von Klängen: »Musik als Klang ist«, so Herchenröder, »immer weg, nur ein winziger Bruchteil ist in der Gegenwart markiert und danach schon wieder fort. Sie ist flüchtig im Augenblick des Entstehens. Im Gegenzug heißt komponieren aber, etwas zu erschaffen, das als Ganzes den Anspruch erhebt, ein Objekt zu sein, wir sprechen ja von einer musikalischen Form. Wir erleben Musik zwischen Erinnerung und Erwartung, als das Driften der Zeit als Folge von disparaten, unwiederholbar vergangenen Augenblicken. Aber trotzdem hängt alles mit allem zusammen.«
Nähe und Ferne
Dieser produktive Zwiespalt ist für Martin Herchenröder essenziell und treibt ihn an, nach einer Musik von »seltsamer, fremder, beziehungsreicher Schönheit« zu streben, »die sich dem rein intellektuellen Zugang entzieht und dennoch – oder vielleicht gerade deshalb – gedanklich trägt«. Besonders eindringlich zur Geltung kommt dieses Streben in Werken, in denen der fragmentarische Charakter zum kompositorischen Grundprinzip erhoben ist. Dazu zählen auch Rubaiyat für Flöte und Klavier (2020) und Poems and Variations, sein 1. Streichquartett (2001 / 2006), die den Reigen dieser CD-Aufnahmen, die alles Ersteinspielungen sind, eröffnen und abschließen.
Der Titel Rubaiyat ist der Bezeichnung für eine persische Gedichtform mit einem bestimmten Reimschema (a-a-b-a) entlehnt, was Herchenröder in der Anordnung der Sätze reflektiert haben mag. Die Sätze 2, 3 und 4 sprechen vage emotionale Belange an, wobei die »letzten Sicherheiten« im 2. Satz – wie die subtilen Erschütterungen der Inside-Klänge des Klaviers unmissverständlich anzeigen – alles andere als sicher sind. Der 1. Satz indes zielt mit bohrenden Reibungsflächen zwischen wühlendem Klavierpart und irrlichternden Flötenfiguren auf die Sehnsüchte des Menschen angesichts der Unbegreiflichkeit der Gestirne, während der 5. Satz einen Epilog darstellt, der »mit geheimer Unruhe« den Faden reflexiver Betrachtungen fortspinnt.
Die Poems and Variations knüpfen indirekt an diesen Faden an und entfachen ihrerseits ein Spiel mit Nähe und Ferne, das aus der musikalischen Struktur selbst resultiert. »Anmutig« Nähe zu sich selbst sucht die erste Violine im Kopfsatz, die sich in solistischer Einsamkeit von zarten gestischen Regungen bis zu latenten tänzerischen Assoziationen steigert. Aber »Bleiben ist nirgends« schwebt wie ein Menetekel über diesem Streichquartett, dessen 2. Satz wie ein unheilvolles Omen gelesen werden kann, dem die »dämonische Energie« im 3. Satz auf dem Fuße folgt. Nach zwei Anläufen scheint der Spuk vorbei, doch er verwandelt sich in ein ins Extreme abstrahiertes Lamento, das mehr die Transzendenz der Klage als die Klage selbst repräsentiert. Unablässig setzt sich die Entwicklung fort; »nichts kommt«, wie Martin Herchenröder erläutert, »in dieser Fragmentform so wieder, wie es einmal gewesen ist. Wiederholung ist unmöglich, die Musik kehrt nie zum Ausgangspunkt zurück.« Gleichwohl schlägt der 6. Satz – mit der als Referenz an Gustav Mahler gemeinten Überschrift »wie ein Naturlaut« – am Beginn motivisch den Bogen zum Kopfsatz und geht dann andere Wege, auf denen Tonrepetitionen in spezifischen Konstellationen im aleatorischen Kontrapunkt übereinandergeschichtet sind. »Feierlich und gemessen« klingen die Poems and Variations aus, »morendo im vierfachen Pianissimo«, und dennoch ist diese Musik in der Vorstellung des Komponisten nicht zu Ende, sondern als kleiner Ausschnitt prozesshaft auf ein imaginäres Größeres gerichtet, das nicht selbst erklingt. »Es soll vielmehr«, so Martin Herchenröder, »im Kopf der Hörenden erwachsen, sobald die Klänge verstummen.«
Egbert Hiller
Programm:
Rubaiyat für Flöten und Klavier (2020) 14:40
[01] Sterne und Menschen für Carin Levine 02:42
[02] Letzte Sicherheiten für Navid Kermani 02:56
[03] Gemischte Gefühle für Rainer Berger 01:20
[04] Undeutliche Botschaften 03:25
[05] Nachbeben 04:17
[06] Terzattacke für Flöte(2009) für Michel Sauer 05:04
[07] Waves für Flöte und Orgel (2022) für Carin Levine 11:08
The Tempest Imaginäres Theater nach William Shakespeare 16:18
für Flöte und Gitarre(1992)
[08] Music of the Island 00:51
[09] Caliban’s Revolution 06:44
[10] Music of the Island 01:22
[11] Ariel (spriting gently) 07:21
[12] Greek Blessing für Gitarre (2013) für Nicholas Goluses 01:35
[13] Sekundenschlaf für Altflöte (2013) für Michel Sauer 02:42
[14] Orion für Violoncello und Orgel (2018) für Friedrich Gauwerky 09:10
Poems and Variations 1. Streichquartett (2001 / 2006) für das Arditti Quartet 17:06
[15] Anmutig 02:41
[16] Sehr langsam 01:09
[17] Kraftvoll, mit dämonischer Energie 03:16
[18] Entrückt 01:38
[19] Unruhig und heftig 02:20
[20] Geheimnisvoll; “wie ein Naturlaut” 02:55
[21] Feierlich und gemessen 03:07
Gesamtspielzeit: 78:23
Friedrich Gauwerky, Violoncello
Martin Herchenröder, Orgel & Klavier
Carin Levine, Flöten
Jürgen Ruck, Gitarre
Kuss Quartett (Jana Kuss, 1. Violine · Oliver Wille, 2. Violine · William Coleman, Viola · Mikayel Hakhnazaryan, Violoncello)
World premiere recordings