Infotext:
CANTIQUE »Ich erinnere mich, dass ich an einem Sommerabend, vor langer Zeit, Le Promontoire du songe, Editions Gallimard, 2012
Der junge Victor Hugo sieht durch das Fernrohr des leistungsstarken Pariser Teleskops, sieht nur ins Schwarze und glaubt, nichts als ein »Loch im Dunkel« zu sehen. Doch er sieht den Mond. Sein Blick verirrt sich in den flackernden Schatten des »Promontorium Somnii«, des Vorgebirges des Traums. Wenn sie durch ihre eigenen Teleskope schauen, wenn sie die Landschaften ihrer eigenen Träume erforschen, dann suchen die Erfinder von Klang, Malerei, Geschichten, Düften, Mechanismen, aber auch die Leser, Schauspieler, das Publikum, die Ökonomen, die Politiker und wir selbst alle den Augenblick, den glücklichen Moment, ihn dem uns eine neue Idee kommen wird. Wir sind alle auf der Suche nach Inspiration. CANTIQUE ist der erste Teil einer aus drei CDs bestehenden Serie. Diese Serie ist Werken gewidmet, die durch Bilder von Schweizer Malern inspiriert sind. Das Projekt möchte damit auf subtile Weise »den Horizont des Hörers« erweitern: Er wird eingeladen zu einer Reise durch ein imaginäres Land, in dem drei Komponisten – deren Ästhetik höchst unterschiedlich ist – einander zu betrachten, miteinander zu sprechen scheinen. Das Gewebe ihrer jeweiligen kulturellen Referenzsysteme wird kompatibel. Wie in einem seltsamen Traum entsteht vor unseren »Augen« eine Landschaft aus Klangfarben, ein Märchen, das aus flüchtigen Spiegelungen, Erinnerungen und überraschenden Atmosphären besteht. Die drei Komponisten: Max Reger, der katholische Organist aus Bayern, der angesichts der Gräuel des Ersten Weltkriegs schreibt und seinen Stil gefunden hat; Ernest Bloch, ein junger Genfer Musiker, der in seinen jüdischen Wurzeln noch nach dem eigenen Ton sucht; und der ein Jahrhundert jüngere Andreas Pflüger, ein Agnostiker aus Basel, mit einem schlanken Stil und einem wenig konventionellen Werdegang, erfahren als Komponist von Opern und Filmmusik. Alle drei verbindet die Liebe zur Malerei, zum Symbol, und alle drei beschäftigen sich dazu mit antiken Texten und Sagen und mit dem Übernatürlichen. Seit 2006 arbeiten wir intensiv mit Andreas Pflüger zusammen. Ende 2013 habe ich ihm den Auftrag gegeben, ein Violoncello-Konzert für die junge Cellistin Estelle Revaz zu schreiben. Wir sind sehr schnell auf die Idee gekommen, dass jeder einzelne Satz dieses Werkes ein »Bild« sein sollte. Der Komponist erklärt dazu: »Diese sechs Bilder haben mich beim Schreiben von Pitture stark inspiriert: La Confiture aux péchés von Louis Soutter ist eine dunkle, enigmatische Zeichnung, die eine gewisse Verbindung zu Skt.Adolf-Broggahr-Chatzli-Stok und Skt.Adolf-Krohn-Printzen von Adolf Wölfli hat und Spuren von Schizophrenie entdecken lässt. Die durchsichtige Palette impressionistischer Töne von Giovanni Segantinis Amor am Lebensbrunnen evoziert eine metaphorische Atmosphäre von lyrischer Raffinesse, deren Gegenstück sich in der Szene mit Spaziergängern und einem Karussell auf Carl Pflüger-Gotsteins In den langen Erlen findet. Zwei kontrastierende Sätze stehen am Ende des Konzerts: Insula Dulcamara von Paul Klee ist eine zauberhafte Vision voller Humor, in Felice Filippinis La caduta della ballerina führt der unmittelbar bevorstehende Tod in eine zwanghafte Raserei.« Nachdem er die Vier Tondichtungen nach Arnold Böcklin gehört hatte, sagte Richard Strauss zu Max Reger: »Reger, noch einen Schritt, und Sie sind bei uns«. Und Reger antwortete ihm: »Ja, lieber Strauss, den Schritt tue ich eben nicht«. Die Form der »Böcklin-Suite« weist, etwas altertümelnd, das traditionelle Schema Andante–Allegro–Andante–Allegro auf. Im ersten Satz, Der geigende Eremit, steht die solistische Violine einem doppelten Streichorchester antiphonal gegenüber, wodurch eine introspektive, mystische Atmosphäre entsteht. Die Nereïden erregen in Im Spiel der WellenDie Toteninsel ist von einer dunklen, beunruhigenden Kraft erfüllt und scheint die Zweichörigkeit des ersten Satzes noch zu steigern, während Bacchanal, ein Bild, das oft als ein »deutscher Biergarten im Alten Rom« bezeichnet wird, mit einem großen, eindringlichen Crescendo an die rhythmische Kraft des Scherzos erinnert. Ernest Bloch schreibt selbst den Programmtext zu einer Aufführung seines Werkes Schelomo 1933 in Rom. Er erklärt darin die Umstände und die Inspirationsquelle, die am Anfang der Komposition standen: […] »Hier die Entstehungsgeschichte von ›Schelomo‹: Ende 1915 war ich in Genf. Jahrelang hatte ich versucht, eine Vertonung des ›Buches Kohelet‹ zu schreiben, aber ich konnte mich weder mit der französischen noch mit der deutschen oder englischen Übersetzung so recht anfreunden, und meine Kenntnisse des Hebräischen waren nicht ausreichend. Viele Skizzen hatten sich angehäuft, aber mein Projekt war eingeschlafen. Eines Tages traf ich den Cellisten Alexandre Barjanski. […] Ich schöpfte wieder Hoffnung und begann, über die Komposition eines neuen Werkes für diesen wunderbaren Musiker nachzudenken. Warum eigentlich nicht auf mein Material zum ›Buch Kohelet‹ und die biblische Bilderwelt zurückgreifen und dabei die Deklamation nicht der menschlichen Stimme, sondern vielmehr dem tiefen Klang des Violoncellos anvertrauen, das ›alle Sprachen sprechen‹ kann? Ich suchte also meine Entwürfe zusammen und machte mich wieder an die Arbeit. Zugleich arbeitete Frau Barjanski an der Herstellung einer Statuette, die sie für mich entworfen hatte. Zuerst hatte sie geplant, eine Christusfigur für mich zu gestalten, doch letztlich hatte sie sich für einen König David entschieden. Nach einigen Wochen waren ihre Statuette und mein neues ›Buch Kohelet‹ fertig. Weil das Buch traditionell Salomo zugeschrieben wird, gab ich meinem Werk den Titel ›Schelomo‹.« Ohne es wirklich zu bemerken, sind wir in eine Art künstlerischer Suche nach dem geraten, was man als den »Transfer von Inspirationsmaterial« bezeichnen könnte. Woraus besteht Inspiration? Wie kann eine Kunstform eine andere inspirieren, wie kann Farbe zu Klang werden? Oder, technischer ausgedrückt: Was ist die Bedeutung eines Klangs und durch welche Magie wandert er durch den Raum? Und bei der Aufnahme und beim Gespräch über die Werke, die wir hier vorstellen: Ist es möglich, sich eine neue Art von Gleichgewicht zwischen dem Solisten und dem Orchester vorzustellen, die sich einer tatsächlichen Konzertaufführung von Schelomo annähert? Wie kann eine relativ kleine symphonische Besetzung die reichhaltige Dynamik von Reger wiedergeben? Welche Perspektiven gibt es für ein neues »Konzert in sechs Bildern« für Violoncello und Orchester? CANTIQUE ist das Ergebnis einer im Jahr 2013 begonnenen künstlerischen Zusammenarbeit mit der jungen Schweizer Cellistin Estelle Revaz und dem Orchestre Musique des Lumières. Das Programm wurde auf einer Tournee in Basel, Delémont (Delsberg), Genf und La Chaux-de-Fonds gespielt – wo die vorliegende Einspielung in Koproduktion mit RTS SRF 2 Kultur und NEOS entstand. Diese CD gibt keine Antworten. Sie schlägt vielmehr dem Hörer vor, durch neue Teleskope zu schauen. Facundo Agudin
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Programm:
Max Reger (1873–1916) [01] I Der geigende Eremit 07:21
Ernest Bloch (1880–1959)
Andreas Pflüger (*1941) [04] I Confiture aux péchés 03:19
Max Reger (1873–1916) [10] III Die Toteninsel 07:38
total playing time: 70:55
Estelle Revaz cello |
Pressestimmen:
Coopération, semaine du 1er décembre 2015
Le 24 Heures, 7.-8. novembre 2015
Sortir, Octobre 2015
25 septembre 2015
La Liberté, 5 décembre 2015
La Revue Musicale de Suisse Romande, Septembre 2015
Le Nouvelliste, 17 août 2015
Scènes Magazine, Novembre 2015
Le Nouvelliste, 17 septembre 2015
L’Hebdo, Semaine du 5 novembre 2015
Television Suisse RTS, 12 octobre 2015 Radio RTS, 09 octobre 2015 Radio allemande WDR, 28 septembre 2015 Radio RTS, 08 septembre 2015 Radio Cité Genève , 26 octobre 2015 France Musique, 14 novembre 2015 Télévision Suisse RTS, janvier 2016 France Musique, 9 avril 2016
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