Michael Quell: Chamber Music – Vol. 2

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Artikelnummer: NEOS 11904 Kategorie:
Veröffentlicht am: Mai 4, 2019

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MUSIK IM SPANNUNGSFELD VON PHYSIS UND OU-TOPOS
DAS VISIONÄRE ALS KOMPOSITORISCHES PRINZIP

Den »Galgenbruder« bezeichnet Christian Morgenstern als »beneidenswerte Zwischenstufe zwischen Mensch und Universum«. An diesen Unort zwischen den Welten ruft uns die Musik Michael Quells. In φαντασία – lass die Moleküle rasen (2016) für Sopran und sprechenden Pianisten etwa vertont er eines der Galgenlieder mit dem Aufruf: »Lass die Moleküle rasen […], heilig halte die Ekstasen!« – eine Ekstase aber, die eher schon dem Moment gleicht, an dem im Club nach stundenlanger Jagd nach dem Ekstatischen das Licht angeht und die aus dem Paradies vertriebenen Warriors of Joy sich in die fragenden Augen schauen, während in den Körpern noch die Moleküle rasen.

Dieser ekstatische Querstand von Stasis und Explosion, von Fantasie und Materialität, mikro- und makrologischem Register stellt die Triebfeder dar, die das Werk des Komponisten konfiguriert. Michael Quell öffnet einen Raum, der gleichsam von Musik, Transzendenz, Überaktivität, Zeitlosigkeit, physikalischen und metaphysischen Substanzen bewohnt wird.

Eröffnen wir die Betrachtung mit dem ersten Titel der CD, Dark Matter (2011) für Oboe, Klarinette (Bassklarinette) und Fagott. Die Trio d’anches-Besetzung (Rohrblatt-Trio-Besetzung) hat eine durchaus ambivalente Stellung in der zeitgenössischen Musik inne, da die einzelnen Instrumente in ihren klanglichen Möglichkeiten zwar sehr weit erforscht wurden – man denke etwa an den Reichtum multiphoner Spieltechniken –, sie wurden aber bisher in dieser Formation erstaunlicherweise wenig ausgeschöpft. Hier zeigt sich eine erste Besonderheit, die sich durch alle Kompositionen Quells zieht: Die Verwendung erweiterter Spieltechniken ist nicht äußerlich, sondern geht von den Instrumenten in ihrer Relation zur kompositorischen Substanz, der Formierung der musikalischen Bewegung aus. Im Falle von Dark Matter gibt ein Impuls der Oboe als Setzung das »Ur-Material« vor, das sich schon im auskomponierten Nachklang im Inneren differenziert. Wenn dieser Prozess in seiner Radikalisierung plötzlich umkippt und wir uns in einer von Grund auf anderen Welt multiphoner, intern bewegter Klangflächen wiederfinden, in der die Zeit stillsteht, ist das keine vordergründige Wendung, keine Leichtfertigkeit gegenüber der musikalischen Form. Es ist vielmehr der Effekt eines formalen Prinzips, das selbst ganz bewusst im Hintergrund, im Verborgenen bleibt – ähnlich dem titelgebenden Motiv der dunklen Materie, einer wissenschaftlichen Hypothese, die selbst (aktuell noch) nicht empirisch nachweisbar ist, deren Annahme aber notwendig ist, um beobachtbare Phänomene des Universums zu erklären.

Das führt uns zu Quells Werktiteln und -ideen und dem damit verbundenen formalen Aspekt seines Œuvres. Die aus der Praxis des Instruments kommende mikroskopische high-resolution Definierung jedes einzelnen, noch so leisen Klangs scheint in Opposition zu stehen zur kosmischen, transzendentalen Dimension der Werktitel, die meist Figuren aus der Naturwissenschaft, insbesondere der (Astro-)Physik wie auch der Philosophie und Theologie entnommen sind. Diese Bezüge sind keineswegs etwa äußerlich, sondern kristallisieren in der konkreten Werkstruktur und deren innerer Dynamik. Musikalische Autonomie zeigt sich gerade an ihrer Fähigkeit, das ihr scheinbar Äußere in ihren Prozess aufzunehmen.

Für Meister Eckhart und Suhrawardī: der Klang der Schwinge des Gabriel – ḥikmat al-ishrāq (2017) arbeitete Quell mit von dem Gitarristen Tolgahan Çoğulu entwickelten mikrotonalen Gitarren, die nicht nur Skordatur vorsehen, sondern bei denen unter jeder Saite eine Schiene liegt, mit deren Hilfe Bundstäbchen auf jeder Saite individuell verschoben werden können – Mikrotonalität ist, das dürfte nicht überraschen, ohnehin eine zentrale Koordinate im Komponieren Quells. Die ursprünglich zur Realisation von Maqams (nicht-temperierten Modi aus der orientalischen Musik) konzipierten Instrumente verwendet Quell im Kontext zeitgenössischer Musik, um die Gitarre nicht nur viertel-und achteltönig einzusetzen, was mit Skordatur gut machbar wäre, sondern sie in Sechsteltonsystemen und weitergehenden spektralen Klangwelten zu verwenden. Dieses spezifische mikrotonale Potential findet seine beispielhafte Entfaltung in einer spektralen Klangsinfonie über dem Ton Kontra-Es im Mittelteil der Komposition. Das Werk ist angeregt durch den im 12. Jahrhundert wirkenden Philosophen Suhrawardī, insbesondere die Spannung zwischen seinem philosophischen Ḥikmat al-ishrāq (Philosophie der Erleuchtung) und dem scheinbar entgegengesetzten mystisch-allegorischen Āvāz-i par-i Djabra’īl (Der Klang der Schwinge des Gabriel), die sich in der Ambivalenz von linearer und zyklischer Zeit, von »Statik und Dynamik, Struktur und Strukturauflösung sowie Zeit und Zeitlosigkeit« (Quell) in der Werkstruktur artikuliert. Das Abschreiten eines völlig neuen Klangkosmos in der Klangsinfonie des Mittelteils korrespondiert mit der von Suhrawardī entwickelten Vorstellung eines zusätzlichen inneren Sinns zwischen Kognition und Intuition, den er »aktive Imagination« und später »das Land des Nirgendwo« nennt. Dieser Nicht-Ort, der Ou-Topos, ist der Fluchtpunkt der energetischen Spannung zwischen mikrologischer Artikulation des einzelnen Klangs und grenzenloser Öffnung – das Transzendierende formuliert Modalitäten eines im herkömmlichen Erfahrungshorizont Unmöglichen, über das Gegebene hinausgehenden. Quell nennt es den »Nirgendwo-Ort, für den die Überschreitung des sinnlich Erfahrbaren in der Physik steht, das den bekannten Welthorizont transzendiert, für das es nur ein Gespür gibt. Dahin möchte ich mit irgendeiner Sonde vordringen, ich habe aber dann in dem Moment noch nicht die Formelsprache, wie der Mathematiker, sondern ich muss die jeweiligen Instrumente erst suchen.«

Das ist weniger verwunderlich, als es auf den ersten Blick scheint. Slavoj Žižek macht auf die konstitutiven erfüllten Leerstellen der exakten Wissenschaft aufmerksam, wenn etwa Newton, um die Beschleunigung empirischer Gegenstände zu berechnen, von der idealen Situation eines absoluten Vakuums ausgehen musste, die wir in der Realität nie vorfinden. »Die moderne Wissenschaft muss also von einem Unmöglich-Realen ausgehen, um das Mögliche zu erklären«. (Žižek)

Und haben wir es bei Michael Quell nicht mit genau dieser Konstellation zu tun? Die artikulierten musikalischen Gestalten scheinen einem strukturalen Kern zu folgen, der aber selbst verborgen bleibt, während die Konsequenzen seiner Annahme wahrgenommen werden. Diese Annahme wird in charakteristischen musikalischen Setzungen aktiv. Das schon benannte Motiv eines »reinen Urtons« setzt nicht nur in Dark Matter, sondern auch in Meister Eckhart und A Blurring Cloud die musikalische Entwicklung in Gang. In String II – Graviton (2015/16) für Nonett scheint sich musikalisch das Gegenteil zu vollziehen, die Entwicklung geht von einem unbestimmten rauschenden »Uratem« (Quell) aus, der sich im Verlauf zum klaren Ton formt. Beide Ansätze aber – vom Einzelton zur Ausdifferenzierung / vom Rauschen zum Einzelton – basieren auf einem im Hintergrund wirkenden Prinzip, das aber nie im Vordergrund in Erscheinung tritt und dadurch den enigmatischen Charakter, das Visionäre ermöglicht. Dafür stehen besonders die formalen Umschläge, in denen z. B. in Dark Matter und insbesondere in A Blurring Cloud in einem Mittelteil die Zeit zum Stehen kommt oder wie in Staubaggregation an dessen Ende zu zerfließen scheint. In diesen entscheidenden Momenten verläuft Form nicht etwa als einfacher linearer Prozess, sondern das »Umwinkeln« der Form an einem verborgenen Angelpunkt öffnet »immer wieder neue Klanguniversen multipler energetischer Prozesse«. (Quell)

Diese Konstellation wird thematisch in der Komposition A Blurring Cloud – Geschöpfe der Fahrt (2012), die sich an einem Zitat von Botho Strauß entzündet: »Denn nur Geschöpfe der Fahrt sind wir und unsere Gestalt ist Fluktuation, zerrauschene Wolke«. Die Fluktuation setzt sich musikalisch auf allen Ebenen fraktal um, auf der Mikroebene als Bewegung zwischen der Ausbreitung fixierten Materials und der stetigen Transformation desselben in allen Registern, auf der Makroebene durch ein ständiges Umschwenken der formalen Perspektive, sodass das Stück uns von einer musikalischen Welt in die nächste stürzt, ohne dass die Übergänge als Brüche auftreten. Die Frage, was hier eigentlich passiert, tritt erst auf, wenn es bereits passiert ist. Musikalische Form ist eben kein Behälter, den wir mit Tönen füllen, sondern ebendiese Passage zwischen den Sphären und A Blurring Cloud – Geschöpfe der Fahrt, das komponierte Manifest dieser Fluktuation. Der Begriff des Manifests widerspricht natürlich Quells formalem Ansatz, der gerade nicht in der Manifestation eines greifbaren Prinzips besteht, sondern – im Gegenteil – in dessen Entzug und gleichzeitiger Transzendierung. Ob in Dark Matter, in Staubaggregation oder in A Blurring Cloud – Geschöpfe der Fahrt, die musikalische Dynamik folgt keinem vorher fixierten und etwa nur noch schlicht abgearbeiteten Bauplan, sondern vollzieht sich in dessen Transzendierung, die sich in jeder musikalischen Gestalt neu artikuliert. Ein solches Manifest kann deshalb nur Musik sein.

Jim Igor Kallenberg

Programm:

[01] Dark Matter für Oboe, Klarinette (Bassklarinette) und Fagott (2011) 13:09

[02] φαντασία – lass die Moleküle rasen für Sopran und sprechenden Pianisten(2016) 06:28

[03] Meister Eckhart und Suhrawardī: der Klang der Schwinge des Gabriel – ḥikmat al-ishrāq für vier mikrotonale Gitarren und Klavier (2017) 11:34
Auftragswerk des Ensemble Hezarfen, Tolgahan Çoğulu und Jürgen Ruck mit der Unterstützung des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD)

[04] Staubaggregation für Flöte, Kontrabass und Klavier (2017) 11:51

[05] A Blurring Cloud – Geschöpfe der Fahrt für Violine, Gitarre und Klavier (2012) 16:45
Auftragswerk des Barlow Endowment for Music Composition at Brigham Young University

[06] String II – Graviton für Ensemble in Nonett-Besetzung (Flöte, zwei Klarinetten / Bassklarinetten, Fagott, Horn, Violine, Viola, Violoncello, Kontrabass) (2015/2016) 11:15
Auftragswerk der Wigmore Hall (London) und dem Ensemble Modern mit der Unterstützung von André Hoffmann, Präsident der Fondation Hoffmann, Schweiz

Gesamtspielzeit: 71:37

Ensemble Aventure
Nataša Marić, Flöten
Alexander Ott, Oboe
Andrea Nagy, Klarinette
Nicola Miorada / Walter Ifrim [01], Klarinette/ Bassklarinette
Wolfgang Rüdiger, Fagott
Delphine Gauthier-Guiche, Horn
Friedemann Treiber, Violine
Sylvie Altenburger, Viola
Beverley Ellis, Violoncello
Johannes Nied, Kontrabass
Akiko Okabe, Klavier

Gäste:
Christine Simolka, Sopran
Jürgen Ruck / Raphael Ophaus / Moritz Beck / Martin Dressler, Gitarren
Eduard Hausauer, Klavier-Assistent
Hermann Beyer, Dirigent [03]

 

World premiere recordings

Pressestimmen:

165 / Mai 2020

Beckmesser’s Choice
Ausgewählte Scheiben neuer Musik

Phantastische Bildwelten
[…] So wird der Hörer mitgenommen auf eine Fahrt in ein Reich der freien Assoziationen und phantastischer Bildwelten. Quells elaborierte Strukturen lassen kleine Dramen aufploppen und bilden überraschende Volten. In „φαντασία – lass die Moleküle rasen“ nach Morgenstern, das sich zunächst im Schatten des Klassikers, Berios „Sequenza III“, bewegt, wird die akrobatische Stimme von Christine Simolka am Schluss mit feiner Ironie zum Duett verdoppelt. […] Philosophische Spekulation und konkreter Klang stehen sich in diesen Stücken nicht beziehungslos gegenüber. Es sind Gegensätze, die einander bedingen.

Max Nyffeler
www.musiktexte.de

 

Dezember 2019

(…) Quells Meisterschaft liegt darin, musikalisch erzählen zu können, dramaturgische Abfolgen zu gestalten, in zusammenhängenden Strukturen zu denken, ohne sich einer billigen Sanglichkeit hinzugeben. (Tilman Urbach)

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