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DAS ENIGMATISCHE ALS PHILOSOPHISCH-ÄSTHETISCHE KATEGORIE UND TRIEBFEDER DES KÜNSTLERISCHEN SCHAFFENS »Es ist das Geheimnisvolle, das Enigmatische und das im tiefsten Innern Unergründliche von Wirklichkeit, das mich seit jeher fasziniert und damit das Bedürfnis, das Unsagbare zu ahnen, dem Entfernten, dem ou-topos Gegenwart verleihen zu wollen, gleichsam als Triebfeder ent-grenzter musikalischer Fantasie.« Die Welt, betrachtet als eine Art großes Rätsel, in das der Mensch mit den Instrumenten der Wissenschaft immer tiefer einzudringen bestrebt ist und bei dem sich hinter jeder einzelnen Erkenntnis sogleich wieder ein ganzes Kompendium neuer fesselnder Fragen und Rätsel auftut – so etwa lässt sich die Weltsicht Michael Quells beschreiben. Diese wird unmittelbar zur Triebfeder seines künstlerischen Schaffens, das stark von der Suche nach dem Existentiellen geprägt ist. Für den Komponisten spielt naturwissenschaftliches Denken, insbesondere die spezifische Weltsicht der Physik, eine tragende Rolle. In dem Drang, »über das eben noch Denkbare, Begehbare hinauszugehen«, liegt für Quell das visionäre, utopische Moment, das sein Denken und Schaffen antreibt. Beständig ist er auf der Suche nach den Instrumenten, mit denen er in diese neuen Welten eindringen, sie minutiös, ja detailversessen ausgestalten kann. Wer Quells Musik zuhört, lässt sich darauf ein, in solch unbekannte Welten entführt zu werden; darauf, dass sich gänzlich neue Räume auftun: Wahrnehmungsräume, Klangräume, Strukturräume, Hyperräume, Weltenräume. Der Komponist kreiert faszinierende Klangwelten mit komplex interagierender Werkstruktur, bei welcher die strukturgebenden Prinzipien bewusst im Verborgenen gehalten werden, deren Resultate aber an der Oberfläche klar erkennbar sind. So wird die »Welt der Erscheinung der Dinge« konkret und differenziert ausgestaltet. Jedes Werk nimmt eigene unerwartete Wendungen und dringt in vorher nicht erahnte Räume vor. Im Nachhinein fügen sich die gehörten Werkteile zu einem kohärenten Ganzen, das sich als multipler Kosmos zu erkennen gibt. In den Interdependenzen (1998) sind diese Momente in philosophisch-ästhetischer Hinsicht angelegt und kommen auch in der musikalischen Gestaltung zum Tragen – gerade im Nebeneinander neuartiger und klanglich äußerst diverser Abschnitte. Quell zitiert den Physiker und Philosophen Peter Eisenhardt: »Wirklichkeit ist Wechselwirkung, sie ist überhaupt nur, insofern sie auf einen Beobachter eine Wirkung ausübt und von diesem Beobachter eine Wirkung erleidet.« Mit der Besetzung des Werkes prallen Welten aufeinander: Gitarre und Schlagzeug haben eine je eigene, signifikant andersartige historisch angelagerte Aura. Am Anfang des Werkes scheinen die Instrumente sich von Konnotationen und historischem Ballast befreien zu wollen. Weite Passagen der Gitarrenstimme sind rein perkussiv. Zur Erzeugung mikrotonaler Klangstrukturen in engem Tonraum wird die Gitarre mit Bottleneck gespielt. Dadurch nähert sie sich klanglich dem Schlagzeug an, das außer Instrumenten aus Fell, Metall und Holz noch ein Papprohr verwendet und mit Sandpapier Reibeklänge erzeugt. Zwischen mikrotonalen Partien und regelrechten Perkussionsorgien blinken immer wieder gewohnte Instrumentalklänge auf. Das Ende gehört der Gitarre allein, die ihre höchste und tiefste Saite mit Geigenbogen streicht und so die Musik nach und nach verebben lässt. Als erstes Werk von Quell nimmt Dark Matter (2011) seinen Ausgangspunkt in der Astrophysik: Es bezieht sich auf die kosmologische Hypothese dunkler Materie, die nicht nachweisbar oder gar beobachtbar, aber zur Erklärung der Rotationsgeschwindigkeit von Galaxien unabdingbar ist. (Eine Einspielung von Dark Matter ist wie die von String II – Graviton auf der CD »Michael Quell – Chamber Music Vol. 2« [NEOS 11904] zu finden.) In der Folge hat der Komponist zwei Werkgruppen initiiert: String und energeia aphanés. Die einzelnen Kompositionen, die einem der beiden größer angelegten Werkzyklen angehören, sind aber selbständige, voneinander unabhängige Werke. In ihrer Konzeption sind sie vergleichbar, in ihrer jeweiligen Ausprägung sind sie hochgradig individuell. »energeia aphanés« bedeutet »dunkle Energie«. Sie ist hypothetisch, ihre Annahme ist ein Erklärungsversuch (und der derzeit einzige) dafür, dass das Universum sich mit zunehmender Geschwindigkeit ausbreitet – eine Beobachtung, die im Widerspruch zur Gravitation der Materie im Universum steht. Als Sinnbild für das Komponieren birgt die Vorstellung von Prinzipien, die im Hintergrund wirken und im Vordergrund nicht wahrnehmbar sind, geradezu »abenteuerliches ästhetisches Potential« (Quell). energeia aphanés I (2013) ist vom Gedanken zerfließender Zeit geprägt. Ein Impuls am Anfang des Werkes löst Resonanzen aus, die wiederum als Impulsgeber fungieren und ihrerseits Resonanzflächen bilden. Multiphone und fluktuierende Klangfelder in verschiedenen Regionen und diversen Besetzungen wechseln einander unregelmäßig ab. Die zunehmende Verdichtung in der Mitte des Stückes reißt ab, wodurch die Bewegung von drei der vier Mitwirkenden in den Raum ausgelöst wird. Dort agieren sie mit Gläsern und erzeugen hohe, schillernde mikrotonale Klangflächen. Durch das Reiben auf Rahmentrommeln entstehen unbestimmt und weit entfernt wirkende Geräuschflächen. Am Ende wird das hohe Register wieder aufgegriffen und die Musik verklingt vibrierend. Nachdem die Weite des Raumes durchschritten wurde, scheint sich mit ihm (auch in formaler Hinsicht) die Zeit aufzulösen. energeia aphanés II (2018) stellt primär Geräusch und Ton gegenüber: Der zu Beginn von Kontrabassklarinette und Akkordeon gestaltete Satz ist äußerst dicht, aber an der Schwelle der Wahrnehmbarkeit angesiedelt. Erst spät deuten sich Tonhöhen an und setzen sich anschließend in vielschichtigen Auffaltungsprozessen immer stärker durch. Die folgende strudelartige Verdichtung bricht plötzlich ab, lässt in extrem hoher Lage feinste instrumentalklangliche Mischungen hören und setzt neue Entwicklungen frei. Polyphon fluktuierende Flächen werden in tiefer Lage vom Akkordeon aufgesaugt, einem Ausdünnungsprozess von Materie im Universum vergleichbar. Auf einen erneuten Wiederaufbauprozess folgt der Abbau des Klangs, der sich im Sinne des Wortes in Luft auflöst. energeia aphanés III – physis (2019) strebt noch stärker nach außen als die anderen beiden Kompositionen der Werkgruppe, zielt ins Äußerlich-Physische, ja ins außerhalb der Musik Liegende. Für Aufführungen ist potentiell Tanz vorgesehen. Die expressive Dichte des Anfangs ist schattenhaft um den Ton h herum gelagert. Sie strebt auf eine Explosion zu, die flächige, mikrotonal verschraubte Fragmente übrig lässt. Diese kumulieren in einem Neben- und Übereinander instrumental unterschiedlicher Blöcke. Dann begeben sich die Mitwirkenden, wenige kleine musikalische Bausteine mit sich tragend, an verschiedene Positionen am Rande des Raumes. Von extrem hohen Akkordeontönen ausgehend, entsteht eine zitternd vibrierende, hell changierende Klangwelt, die zunehmend von Repetitionen geprägt ist. Regelrechte Einkerbungen in den Satz führen zu seiner Auflösung in liegende Einzelereignisse. Der Titel der Werkgruppe String bezieht sich auf die String-Theorie der Quantenphysik. Wie die Annahme dunkler Energie ist sie zwar hypothetisch, stellt aber bis heute die einzige Theorie dar, die alle vier Elementarkräfte vereint und bei der alle Elementarteilchen letztlich auf unterschiedliche Muster einer Art Urschwingung zurückgeführt werden, einem winzigen (eindimensionalen) schwingenden Faden vergleichbar. Die Werkgruppe ist auf vier Einzelwerke angelegt, deren jedes von jeweils unterschiedlichen Aspekten der String-Theorie angeregt ist: String I für Oboe (2013) nimmt Bezug auf die elementaren, grundsätzlichen Eigenheiten der Theorie und auf die eindimensionalen, schwingenden Fäden; die übrigen Werke widmen sich spezifischen Merkmalen der String-Theorie: String II – Graviton für Nonett-Besetzung trägt den Namen eines Materieteilchens im Titel, das Gravitation vermittelt; die Überschrift des Trios für Violine, Akkordeon und Klavier, String III – Branes, benennt die zweidimensionalen Untersuchungsobjekte, die mit schwingenden Ebenen vergleichbar sind, aber auch deutlich mehr Dimensionen aufweisen können (die String-Theorie rechnet in bzw. mit einem 11-dimensionalen Raum); die noch ausstehende Komposition String IV – M spielt auf die M-Theorie an, welche die String-Theorie(n) erweitert und verallgemeinert: Dem Physiker Edward Witten zufolge ist der Buchstabe M selbst enigmatisch und steht für Membran oder Matrix, magisch oder mysteriös. Selbst im Vergleich zu Berios Sequenza VII und ähnlichen Solokompositionen für Oboe sind die spieltechnischen und körperlichen Herausforderungen von String I geradezu abenteuerlich. Dies liegt an den Dimensionen des Werkes und nicht zuletzt daran, dass die Faktur von der dichten Verzahnung bewegter Multiphonics mit weiteren höchst anspruchsvollen Spielweisen geprägt ist. Initiiert wird die »Fadenmusik« mit dem Ton b2, der zunächst unmerklich farblich fluktuiert, bis seine innere Bewegung nach außen drängt, um neue Tonräume zu erobern. In der Komposition werden verschiedene Wege erkundet: Sie basieren auf Mikrovarianzen, führen zu vielgestaltig Figürlichem, zu Polyphonie, periodischen Bewegungen sowie innerlichem Schwingen und verwenden Mehrklangtremoli, Doppeltriller und Trillerglissandi. Das Ende greift die Ausgangsidee auf, sodass die Oboenmusik mit dem Ton as3 ausschwingen kann. String III – Branes (2019) ist Kammermusik in äußerst dichter Interaktion. Die faszinierende Vielfalt des Ensembleklangs, die Extreme keineswegs scheut, ist auch der Verwendung von Hilfsmitteln zu verdanken: Neben glockenartigen Flageolettklängen werden im Klavierpart Plektrum, harte Buchdeckel, Schnapsgläser, mit Filz überzogenes Holz, Nylonkordeln und E-Bows zur Erzeugung von dumpfen oder harten, schnarrenden und statischen sowie sphärisch-sinfonischen Klängen verwendet. Der erste Teil wird vielschichtig mit fünf rhythmischen Mensuren in Gang gesetzt, worauf die Klangmasse so lange verdichtet wird, bis die Struktur bricht und für eine Weile nur der Ton D1 übrigbleibt. An ihn lagern sich Materialien an und er wird von Wellenbewegungen umrankt. Auf einen klangsinfonischen Mittelteil folgt die an ein Trümmerfeld erinnernde Schlusspassage, in der zersplitterte Elemente neue Konstellationen eingehen. Mit der Reduktion des Vielgestaltigen und der Zerdehnung der Zeit tut sich am Ende ein äußerst weiter Horizont auf. In diesen fünf späteren Werken werden die Klangwelten weiter ausdifferenziert, strukturelle und klangliche Ränder weiter ausgelotet. Die Beziehungsdichte im Hintergrund ist hoch: Mikro- und Makroebene sind einheitlich konzipiert, sodass bei aller Gestaltvielfalt der Zusammenhang gewahrt bleibt. Prozesse zeitlicher und räumlicher Verdichtung oder Ausdünnung prägen das Klangbild. Die Auflösung des linearen Zeitflusses, die Überwindung von Zeit und Raum ist dabei ein Ideal, dem das Potential zu Transzendenz innewohnt. Inspiriert durch die Astrophysik, lässt der Komponist etwas entstehen, das über das sonst (dreidimensional) Wahrgenommene hinausweist und uns Zuhörende in ungeahnte Räume entführt. Matthias Schlothfeldt Programm: Michael Quell (*1960) [01] energeia aphanés III – physis (2019) 11:25 [02] energeia aphanés II für Kontrabassklarinette und Akkordeon (2018) 13:16 [03] Interdependenzen für Gitarre und Schlagzeug (1998) 08:44 [04] String I für Oboe solo (2013) 12:02 [05] energeia aphanés I (2013) 08:47 [06] String III – Branes für Violine, Akkordeon und Klavier(2019) 15:01 Gesamtspielzeit: 69:42 der/gelbe/klang Benjamin Fischer, oboe [04]
Pressestimmen:
Dass unsere Welt selbst hinter allen Theorien und naturwissenschaftlichen Beweisen vielschichtig und letztendlich unerklärbar bleibt, will Michael Quell mit seiner Musik abbilden. […] Einmal mehr zeigt das Ensemble der/gelbe/klang hier alerte Spielfreude, die durchaus die Sinne betört!
An der Handschrift eines Komponisten kann man versuchen, seine Arbeitsweise zu ergründen, und glücklicherweise findet sich im Booklet des Albums eine Reihe von Partiturausschnitten. Michael Quell schreibt akribisch ordentlich, fast kalligrafisch. […] Die Deutung aus dem Autographen ist natürlich Mutmaßung, aber Quells Handschrift könnte durchaus Zeugnis sein für die Hohe klangliche Transparenz seiner Musik und sein Interesse am Detail. […] Die Musiker:innen von „der/gelbe/klang“ können den hohen Grad an Verschmelzung und feiner klangliche Assoziation detailliert und konzentriert umsetzen. […] Das Album komplementiert die beiden vorausgehenden mit besonders ruhiger und zeitloser und gerade deshalb so spannender und tiefer Kammermusik Michael Quells. Jakob Böttcher
[…] Die Stücke seiner „enereia aphanés“ (2013/19) umkreisen in verschiedenen Besetzungen die kosmologische Hypothese „dunkler Energie“. Quell knüpft beeindruckend dichte Klanggewebe, die unentwegt ihre Aggregatszustände, Dichteverhältnisse, Farben und Bewegungsenergien ändern. […] „String I“ für Oboe solo (2013) dürfte eines der schwierigsten Stücke sein, die für Oboe geschrieben wurden. Benjamin Fischer bewegt sich hier mit Bravour durch ein beinahe unspielbares Gelände. Auch das Ensemble der/gelbe/klang bringt den bemerkenswerten Klangfarbenreichtum und die existenziellen Energiepotenziale dieser mikroskopisch ausmodellierten Instrumentalmusik mit großer Sensitivität zum Leuchten. Dirk Wieschollek
Beckmesser Die neue CD von Michael Quell mit Kompositionen aus den Werkreihen „energeia aphanés“ und „String“ (2013-2019) erlebte nun im Münchner Veranstaltungszentrum „Schwere Reiter“ ihre CD-Taufe. Es war eines der ersten Live-Konzerte im Schwere Reiter nach einer langen Corona-Pause. Interpreten waren das 2020 gegründete Ensemble „der/gelbe/klang“, das auch auf der CD zu hören ist. Im Gespräch erläutert der Komponist, was es mit den aus der Astrophysik und der Quantentheorie stammenden Begriffen „energeia aphanés“ („Dunkle Energie“) und „String“ für eine Bewandtnis hat, und wie er diese abstrakten Vorstellungswelten in konkrete Klänge umsetzt. Max Nyffeler |