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VON DER SEHNSUCHT DES SCHLAGZEUGS Die exotischen Regionen jenseits der traditionellen Grenzen des musikalischen Fruchtlands, die das Schlagzeug seit Edgard Varèses Ionisation für dreizehn Schlagzeuger (1929–1931) der Neuen Musik einst eröffneten, sind inzwischen längst erschlossen und urbar gemacht. Wer nach Varèse, Cage, Stockhausen, Xenakis, Nono, Kagel, Riedl, Berio und vielen anderen ebenfalls für Schlagzeug komponiert, sieht sich einem ebenso riesigen wie globalen Sortiment gegenüber. Nicolaus A. Huber spricht in seinem Beitrag für das Kompendium Die Spieltechnik des Schlagzeugs: Schlägel, Anreger und Anwendungen (Kassel 2018, S. 20) von einer »Luxuswelt des Schlagzeugs«. Statt sich daraus mit vollen Händen zu bedienen, trifft er für jedes Stück eine klare Auswahl, die sich entscheidend auf Klang, Charakter, Verlauf und Form auswirkt. Mit reduziertem Instrumentarium – beispielsweise in Clash Music für ein Beckenpaar (1988) – zielt er auf maximale spieltechnische, rhythmische und klangliche Differenzierung. Der programmatische Titel seines dasselbe ist nicht dasselbe für kleine Trommel (1978) betont die Nichtidentität scheinbar identischer Ereignisse, die sich in Wirklichkeit durch winzige Differenzen unterscheiden. Genauigkeit und Vielfalt kennzeichnen auch Hubers jüngste Werke für Schlagzeug. Die verwendeten Instrumente hat er zuvor alle eigenhändig auf ihre Spiel- und Klangmöglichkeiten ausgelotet und in den Partituren mit Angaben zu Herstellern oder Händlern und Artikelnummern exakt bezeichnet. Präzise notiert er Spielweisen mit verschiedenen Schlegeln, linker oder rechter Hand, Fingerspitze, Fingernagel, Fingerschnipsen, wechselnde Anschlagspunkte sowie – durch kleine Graphiken verdeutlicht – bestimmte Bewegungsrichtungen, Reibe- oder Kratzverläufe. Das älteste Stück dieser neuen Serie – Barong des Méduses für drei Schlagzeuger (2005) – ist noch recht divers besetzt. Manche Instrumente liegen auch aufeinander und werden gegeneinandergeschlagen oder gestrichen. Zudem flüstern und pfeifen die Perkussionisten. Am Ende stecken sie Instrumente und Schlegel in Papp- und Plastiktüten, als wollten sie diese forttragen. Die Behandlung des vielseitigen Instrumentariums wie ein übergeordnetes Metainstrument findet ein Pendant in der Figur des »Barong« aus dem balinesischen Tanzspiel, wo unter einem Löwenkostüm zwei Männer ein genau koordiniertes Bewegungsganzes gestalten. Fingercapriccio für zwei Schlagzeuger (2007) konzentriert sich dagegen überwiegend auf zwei Bongo-Paare, welche die Spieler mit ihren je zwei Händen und zwei zentralen Spielweisen (Fingerkuppe und Fingernagel) durch differenzierte Dynamik, abgestufte Zugriffswinkel, wechselnde Positionen auf den Fellen und ausnotierte Fingersätze immer anders rhythmisch-klanglich kombinieren und schattieren. Statt »Herumdonnern im Instrumentenpark« bezweckt Huber – so sein Werkkommentar – vielmehr eine »instrumentale Diät«, die erst im letzten Abschnitt von den kurzen Impulsen der wenig tonhöhenspezifischen Fellinstrumente zu lange ausklingenden klaren Tonhöhen von Metallinstrumenten umschlägt. Schlaginstrumente werden gemeinhin nicht mit Sehnsucht in Verbindung gebracht, wofür üblicherweise Violine, Cello, Klavier oder Horn bereitstehen. Doch Huber schrieb seinen »Sehnsuchtszyklus« ausgerechnet für Schlagwerk. Die Titel der drei Stücke Póthos, Hímeros und Erosfragmente – Huber hatte als Gymnasiast Altgriechisch gelernt – stammen aus der griechischen Mythologie und benennen Personifikationen verschiedener Arten von Sehnsucht, deren Verhältnis Platon im Dialog Kratylos erklärt: »Póthos« steht für das Verlangen nach etwas Abwesendem und bedeutet insofern auch Trauer, »Hímeros« und »Eros« meinen dagegen die Begierde nach etwas Anwesendem, wobei Hímeros aus dem Menschen selbst erwächst, Eros dagegen durch äußere Objekte ausgelöst wird. Verbindendes Element des Zyklus sind wechselseitige klangliche Durchdringungen von materialverwandten, doch akustisch verschiedenen Instrumenten, als sehnten sich diese nach eigener Verwandlung und klanglicher Verschmelzung miteinander. Zu Anfang von Póthos für einen Schlagzeugsolisten (2010) stecken Extremwerte die fortan geltenden Koordinaten ab: Geräuschhafte Beckenschläge kontrastieren mit klaren Tonhöhen eines Glockenspiels, lange Ausklänge mit trocken abgedämpften Akzenten sowie Fortissimo-Aktionen mit Pianissimo-Klängen. Teils minutenlang nachklingende Glöckchen werden von kurzen Schlägen auf Trommeln und Holz überlagert, so dass die Klänge sich mischen, umfärben und immer wieder anders auseinander hervortreten. Zudem werden Instrumente aufeinandergelegt oder aneinandergeschlagen, gerieben, gestrichen, so dass sich ihre Klangcharakteristiken amalgamieren. Auch wilde Trommel-Orgien, pulsierende oder tänzerisch springende Rhythmen sind im Detail hochgradig modifiziert. Die bogenförmige Aufstellung der vier Gruppen von Metall-, Fell-, Holz- und erneut Metallinstrumenten wird vom Solisten während der Aufführung von links nach rechts und wieder zurück abgeschritten, so dass sich der akustische Gesamtverlauf auch optisch erschließt. Hinzu kommt die Sichtbarkeit der Klangerzeugung mit wahlweise kraftvoll ausholenden Gesten oder sanftem Betasten und Streicheln der Instrumente mit bloßen Fingern, deren unterschiedliche Energetik und Taktilität sich den Resultaten hörbar als individuelle »Menschenklangfarbe« – dies Hubers Begriff – einschreibt, selbst wenn die visuelle Dimension wie bei einer Wiedergabe von CD fehlen sollte. Zu Beginn von Hímeros für Harfe, Schlagzeug, Lautsprecher und CD-Zuspielungen (2011) dienen Glöckchen, Crotales und Triangeln als Fortsetzungen von Harfenklängen, bei denen die Saiten nicht bloß gezupft, sondern mit Händen, Fingern und Gegenständen auch geschlagen werden. Beide Instrumentalisten sollen ihr Spiel »tänzerisch verstehen«, um ebenso unterschiedliche wie sich angleichende Grade von Spannung, Gewicht und Farbe hervorzurufen. Da die Harfe etwas höher gestimmt ist als Glockenspiel und Crotales, kommt es zwischen den rhythmisch eng verzahnten Partien zu mikrotonalen Harmonien und Schwebungen. Mehr eingehüllt als fortgesetzt werden die Harfenklänge von den Becken. Für eine weitere Durchdringung sorgen Lautsprecher-Zuspielungen, welche die Instrumentalmusik stören und ihr zugleich einverleibt werden. Gleich zu Beginn ertönt blechernes Stuhlrücken. Später kontrastiert ein langer Sinuston (1081 Hertz, ein vierteltönig erhöhtes c3) mit scheppernden koreanischen Para-Becken, bevor diese Frequenz über Repetitionen der Harfe auf derselben Tonhöhe wieder ins obertonreich-geräuschhafte Instrumentalgeschehen zurückgleitet. Der Gegensatz von elektronisch generiertem Ton und instrumentalem Klang markiert einen Wendepunkt, ab dem sich die Schlaginstrumente aus ihrer bisherigen Anamorphose an die Harfenklänge lösen. Den Schlusspunkt setzen dumpfe Schläge mit zugespieltem Dröhnen und zischendem Rauschen. Klangliche Polaritäten bestimmen schließlich auch Erosfragmente für einen Schlagzeuger (2012). Mit Schlägeln, Fingern und Bassbogen werden 18 Klangschalen zu jeweils anderen Obertonspektren angeregt, die sich zu irisierenden Mixturen überlagern. Dem steht das kurze Klirren des Toy Pianos gegenüber sowie als Extrempol die trockenen Geräusche eines Knackfroschs. Wie in allen Stücken des »Sehnsuchtszyklus« entsteht der Eindruck, als sehnten sich die verschiedenen Instrumente über das einengende principio individuationis hinweg nach einander und werde ein Klang vom nächsten angezogen. Wie einst Schönberg dem »Triebleben der Klänge« folgt Huber den Sehnsüchten perkussiver Klänge, um die Hörer letztlich ihre eigenen Sehnsüchte erleben zu lassen. Rainer Nonnenmann Programm:
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