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Nikolaus Brass: Choral and Orchestral Works Vol. 2

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Artikelnummer: NEOS 11911 Kategorien: ,
Veröffentlicht am: Oktober 4, 2019

Infotext:

KONTINUUM UND AUFPRALL
Zum Komponieren von Nikolaus Brass

Zwei Kompositionen liegen dieser Edition vor, zwei aus unterschiedlichen Zeiten, dreizehn Jahre auseinander. So unwichtig dieser Abstand scheint, so bedrängend wirft er die Frage auf nach einem inneren Kontinuum im Schaffen von Nikolaus Brass. Denn seit etwa 2000 festigt sich in seinem Komponieren das, was man so gerne mit »Personalstil« umschreiben möchte, um mit dieser eher hilflosen Floskel das signifikant Eigene, das sich von allen anderen Verlautbarungen Unterscheidende festhalten zu können als die unzerreißbare und zugleich undurchdringliche Haut, die um Werk und Hervorbringer gespannt ist.

Durch grobe Erkundungen in den hand- und gestochen schön geschriebenen Partituren von Nikolaus Brass lassen sich in dieser Arbeitsperiode zwischen 2000 und 2013 zwei Stereotype im »frühen Spätwerk« dingfest machen: das Prinzip der Wiederholung und ein gleißend schwebender, sich sowohl verdichtender als auch verdünnender Klangnebel, hinter dem vielmals tiefes Schwarz, häufig auch glühendes Leuchten und selten nur ornamentales Gerümpel hindurchscheint. Musikalisch gedeutet, handelt es sich um tatsächlich klingende Identitäten, verklammert durch und hineingepresst zwischen Wiederholungszeichen, die mehrere Taktgruppen nicht nur zweifach, sondern mehrfach gespielt oder gesungen einfordern. Und nicht nur diese größeren Abschnitte kreisen um sich selbst, auch Teile darin, Zwei- und Dreitaktgruppen werden unterschiedlich oft hintereinander abgestempelt. Wiederholtes im Wiederholenden.

Im Totenmessen-Milieu von fallacies of hope sind diese Redundanzen sparsam und als Schlusswirkung eingesetzt. Sie nageln die Zeit an die Wand. Kontinuität und dramatische Aufeinanderfolge versanden ins »weißeste Weiß«, wie die typischen Finale von Filmen mit schwer verdaulicher Kost, die sich der Metapher von Rose Ausländer konkret bedienen, wenn die Kamera in das kalte Nichts des Himmels schwenkt, um die Augen der Zuschauer zum Schweigen zu bringen. Das Gedicht Das Weißeste der 1988 gestorbenen jüdischen Dichterin ist der Partitur Takt 281 bis 358 inskribiert, ohne dass der lyrische Text sich sprachlich verlautbart über vier mal acht Stimmen des Chores.

Auch die Textausschnitte aus dem dritten Band der im Suhrkamp-Verlag 1981 erschienenen Dokumentation Die Ästhetik des Widerstands von Peter Weiss bleiben eine ad-libitum-Dramatisierung. Als Textprojektionen sind sie eine Folie verbrecherischen Handelns und faschistischer Willkür: die Ausrottung der Widerstandsbewegung »Rote Kapelle« und deren Hinrichtungen in Plötzensee. Isolation, Zerrissenheit, Trauer und Schreie, die in den Textbausteinen nach Formulierungen ringen, verdichten weder die kompositorische Intention, noch steigern sie die trostlose Ausdünstung der im Raum verteilten Chorgruppen mit ihren flehenden Ligaturen und klappernden, geräuschartigen Konkretisierungen von Klopfzeichen, Signalen der Angst und Hoffnungslosigkeit im Netz der »Fallstricke«. Allenfalls versetzen die Projektionstexte das Musikalische in eine nachvollziehbare Schreckenssituation. Das Konnotat der Musik ist allerdings so überwältigend, dass eine zusätzliche Dramatisierung das Kompositorische eher schwächt.

Ganz am Schluss des Requiems, im abschließenden »Epitaph für L.«, rufen sich aus den vier Chorgruppen die hohen Frauenstimmen in abfallender mikrotonaler Chromatik das fatalistische »Down I fall down« zu. Es ist die Stimme der am 22. Dezember 1942 ermordeten Antifaschistin Libertas Schulze-Boysen. Einmal also spricht auch aus der Partitur ein Text heraus. In englischer Sprache. Als sei die deutsche nicht mehr benutzbar infolge ihrer Begriffszerstümmelung seitens der Hitlerfurien. Inmitten dieses Abgesangs rattern die Salven von Ferne, onomatopoetisch durch die klatschenden Hände der Tenöre und Bässe inszeniert. Subtil: Männer als Vollstrecker, durch den Komponisten instrumentalisiert. Spätestens hier wird das Requiem zum Musiktheater.

Völlig anders und geradezu inflationär werden in der Orchesterkomposition similar sounds Wiederholungszeichen aufgestellt wie Prallwände an den Rändern des Immergleichen: Die Ereignislosigkeit schiebt sich an der Zeit zwar schleppend, zähfließend vorbei, jedoch vermögen die Wiederholungen des Identischen nicht zu ermüden, weil die Periodik der Einzelereignisse und das rhythmische Geflecht instabil sind und dem Ohr vorgaukeln, es gäbe kein stetiges Kontinuum gleicher hintereinander gereihter Stationen. Hinzu kommt ein erbarmungslos langsames Tempo, das den »drive of pattern« betäubt. Und der auf zwölf Halbtonschritte aufgebaute Tonsatz ist so hingebungsvoll orchestriert, dass der schleppende Duktus zum Leuchtfeuer wird. Glühende Apathie könnte man meinen, doch vielmals drängen sich mir beim Mitwandern mit den scheinbar ewig weiterziehenden Klängen neuerliche Oxymora in die schreibende Hand. Denn noch etwas tut sich auf: die Ambivalenz zwischen der Schönheit kristalliner Mixturen und ihrer ätzenden Penetranz, immer an den Wiederholungsgattern abzuprallen, um neuerlich sisyphosartig von vorne beginnen zu müssen.

Die Organisation der Klänge gehorcht simplen Schichtungen. Oft grundiert ein pendelndes Intervall im Bereich einer kleinen, großen Sekund oder eines Tritonus das Atmosphärische der Komposition. In diesem Pendeln schwingt das Zepter der Gelassenheit. Die darauf aufgebauten Akkorde werden ständig mit den Farben des Orchesters verwandelt. Keine Klangverfremdungen, immer der reine Tonfall, aber in waghalsigen Mixturen zu einer ganz eigentümlichen gallertartigen Verflüssigung gebracht, durch deren Blasen man sowohl dichte als auch permeable Klanglandschaften heraushören kann. Dieses gläsern Liquide des Klingens macht den ureigenen Tonfall der Musik von Nikolaus Brass aus, ein Tonfall, der mittels der Transparenz transzendiert in Zugriffslosigkeit, die keine Sprache besitzt. Man hat oftmals diesen Tonfall mit dem der Musik von Morton Feldman verglichen. Ja, ganz oberflächlich in die Partituren geschaut, kann man Pattern-artige, rhythmisch sich variantenreich verwandelnde Module ausfindig machen, die Ähnlichkeiten aufweisen. Aber Akkordbau, Instrumentation und Dramaturgie des Verlaufs sind völlig anders. Feldmans Musik konzentriert sich auf die logischen Bezüge von rhythmischen Varianten und auf mutierende Intervallschichtungen, deren Bezirk kaum je überschritten wird…, wie in Samuel Becketts Orgie des Wartens sich Wladimir und Estragon nur bis an den Rand des nicht zur Sprache kommenden Baumschattens entlang der Landstraße bewegen können.

Brass hingegen verlässt die von ihm vielmals exponierten Stillstands-Obsessionen, besser vielleicht: die bewegungslosen Bewegungen, um mittels Tempo, Klangverdichtungen und dynamischen Schwellungen andere Aggregate zu erreichen. Und in diesen mitunter völlig überraschenden, ruckartigen Übergängen geschehen jene Aufpralle, die nicht selten mit Messergeritze an den Membranen zärteln. Gegenüber Feldman ist Brass Dramatiker. Wenn bei Feldman Zeit aufgehoben wird, sie einfach aus dem Bewusstsein des Zuhörers verschwindet, dann verkündet die Musik von Nikolaus Brass ohne Attitüde immer auch das noch nicht Eingetretene. Seine Musik spannt den Zuhörer in ein Kontinuum, das Erwartungsgier provoziert. Fast immer wird sie nach endlosem Voranschleichen und Auf-der-Stelle-Verharren-Müssen plötzlich tumultuös. Das Tempo steigert sich durch repetitive Verdichtungen immer kleiner werdender Notenwerte. Alles in similar sounds drängt einem Höhepunkt zu. Wo zuvor Mixturen hin und hergeschoben wurden, damit abrupte Klangwandlungen geschehen können, werden gegen Ende der Partitur alle Instrumente gleichzeitig aktiviert, individualisiert und in die Turbulenzen eines endlosen Fallens hineingerissen. Malstromartig.

Spätestens ab hier erzählt Brass’ Musik ihre geheime Geschichte. Allerdings ohne Begriffs- und Bedeutungsalphabet. Ihre Sprache ist dem Empfindungssensorium entlehnt. Dort bleibt man als Zuhörender auf sich zurückgeworfen. Man kann also zwischen dem Erkennen eines kalkulierten kompositorischen Vorgehens und der Gefangennahme durch wundersam opiate Injektionen von Schönstoff hin und hergerissen sein. »Kontinuum« als Fortschreibung ins Ungewisse und »Aufprall« gegen die Klangwände als plötzlicher auktorialer Eingriff in die konstruierte Gesetzmäßigkeit helfen, dieses ausweglose Betörtsein auszuhalten.

Hans-Peter Jahn

Programm:

01] similar sounds Musik für Orchester (1999/2000) 28:33

Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR
Robert HP Platz, Dirigent

[02] fallacies of hope – deutsches requiem (überarbeitete Version 2013) 22:34
Musik für 32 Stimmen in vier Gruppen mit Textprojektionen aus Die Ästhetik des Wiederstands von Peter Weiss

SWR Vokalensemble Stuttgart
Florian Helgath, Dirigent

Gesamtspielzeit: 51:17

 

 

 

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