Infotext:
PETER BRUUN – PRELUDES TO DISASTER Was ist unser Leben anderes als eine Reihe von Auftakten zum Unglück – Auftakten zu einem heraufziehenden unbekannten Unglück, das sich vielleicht gar nicht ereignen wird? Wäre es nicht das größte Unglück, wenn alles, woran man glaubt und wofür man gekämpft hat sich als reine Illusion herausstellte? Wäre es nicht ein noch größeres Unglück, wenn alles reine Illusion wäre, und man es selber nicht wüsste? Und wäre es nicht ein noch größeres Unglück als dieses, wenn alles reine Illusion wäre, man es selber nicht wüsste, aber alle anderen schon? Dann würde man zumindest in seliger Unwissenheit leben…bis zu dem Augenblick, in dem man feststellte, dass alle einen auslachen, und dass man selber die Hauptfigur in einem Buch über die eigene Armseligkeit und Lächerlichkeit wäre… Während der Arbeit an meinem Musiktheaterstück für Kinder Am I Not Don Quixote?, zusammen mit dem FIGURA Ensemble, hat mich die Figur des Don Quijote zunehmend fasziniert. Möglicherweise ist er der tragischste Antiheld, den man sich vorstellen kann. Ich bin froh, dass ich nicht er bin. Ich fürchte, ich bin ihm vielleicht ähnlich. Und doch ist er mir sympathisch, und auf eine merkwürdige Weise wünsche ich mir, ich könnte so sein wie er. Denn er ist, denke ich, ein guter Mensch. Er wünscht sich so sehr, gut zu sein. Er ist aber nur ein Mensch. Ich fühlte mich inspiriert, einige von Cervantes’ fiktiven Hommagen aus der Einleitung zur Geschichte zu vertonen: Gedichte, in denen andere fiktive, heldenhafte Ritter Don Quijote für seine Leidenschaft, Kraft und Tapferkeit würdigen und das Buch über ihn loben. Diese vier Lieder versuchen, die Gefühle des armen Ritters durch Musik zu erforschen, vom Rastlos-Stürmischen über das Nachdenklich-Introvertierte bis hin zum Aggressiv-Extrovertierten, um endlich eine Art von Versöhnung zu erreichen. Peter Bruun
ANDERS BRØDSGAARD – GALGENLIEDER Ich hatte schon lange vorgehabt, die Galgenlieder einer genauen Betrachtung zu unterziehen und sie eventuell musikalisch zu verwerten (schon des Titels wegen!) als das FIGURA Ensemble mich bat, Christian Morgensterns Gedichte zu vertonen. Als ich damit begann, entdeckte ich, dass die Galgenlieder nicht nur grotesk, komisch und ironisch, sondern wirklich recht albern sind – wie ein deutsches Pendant zum dänischen Schriftsteller Halfdan Rasmussen, jedoch mit einer dunklen Seite. Ich stellte auch fest, dass viele der Gedichte mein inneres, tief begrabenes deutsches »Kulturerbe« aktivierten, und dass viele der Lieder eindeutig danach schrien, mit Elementen aus vorhandener, hauptsächlich deutscher Musik wiederbelebt zu werden. Zum Beispiel hat mich das Metrum des Gedichts Galgenberg auf unwiderstehliche Weise an Mondestrunken erinnert, das erste Lied aus Arnold Schönbergs groteskem Melodrama Pierrot Lunaire: »Den Wein, den man mit Augen trinkt«. Also ist die erste Strophe von Galgenberg mit Elementen aus Schönbergs Lied vermischt; danach geht die Musik in einer vordodekaphonen Tonsprache aus dem Jahre 1912 ihren eigenen Weg. Im Bundeslied der Galgenbrüder taucht ein Bach-Choral auf, von Kontrabassist und Akkordeonist mit protestantischem Schuldbewusstsein gesungen: »O schauerliche Lebenswirrn, wir hängen hier am roten Zwirn!« Die beiden Esel, ein Lied über Gewohnheitsehen, ist in einem für Morgenstern recht morbiden Stil geschrieben. Ich habe es mit Anklängen an Schumanns Ein Jüngling liebt ein Mädchen vertont, das wiederum nach einem anderen großen deutschen Ironisten, Heinrich Heine, komponiert wurde. Es ist mir gelungen, Schumanns kleine modulierende Schlusskadenz alle 12 Schritte des Quintenzirkels während dieses 45-sekündigen Liedes durchlaufen zu lassen. Nicht alle Gedichte weisen ironische Doppeldeutigkeiten auf: Bim, Bam, Bum zum Beispiel ist eine rührende kleine Geschichte über die unerwiderte Liebe eines Glockenklangs, und Der Tanz mit seiner skurrilen Darstellung eines tanzenden »Vierviertelschweins« auf drei rosafarbenen Beinen und seines Partners, der »Auftakteul«, auf dem vierten (!) könnte direkt aus einem alten Disney-Cartoon stammen. Ich wählte diese zehn Gedichte danach aus, wie sehr – und auf welche Weise! – sie nach einer Vertonung zu verlangen schienen. Dementsprechend hat sich meine Kompositionstechnik von einem Lied zum nächsten sehr stark verändert, vom »rosafarbenen Walzer« in Der Tanz zur Obertonharmonik im Glockenklang von Bim, Bam, Bum oder unverhohlenem Diebstahl in der Mahler-Stilparodie Der Hecht. Ich entschuldige mich im Voraus, falls sich jemand davon beleidigt fühlt! Anders Brødsgaard
STEINGRÍMUR ROHLOFF – STILL NOT / NOT YET In den letzten zehn Jahren habe ich mich in die Texte des dänischen Dichters Peter Laugesen (geb. 1942) verliebt, und zwar aufgrund solcher Zeilen: »Sprache füllt alle Löcher mit Lärm.« Diese Zeilen entstammen alle seinem Band Frø og stængler (»Samen und Stengel«). In manchen Gedichten scheint Peter Laugesen abstrakte und unsichtbare Räume und Kräfte zu beschwören. Etwas wächst. Es gibt Dunkelheit. Es gibt Licht. Namenlose Räume weiten sich und schrumpfen wieder. Es gibt Öffnungen und Wände. Gesprochenes, Klänge und Melodien gehen in die Gedichte ein. Obwohl sie anwesend sind, werden diese Räume und Kräfte aber nicht erklärt. Es war sehr reizvoll, diese Gedichte zu vertonen, und ich wurde für meinen Liederzyklus Still Not / Not Yet von fünf Gedichten aus zwei Bänden inspiriert: Frø og stængler (»Samen und Stengel«) und De sagde hans hund havde lopper (»Sie sagten, sein Hund habe Flöhe«). In dieser Komposition lasse ich die Worte sich einfach auf die Musik beziehen – sie erzählen keine Geschichten, sondern beschreiben einfach, was im jeweiligen Augenblick in der Musik passiert. Somit spiegeln und umkreisen sich Text und Musik. Der Liederzyklus ist dem FIGURA Ensemble und den Seattle Chamber Players gewidmet. Steingrímur Rohloff |
Programm:
FIGURA Ensemble Edition Vol. 1
Peter Bruun (*1968) [01] I. Forging fool’s armour 04:29 FIGURA Ensemble Anders Brødsgaard (*1955) [05] 1. Galgenberg 01:13 FIGURA Ensemble Steingrímur Rohloff (*1971) [15] I. Sooner or later 03:44 FIGURA Ensemble total time: 61:42
FIGURA Ensemble Seattle Chamber Players Erik Jakobsson, conductor [01–04] |
Pressestimmen:
Antihelden Das dänische Figura Ensemble pflegt eine nicht gerade alltägliche Besetzung: Ein Mezzosopran, drei Instrumentalisten, ein Komponist, ein Dichter und ein Architekt können nicht nur Erstaufführungen, sondern auch gleich Musiktheaterprojekte stemmen. Hier haben sie sich mit den Kollegen der Seattle Chamber Players zusammengetan, um aktuelle Liederzyklen mit Instrumentalensemble von drei Zeitgenossen einzuspielen. Dirk Wieschollek Musik:
06.2014 Das dänische Figura Ensemble hat eine ungewöhnliche Zusammensetzung: Mezzosopran, drei Instrumentalisten, ein Komponist, ein Dichter, ein Architekt. Auf erfrischende Weise abseits des Mainstreams bewegen sich auch seine Programme. Zusammen mit den vier Musikern der Seattle Chamber Players hat es nun Werke dreier hierzulande wenig bekannter nordischer Komponisten aufgenommen. Die “Preludes to Disaster” des Dänen Peter Bruun sind eine ebenso eigenwillige wie musikalisch eindrucksvolle Huldigung an Don Quijote. Sein Landsmann Anders Brødsgaard steuert mit “10 Galgenlieder” zehn scharf charakterisierte Miniaturen nach Morgenstern bei, und vom Deutsch-Isländer Steingrímur Rohloff stammen fünf dramatische Szenen nach Texten des dänischen Dichters Peter Laugesen. Helene Gjerris erweist sich als Mezzosopranistin von Format. Max Nyffeler |