Infotext:
PETER IVAN EDWARDS · IONOBIA In ionobia setze ich die Erforschung von Kraft-Dynamik in der Musik fort, für die das Stück fleepercellimano eine Art Vorstudie bildet. Kraft-Dynamik ist ursprünglich ein sprachwissenschaftlicher Begriff. Er besagt, dass es Beziehungen zwischen den Bestandteilen eines Satzes gibt, die auf Einfluss beruhen. Zum Beispiel beinhaltet ein Satz wie »Der Wind schob den Ball über das Gras« einen Agonisten (den Wind), der auf einen Antagonisten (den Ball) Kraft ausübt. Wichtig dabei ist, dass der natürliche Zustand des Balles von der Kraft des Agonisten verändert wird. Bei literarischen Beispielen können kraftdynamische Beziehungen recht komplex werden, da auch soziale und psychologische Kraftfaktoren ins Spiel kommen. Im Prinzip sind das Kraftmetaphern. Es scheint, dass in der Musik nur einfache Beispiele abgebildet werden können. Man hört dies sofort am Anfang des Werks, wo das Schlagzeug den Oboenklang auslöst: Es ist so, als würde ein Licht an- und ausgeschaltet. Gleichzeitig ignoriert das Klavier diese Beziehung zwischen Schlagzeug und Oboe. Es koexistiert mit ihnen, in etwa so, wie wir mit Fremden koexistieren, die vielleicht erregte Diskussionen führen, während wir die Straße entlanglaufen. Bälle und Lichtschalter sind allerdings problematisch als kompositorische Modelle, da sie keine Handlungsfähigkeit besitzen. Hier kommt nun der menschliche Faktor ins Bild. Während diese einfachen kraftdynamischen Modelle Beziehungen zwischen Instrumenten begründen, sind die Instrumente (bzw. Instrumentalist*innen) handlungsfähig. Die Oboe ist nicht bloß das Opfer des Schlagzeugers, das von ihm kontrolliert wird. Sie kann reagieren, wenn sie sich missbraucht fühlt. Sie kann Widerworte geben. Sie kann abtrünnig werden, und aus dieser Handlungsfähigkeit entwickelt sich das Werk zu einem subtilen musikalischen Drama, welches das Werk vorantreibt. Beim Komponieren von fleepercellimano (2013) befand ich mich in der Situation, dass ich ständig die Machtverhältnisse zwischen den verschiedenen Instrumentenrollen regeln musste, die das Werk antreiben. Der Anfang besteht zum Beispiel aus einer sehr aktiven Piccololinie, die zwar ausdrucksvoll und frei ist, aber ständig von den anderen drei Musikern unterbrochen wird, die mit Unisono-Klatschen klangliche Grenzen setzen, welche nicht überschritten werden dürfen. Natürlich ist die Dynamik der Macht eine vertrackte Angelegenheit: Sie kann unüberschaubar komplex werden und Ungehorsam begünstigen, oder – ich wage, es zu behaupten – sogar kreative Problemlösung. Dies war der Impuls für einen Großteil der Evolution des Werks. Rollen werden unklar; zu viele Chefs wollen mein »chef d’œuvre« beeinflussen. Der Zusammenbruch bringt eine neue Ordnung hervor, aber während die Musiker*innen verschiedene Rollen übernehmen, bleiben die Rollen selbst immer gleich. Es gibt immer eine Person, die den Rahmen setzt; und es gibt die, die sich innerhalb dieses Rahmens befinden. Der Name? Er setzt sich aus den beteiligten Instrumenten zusammen. »fl« aus flute, »ee« aus feet, »perc« aus percussion, »cell« aus cello und »iano« aus piano, mit einem »m«, um daraus mano zu machen – das italienische (und spanische) Wort für »Hand«. Brastri per Celindano wurde im Mai 2015 im Auftrag des Yong Siew Toh Conservatory für dessen Orchester komponiert. Der Hauptansatz des Werks ist eine ständige Neubetrachtung des Materials, wobei Gegensätze als Möglichkeiten, teils sogar als Notwendigkeiten behandelt werden. Das Werk fängt mit Ensembleschichten an, mit langen, asynchronen Haltetönen, die gelegentlich von kurzen Akkorden unterbrochen werden. Allmählich konzentriert sich die Musik auf einen einzigen Akkord, und die Akkordschläge werden zu Einzeltönen, mit einer wachsenden Aktivitätsschicht über der einen Harmonie, die vom Orchester hin- und hergereicht und dabei unterschiedlich gefärbt wird. Im Prinzip artikulieren diese einzelnen Stöße ein Raster aus Sechzehntelnoten; während das größere Orchester nun mit Akkorden zurückkehrt, artikulieren sie die einzelnen Sechzehntel. Für den Großteil des Werks kann diese rhythmische Struktur nicht verlassen werden, allerdings wird das Raster bei einem vorläufigen Höhepunkt gegen Ende des Stücks hinterfragt: Dort bricht es auseinander, und die vermeintliche Starrheit (und Vertrautheit) des Sechzehntelrasters löst sich in abgehackte Stolperrhythmen auf. Die Harmonik durchläuft einen ähnlichen Prozess wie die Rhythmik. Am Anfang, wo die Musik nach ihrer Form sucht, ist die Harmonik recht dissonant. In Wahrheit ist diese Dissonanz aber das Ergebnis von Akkordschichten, die in sich recht konsonant sind. Sobald also ein Einzelakkord aus dem Tumult hervortritt, entsteht ein konsonanterer Gesamtklang. Diese Harmonien entstammen Spektralanalysen von Oboenmehrklängen, die ich gleichzeitig bei der Arbeit am Stück ionobia verwendet habe. Der Augenblick größter Konsonanz kommt am Schluss einer Passage mit Klavier. Es handelt sich um eine Kadenz auf einem Dominantseptakkord auf As. Es war seltsam, mich während des Kompositionsprozesses auf einmal dort zu befinden; es ergab für mich eindeutig Sinn, dort anzukommen, ein Aufenthalt war aber unmöglich. Also setzte ich dieser Kadenz und ihrem angenehmen Charakter sofort fortissimo Tutti-Zwölftonakkorde entgegen. Es ist vielleicht der dissonanteste und aggressivste Moment im gesamten Stück. Zurück zum Raster. Es wird am deutlichsten als markanter Augenblick des Stillstands artikuliert: Der gesamte Streicherapparat spielt zusammen Sechzehntel col legno battuto. Durch seine Geräuschhaftigkeit, seine Stille und seine Wiederholungen bewegt uns dieser Augenblick von der Musik hin zur Maschine. Das Werk kommt zum Erliegen. Es ist ein Moment der Reflexion und Neubesinnung, und das Gebet wird angeführt von der Tuba, die unauffällig eine kleine Melodie spinnt, indem sie von anderen Instrumenten Töne aufschnappt, während diese zu den früheren Einzeltönen zurückkehren. Andere folgen ihrem Beispiel, und bald gibt es eine Sammlung von Melodien im gesamten Bläserapparat. Sie wachsen, doch erneut wird klar, dass in diesem Werk die Dinge ebenso leicht auseinanderfallen, wie sie sich herausbilden. Das rhythmische Raster bricht vorrübergehend zusammen, ersteht aber wieder aus den Trümmern mit col legno battuto in den Bratschen. Es begleitet uns bis zum Schluss, wo ein Zwölftonakkord wiederkehrt – diesmal in den Streichern, er wächst und verlöscht sanft – und die Oboe singt meine Ein-Ton-Hommage an Varèse und sein Werk Octandre. Der Titel klingt zwar italienisch, hat aber keine Bedeutung. (Ich kenne auch keine Person namens Celindano.) Stattdessen ist er von den Namen der Instrumente und der Instrumentenfamilien im Stück abgeleitet: BRAss, STRIngs, PERcussion, CELeste, wINDs und piANO. Ascent: Two Perspectives ist ein Werk in zwei Sätzen, die jeweils auf unterschiedliche Weise mit einer einfachen Idee umgehen: Aufstieg. Der erste trägt den Titel Concave and somewhat Brownian [Konkav und leicht brownsch]. Dieser Satz steigt anfangs langsam, dann allmählich schneller. Der Aufstieg wird ständig von kleineren steigenden Bewegungen unterbrochen, jedes Mal mit anschließenden Abstiegen, welche die Musik dann zur Ausgangslage zurückführen. Der zweite Satz heißt Convex. Variations [Konvex. Variationen]. Er beruht ebenfalls auf einer einzigen aufsteigenden Figur, allerdings steigt diese anfangs schnell und am Ende langsam. Diese Figur wird zwölfmal wiederholt. Bei jeder Wiederholung verändern sich unter anderen Parametern Klangfarbe, Tempo und Artikulation, um eine Reihe verschiedener Perspektiven auf eine einfache, konvex geformte aufsteigende Geste zu schaffen. Ssoonro ist ein Kompositionsauftrag von Christoph Wichert und SETTS (Southeastern Ensemble for Today and Tomorrow’s Sounds), einem singapurischen Ensemble für zeitgenössische Musik, das vor allem Werke von Komponist*innen aus Singapur und Südostasien spielt. Das Stück entfaltet seine Harmonik aus sechs Mehrklängen, die nicht nur als Mehrklänge eingearbeitet werden, sondern auch als harmonisches Ausgangsmaterial, das von den vorherrschenden Obertönen der einzelnen Mehrklänge abgeleitet wird. Das Fagott erscheint als wechselhafte Gestalt, schwankt zwischen aggressiven, teils überraschenden Ausbrüchen und subtilen, gar zarten vergänglichen Momenten. Die Elektronik wird auf ähnliche Weise eingesetzt wie in einigen meiner Stücke aus jüngerer Zeit; sie erweitert nicht nur die klanglichen Möglichkeiten der jeweiligen Instrumente, sondern ahmt diese Möglichkeiten auch durch die eigenen technischen Mittel nach. Hauptsächlich dienen sie als Echokammer für das harmonische Material. Am Anfang werden zum Beispiel Aufnahmen der einzelnen Mehrklänge »granularisiert« – durch die Technik der Granularsynthese ausgedehnt –, was zu Klangwolken führt, die sich allmählich entfalten. Ein langer Nachhall wird für den Großteil des Stücks dem Fagott hinzugefügt, um aus seinen unmittelbaren Aktivitäten ein harmonisches Feld herzustellen. Die harmonische Welt der Mehrklänge wird von der Elektronik mittels FM-Synthese erweitert und nachgeahmt, wobei die Synthese eingesetzt wird, um künstliche Mehrklänge um einen wiederholten Fagottton herum zu produzieren. Der Name Ssoonro setzt sich aus den Wörtern baSSOON und electROnics zusammen. »Re« ist das Präfix für so viele Wörter, die für die Beschreibung meiner Musik relevant sind: repeat [wiederholen], revisit [wieder aufgreifen], reconsider [überdenken]. Das Werk Re befasst sich mit ähnlichen musikalischen Erkundungen wie andere Stücke aus der gleichen Zeit, also um 2010 (dieses Stück ist das älteste auf der CD). Material kehrt stets wieder, allerdings in leicht oder auch radikal veränderter Form. Der Charakter und das Ausmaß dieser Veränderungen erneuern unser Verständnis von der Identität des Materials. Allgemein betrachtet, entwerfe ich drei Welten aus den drei Instrumenten – jedes verwendet ein einzigartiges Material, vor allem am Anfang. Im Laufe des Werks löst sich aber die Unterscheidung zwischen den Rollen der jeweiligen Instrumente auf, sowie von den zwei Arten von Material – dem lyrischen und dem punktuellen. Peter Ivan Edwards Programm:
|