René Wohlhauser: Kasamarówa

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Artikelnummer: NEOS 11605 Kategorie:
Veröffentlicht am: Juni 16, 2016

Infotext:

RENÉ WOHLHAUSER · KASAMARÓWA

DER KASAMARÓWA-ZYKLUS
für Sopran und Bariton


Blay
 für Sopran und Bariton (2009), auf ein eigenes lautpoetisches Gedicht,
Ergon 40, Nr. 2, Musikwerknummer 1519

Blay für Sopran und Bariton ist gleichzeitig das zweite Stück des Zyklus Iguur – Blay – Luup, der seinerseits der vierte Teil des großen Marakra-Zyklus ist, und das erste Stück des Kasamarówa-Zyklus. Es stellt also eine Art Bifurkationspunkt dar, eine Spaltung eines musikalischen Entwicklungsflusses in zwei eigenständige Flusssysteme.
In der Emblematik der fiktiven Sprache Sulawedisch bedeutet Iguur eine Metapher, die in Blay durch eine unerwartet hervorgerufene Resonanz verrätselt wird, um in Luup in veränderter, sozusagen geläuterter Gestalt und in anderem Kontext wieder aufzuerstehen.
Blay ist durch verschiedene Strukturtypen in drei formal klar unterscheidbare Teile gegliedert, voneinander jeweils durch kurze gesprochene Zwischenspiele getrennt und durch ein System von Tempo-Modulationen sich allmählich beschleunigend. Während es sich bei den ersten beiden Teilen dieses Stücks um Kanons handelt, besteht der dritte Teil aus der Transformation eines Duos des Kanonmeisters aus dem 15./16. Jahrhundert, Pierre de la Rue, dem Zeitalter der Entstehung der Emblematik in der europäischen Kunst.


Charyptin-Fragmente
 für Sopran und Bariton (2010), auf ein eigenes lautpoetisches Gedicht,
Ergon 42, Nr. 2, Musikwerknummer 1557

In diesem Stück geht es um das Ausloten der verschiedenen Zwischenbereiche zwischen Geflüstertem, Gesprochenem und Gesungenem, um die Suche nach Zwischenräumen und nach einer anderen Kategorie von Material, das weder gesprochen noch gesungen wird. Es sollen zerbrechliche Zustände des vokalen Ausdrucks hörbar gemacht werden.
Das Stück besteht aus drei Zyklen, wobei der 1. Zyklus in 6 jeweils nur kurz aufleuchtende und gleich wieder verschwindende Phrasen unterteilt ist, der 2. Zyklus von einer durchgehenden Baritonlinie zusammengehalten wird, auf die der Sopran seine Kontrapunkte setzt, und der 3. Zyklus besteht aus einem Krebskanon beider Stimmen mit Bariton-Epilog in der Umkehrung.
Die lautpoetischen Texte reflektieren die angewandten (»kryptisierenden«) Kompositionsverfahren, indem beispielsweise der Titel Charyptin in auseinander gerissenen, lautklangähnlichen Textfragmenten versteckt ist und umspielt wird, ohne jedoch selber genau in Erscheinung zu treten.

Marakra Code 02.2 für Sopran und Bariton (2011), auf ein eigenes Gedicht zwischen Lautpoesie und Halbsemantik,
Ergon 44, Nr. 6, Musikwerknummer 1619

Ein Code ist u.a. ein Schlüssel zum Übertragen von chiffrierten Texten in Klartext und umgekehrt. So gilt beispielsweise im Morsecode ein Punkt als Funktion oder Abbildung des Buchstabens »e«. Oder in der Technik gilt die Geschwindigkeit als Funktion des Weges und der Zeit.
Gibt es einen Code, der unvertraute Lautfolgen verständlich werden lässt? Diese Frage kann sich sowohl auf Sprache wie auch auf Musik beziehen. Es gibt z.B. die bekannte Frage, ob es einen Code zum Hören bzw. Verstehen von zeitgenössischer Musik gibt. Interessanter wäre für mich die Frage, ob es einen Code gibt, mit dem wir Tore zu noch unentdeckten musikalischen Welten aufstoßen könnten.

Uom Raswékje für Sopran und Bariton (2012), auf eigene formantengenerierte Phoneme,
Ergon 45, Nr. 1, Musikwerknummer 1637

Es gibt die Möglichkeit, einen Text (oder mehrere Texte) in traditioneller Weise zu vertonen, indem die Musik die Stimmung des Textes nachzeichnet. Es ist auch möglich, dass die Musik den Text ironisch hinterfragt oder konterkariert. Des Weiteren ist es möglich, dass die Musik bewusst gegen den Text komponiert wird. Als weitere Variante kann die Musik so konzipiert werden, dass sie nicht auf den Text eingeht und ihren eigenen Weg verfolgt.
Dann gibt es die umgekehrte Möglichkeit, die darin besteht, zuerst die Musik zu komponieren und dann dazu passende Texte zu suchen.
In den letzten Jahren habe ich an einer weiteren Möglichkeit gearbeitet. Ich habe Musik komponiert und danach in die Formantenstruktur dieser Musik hineingehört, um in einem Transformationsprozess aus den instrumentalen Klängen die Vokalformanten herauszuhören. Daraus ergaben sich verschiedene, aus der jeweiligen Musik gewonnene (lautpoetische) Kunstsprachen. Auf diese Weise erreichte ich eine engere Verbindung zwischen Musik und Sprachklang, als wenn die Texte von außen kommen.
Der Schwerpunkt meiner Forschungsarbeit im vorliegenden Stück lag darin, dass ich von obertönigen Resonanzklängen und gesprochenen Zischlauten als Ausgangsmaterial ausging und eine möglichst strenge Weiterentwicklung komponierte, um dann daraus das formantengenerierte phonetische Sprachmaterial zu gewinnen. Auf diese Weise versuchte ich, durch möglichst dichtes Ineinanderverweben des Vokalen und Instrumentalen, zu einer möglichst engen Verbindung von Musik und Sprachklang zu gelangen.

Mera gor nit für Sopran und Bariton (2013), auf einen eigenen lautpoetischen Text,
Ergon 48, Musikwerknummer 1657

Wenn jeder Text zu profan wirkt, um in Musik gesetzt zu werden, bleibt nur noch die völlige Absenz des Textes. (Literarische Texte von hoher Qualität können profan und deshalb ungeeignet werden, wenn sie schon zu oft benutzt worden sind und dadurch abgenutzt und verbraucht wirken.  Dieser Substanzverlust tritt ein, wenn die Essenz ihre Kraft verbraucht hat. Wenn Abgenutztes wiederverwendet wird, wirkt es trivial und oberflächlich.) Die völlige Absenz von Text führt zu einer reinen Vokalmusik.
Das Stück beginnt auf einem einzigen Vokal. Erst allmählich, nachdem die reine Vokalmusik sich etabliert hat, wird der Ausgangsvokal verändert, wodurch sich die Musik verfärbt. Und erst am Ende des Stückes, nachdem die Musik der Tonhöhen bereits verklungen ist, findet Text in Form von assoziativer (unverbrauchter) Lautpoesie noch kurz Eingang ins Stück.
Langsame Bewegungen, wie unter dem Mikroskop, sind kennzeichnend für dieses Stück. Dadurch ergibt sich eine starke Sogkraft der großen Ruhe. Eine meditative Versenkung in der Musik. Das Sicheinlassen in die musikalische Ausdruckskraft.
Analog zur Absenz der Textsemantik fehlt in der musikalischen Struktur jegliche prägnante Melodik und Rhythmik. Dadurch wird die Aufmerksamkeit ganz auf die Wahrnehmung der intervallischen Progression gelenkt, die grammatikalisch streng gestaltet ist und durch Mikrotöne und Glissandi differenziert und verfeinert wird. Diese Klangprogression bildet einen wesentlichen Grundgehalt der Klanggeschichte dieses Stückes.

Kasamarówa für Sopran und Bariton (2014), auf ein eigenes lautpoetisches Gedicht,
Ergon 52, Musikwerknummer 1697

Mit Bezug auf die klassische Vokalpolyphonie, die seit der Notre-Dame-Epoche im Spätmittelalter die abendländische Mehrstimmigkeit begründete, geht es in diesem Stück um die Rückbesinnung auf die essentiellen Ausdrucksparameter dieser Kompositionsweise, um in einen magischen Zustand zu gelangen. Die melodisch-horizontale Dimension der Bewegung und die kontrapunktisch-intervallische Qualität des Zusammenklangs erzeugen ein Fließen in der Zeit. In diesem Zeitfluss geht es primär um ein Ausloten der spezifischen Färbungen der Intervalle und ihrer Farbrelationen zueinander.
Die Farbe und die Wirkung eines Intervalls, z.B. der Oktave, ist komplett unterschiedlich, je nachdem ob sie in hoher, mittlerer oder tiefer Lage erklingt, ob sie am Anfang oder am Schluss einer Phrase steht, ob sie nach einem anstrengenden Aufstieg im Forte erklingt, ob sie sotto voce ganz entspannt erzeugt wird oder ob sie, wie am Schluss des Stückes, mit vielen bewegten Konsonanten eingefärbt wird.
Das Sein im Klang als Gegenwart des Gegenwärtigen, welches das Sein in der Zeit aufhebt, hat demnach eine fundamental existentielle Bedeutung für die Erfahrung von Zeitlosigkeit.
Die Überwindung der Zeitlichkeit im Denken durch das Eintauchen in die Klanglichkeit der Musik und der Sprachlichkeit im Lautpoetischen ermöglichen somit das Sein im Seienden.

IGUUR für Bariton solo (2009), auf ein eigenes lautpoetisches Gedicht,
Ergon 40/1c, Musikwerknummer 1531

Verschiedene Texturtypen prägen das Stück Iguur für Bariton solo: Zu Beginn werden gedrängte Notschreie in die Stille geworfen, voneinander durch Spannungspausen getrennt. Allmählich wird dagegen dialektisches Kontrastmaterial infiltriert (quasi Gesprochenes). Nach einer Akzentuierung der Kontraste im 2. Teil, wird der 3. Teil viel dichter und bewegter, um dafür als Ausgleich am Schluss in langen Tönen und in einen ganzen Takt Pause zu münden. Die Glissandi stehen formal am Anfang des 4. Teils, der sich nun spezieller und experimenteller gestaltet, bis erstmals richtig Gesprochenes den Beginn des letzten Teils markiert, in dem verschiedene Texturtypen zusammenkommen.

DER SULAWEDISCHE ZYKLUS
Sulawedische Lieder, Gesänge und Vokalstücke auf eigene lautpoetische Texte für Sopran, Bariton (beide auch als Musiksprechstimmen) und Klavier (2005 / 2006 / 2008 / 2009),
Ergon 31, Nr. 1–7

Der siebenteilige Zyklus ist so angelegt, dass jedes Stück einen anderen Aspekt behandelt: Durchsichtigkeit, Akkordik, Auflösung / Punktualität, am Rande des Singens, Musiksprechen, Tastenoberflächenspiel, Obskurität. Diese Abfolge zeigt gleichzeitig die musikalische Entwicklungsrichtung an. Die Reihenfolge der Stücke lautet:

1. gelsüraga für Sopran und Klavier (2005), Ergon 31, Nr. 1, Musikwerknummer 1183
2. hang gomeka für Sopran und Klavier (2005), Ergon 31, Nr. 2, Musikwerknummer 1304
3. suragimanä (»Zerdehnte Zeit«) für Sopran und Klavier (2006), Ergon 31, Nr. 3, Fassung b, Musikwerknummer 1306
4. Duett (»Am Rande des Singens«) für Sopran und Bariton a cappella (Ergon 31, Nr. 4, Version a)
in der 3. Fassung (2008, Musikwerknummer 1481)
und in der Appendix-/double-Fassung für Bariton solo (Ergon 31, Nr. 4, Version b, 2008, Musikwerknummer 1488)
5. flutching music, ein Musiksprechstück für zwei Personen (Ergon 31, Nr. 5, Fassung a, 2005, Musikwerknummer 1173),
oder für zwei Personen in der Fassung für eine Person allein (Ergon 31, Nr. 5, Fassung b, 2005, Musikwerknummer 1489)
6. sulla tastiera für Musiksprechstimme und Tastenoberflächenspieler/in (Ergon 31, Nr. 6, Fassung a.1, 2005, Musikwerknummer 1177),
oder als virtuelles Duett für einen sprechenden Klaviaturspieler allein (Ergon 31, Nr. 6, Fassung a.2, 2005, Musikwerknummer 1177b),
oder für Musiksprechstimme und sprechenden Klaviaturspieler (Sprechfassung, Ergon 31, Nr. 6, Fassung b, 2005 / 2009, Musikwerknummer 1515)
7. Ausklang für tiefes Klavier (2006), Ergon 31, Nr. 7, Musikwerknummer 1313

Die Stimme durchläuft einen Prozess der Verwandlung vom Normalgesang über Techniken des sog. Neuen Singens bis zum Musiksprechen in verschiedenen Kombinationen, während das Klavier vom Normalklang über Pausen zum nur noch geräuschhaften Tastenoberflächenspiel gelangt. Durch die mit diesem Verwandlungsprozess einhergehenden zunehmenden Besetzungswechsel bzw. Besetzungsvarianten (Vokalduo oder -solo, Musiksprechduo oder -solo, Geräuschklangduo, Dunkelklavier solo; daher die Differenzierungen in den Titeln) wird das anfänglich noch traditionelle Klavierlied bzw. Liedduo ästhetisch aufgebrochen, zumal sich auch die lautpoetischen Texte allmählich auflösen und im letzten Stück völlig verstummen.

Jedes lautpoetische Gedicht der ersten drei Stücke des Zyklus hat eine jeweils in sich geschlossene Sprachfärbung und einen Sprachrhythmus und auch so etwas wie eine grammatikalische Struktur einer Kunstsprache. Sozusagen semantisch aufgeladen werden sie aber erst durch die Gestik der Musik. Dadurch klingen sie wie eine Sprache, die man manchmal vermeint zu verstehen, dann aber doch nicht ganz versteht. (Bereits im Titel bemerkt man, dass es nicht »sulawesisch«, sondern »sulawedisch« heißt.) Dieses Sichbewegen an der Grenze der Verständlichkeit und somit auch an der Grenze der Kontrollierbarkeit zwischen Bewusstem und Unbewusstem, wo man vielleicht die Vision einer anderen Klangwelt erahnen kann, ist etwas, was mich sehr interessiert.
René Wohlhauser

Die Vokaltexte finden sich auch unter www.renewohlhauser.com
Dort ist auch der Essay Eine absolute Vokalmusik – Zu meiner Lautpoesie nachzulesen.

Programm:

Kasamarówa
Vocal chamber works by René Wohlhauser, performed by the Duo Simolka–Wohlhauser and premiered by the duo at European tours in 2005–2014

The Kasamarówa Cycle 43:30
[01] Blay for soprano and baritone (2009) 05:30
[02] Charyptin-Fragmente for soprano and baritone (2010) 04:37
[03] Marakra Code 02.2 for soprano and baritone (2011) 06:27
[04] Uom Raswékje for soprano and baritone (2012) 07:56
[05] Mera gor nit for soprano and baritone (2013) 08:34
[06] Kasamarówa for soprano and baritone (2014)10:26

[07] Iguur for baritone solo (2009) 04:27

The Sulawedic Cycle 25:51
[08] gelsüraga for soprano and piano (2005) 02:50
[10] hang gomeka for soprano and piano (2005) 02:52
[11] suragimanä for soprano and piano (2005) 05:08
[12] Duett for soprano and baritone (2008) 02:57
[13] flutching music for two musical speakers (2005) 02:48
[14] sulla tastiera for musical speaker and piano (2005) 04:06
[15] Ausklang für tiefes Klavier for piano (2006) 02:10
Appendix:
[16] Duett double version for baritone solo (2008) 03:00

total playing time: 73:48

World Premiere Recordings

Christine Simolka, soprano
René Wohlhauser, baritone / piano

Pressestimmen:

03/2017

„Die ‚Wohlhauser-Edition‘ bei NEOS steht mit Kasamarówa nun sozusagen bei „Band“ 4. Die CD vereint zwei Zyklen (…) Hier greifen also Flusssysteme und Sprachsysteme einer persönlichen Geographie ineinander (…) Aufgenommen und produziert sind die Stücke höchst sorgfältig, und das Duo Simolka-Wohlhauser liefert archaische Spracharbeit und eine intonatorische Meisterleistung ab. (…) macht die beiden CDs*, die auch in den Booklet-Texten detailreiche Informationen mitgeben, zu weit mehr als bloßer Werkdokumentation.“ (Andreas Fatton)

* Andreas Fatton schreibt in seinem Artikel über zwei NEOS-CDs mit Musik von Wohlhauser: „Kasamaròwa“ und „Manía“ (NEOS 11416)

 

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