René Wohlhauser: Quantenströmung

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Artikelnummer: NEOS 11309 Kategorie:
Veröffentlicht am: Januar 7, 2014

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RENÉ WOHLHAUSER – QUANTENSTRÖMUNG

Klavierquartett
Fassung für Flöte, Klarinette, Violoncello und Klavier (1979/83–84, teilrev. 1987), Ergon 9b

Im Klavierquartett wurde der Versuch unternommen, die Tiefendimension auszukomponieren, was zu einer gedrängten Dauer der Musik, zu einer Art »Texturpolyphonie« führte.
Dem steht das Ausleuchten der klanglichen Antagonisten gegenüber, die nur in den tonhöhenlosen Teilen zusammenfinden, ansonsten aber auf der Zeitachse über weite Strecken ihre jeweils eigene Mikrozeit gestalten, was sich in einer Art »transitiven Schichtenüberlagerung« manifestiert.
Durch ein Netzwerk proportionaler Relationen, die sich in ungewöhnlichen, sich gegeneinander verschiebenden Sub-Taktarten niederschlagen, wurde versucht, ein Gefühl von »Zeitverschiebung« zu suggerieren.
Asynchron zu diesen Prozessen verläuft die Zuordnung der Register im Sinne überlagerter Pass-Filter-Funktionen.

Duometrie
für Flöte(n) und Bassklarinette (1985–86), Ergon 12

Der Titel Duometrie weist darauf hin, dass ich die ganze Musik dieses Duos aus den prädeterminierten Metren, d. h. aus den im voraus bestimmten Taktarten entwickelt habe; solcherart, dass sich alle musikalischen Gestalten im Sinne einer (vielleicht etwas utopischen) hermetischen (in sich geschlossenen) Ästhetik sozusagen als eigendynamische Prozesse aus wenigen vorausgesetzten Ordnungs-Prämissen herausbilden sollten.
Die Art und Weise des Entfaltens hinsichtlich der Zeitgestaltung und der Zeitstrukturierung war sicherlich wesentlich durch meine damalige Auseinandersetzung mit philosophischen Aspekten der Zeit beeinflusst.
Zum Beispiel durch den imaginären Zeitbegriff. Imaginär bezeichnet der geniale englische Physiker Stephen Hawking in seinem Buch Eine kurze Geschichte der Zeit die zur horizontal liegenden, linearen Zeit zusätzlich vertikal stehende imaginäre Zeitrichtung, damit in der daraus entstehenden geschlossenen Fläche ohne Anfang und Ende sowohl die Naturgesetze als auch das Unbestimmtheitsprinzip (also sowohl Ordnung als auch Chaos) gleichzeitig denkbar sind, weil diese Fläche in ihrer Unendlichkeit fast eine Art Kugelgestalt annimmt.
Diese imaginäre Zeitrichtung steht in Verbindung zur komplexen dramaturgischen Zeitorganisation des Stückes, und äußert sich u.a. darin, dass für beide Spieler die Zeit nicht synchron abläuft, da sie sehr oft verschiedene Tempi gleichzeitig gegeneinander zu spielen haben.

Gedankenflucht
für Violoncello und Klavier (1995), Ergon 22

Unterschiedliche Stimmungen, die ineinander fließen. Ein Stück über die Ablenkung durch die alltägliche Informationsflut. Über Diskontinuitäten und Brüche in Lebensläufen, die der menschliche Geist gerne zu Kontinuitäten zurechtbiegen möchte. Die Suche nach dem roten Faden, der unser Leben zusammenhält, weil wir das geistige Auseinanderfallen in partikulare Erlebnismomente nicht aushalten.
Der Ideenreichtum, eine kreative Segnung auf der einen Seite, die aber auf der anderen Seite auch zur Last werden kann, wenn ein Komponist oder Schriftsteller die Einheit des Denkens sucht. Die Angst vor dem irren, neurotischen Treiben-lassen der Gedanken, das uns jedoch, zusammen mit dem sprunghaften (Quer-)Denken zu neuen Erkenntnissen führen könnte, wenn wir es wagen würden, es zuzulassen. Die Angst, die geordneten Bahnen der alltäglichen Verrichtungen zu verlassen und uns dem Ungewissen und Unvorhersehbaren auszusetzen. Kann uns Kunst diesbezüglich neue Wege aufzeigen?
Dem entspricht im Kompositionsprozess die Dialektik zwischen der verlangsamten intuitiven Improvisation einerseits und andererseits der strengen planenden Konstruktion sowie der deterministischen Verfahren. Die Krise der analytischen Rationalität könnte dazu führen, dass durch die Irritationen der Wahrnehmung die formalen Orientierungskategorien ins Fließende entschwinden und neuen Hörerlebnisformen Platz machen, was wiederum ermöglichen würde, hintergründige Sinnhaftigkeit im Subtext eigendynamisch fließender Kraftströme zu entdecken.

Quantenströmung
Fassung für Flöte, Violoncello und Klavier (1996/97), Ergon 23b

»Quantenströmung« bezeichnet nach Gilles Deleuze den Übergang von einem Energiezustand in einen andern. Wobei mich von den verschiedenen Energieformen in diesem Stück vor allem die potentielle und die kinetische Energie interessierten: Aus welcher Lagebeschaffenheit und Lagebefindlichkeit bzw. Energiedichte und Energietransformationsfähigkeit lädt sich ein Energiepotential auf, das einen Prozess in Gang zu setzen vermag? Die Gravitation dieser Energiefelder wird in diesem Stück durch eine formal zyklische Anlage suggeriert, realisiert durch eine Grammatik der Entsprechungen.
Energeia und Dynamis umschreiben das Wirkumsquantum der Potenz als Prinzip der Bewegung und Veränderung. Nach Aristoteles ist Energeia »die wirkliche Tätigkeit des Möglichen«, Dynamis dagegen das dem »Vermögen nach Seiende«: die Wirklichkeit als zielgerichtete Kraft der Verwandlung.
Im Stück selber finden sich gegenläufige Bewegungstendenzen, die eine dialektische Spannung aufbauen sollen: Beispielsweise schnellere Tempi bei ruhigen Passagen und bei bewegteren Abschnitten eine Verlangsamung. Biomorphe Strukturen, amöbenhafte, aber präzise Figurationen im Wechselspiel strengerer und freierer Teile gestalten den Mikrobereich, während die Technik der unabhängigen Ebenen und die Technik der verschmelzenden Ebenen sich im Großen kontrastieren. Verschiedene Dichtegrade wie Komplexität und Durchsichtigkeit ergeben gegensätzliche Ausdruckswerte, die durch bewusste Gestaltung des stilistischen Umfeldes dennoch dem Prinzip einer in sich kongruenten Ästhetik folgen.
Die Beobachtung und Gestaltung von fragilen Übergangszuständen betrifft in der Musik aber nicht nur physikalische, philosophische und kompositionstechnische, sondern auch spirituelle Energiequanten. Die Energie der Gedankenströme zwischen Verwirrung und Befreiung. Die Verschmelzung des offenen Bewusstseins in die Auflösung des Lichts, das in uns hinunterströmt. Die Ausbreitung des lichten Klangs in seiner durchsichtigen Form im Raum. Die Transzendenz in grenzenloses Licht.

Die Auflösung der Zeit in Raum
Fassung für Klarinette / Bassklarinette, Violoncello und Klavier (2000–2001/2011), Ergon 26f, Musikwerknummer 1607

Wie lässt sich musikalische Zeiterfahrung in einem anderen Bewusstheitszustand erleben?
Wie erhalte ich als Komponist einen möglichst direkten Zugriff auf das unkontrollierbare musikalische Unterbewusstsein?
Wie lässt sich aus dieser eigenartigen emotionalen Archaik gleichzeitig ein Prozessverlauf auf differenziertem strukturellem Niveau und in urwüchsiger Zeitgestaltung entwickeln?
Welche Möglichkeiten gibt es, eine frei schwebende, improvisatorisch wirkende Rhythmik unmittelbar in die präzis fixierte, kodifizierte Notenschrift zu übertragen, und dies, ohne mich in hochkomplexer Notation zu verlieren, sondern mittels konventioneller Schreibweise, die aber unkonventionell strukturiert ist?
Wie kann man heute noch für Klavier komponieren, so dass das Klavier wie ein neues Instrument aufklingt? (Ohne aber auf Präparationen und elektronische Transformationen zurückzugreifen?) Aus dieser Fragestellung ist der Anfang des Stückes entstanden.
Wie lassen sich existenzielle Erfahrungen mit musikalischen Mitteln ausdrücken? Das Suchen, das Immer-wieder-versuchen, das Neu-ansetzen, das In-sich-hinein-horchen. Der träge Fluss des täglichen Überlebenskampfes. Wenn alle Hilfskonstruktionen versagen. Wenn nur noch das improvisierende Sich-vorantasten in unübersichtlich komplexem Umfeld bleibt, das Vertrauen auf die eigene Sensibilität.
Im Bewusstsein dieser Fragen habe ich versucht, Verfahren zu entwickeln, die die Intuition möglichst ohne vergröbernde Raster in musikalischen Ausdruck umzuwandeln vermögen. Die Wechselbeziehung zwischen Bewusstwerdung und Bewusstseinsverlust, wie Derrida den Dekonstruktivismus beschreibt und wie ich ihn aus dem gegenwärtigen Zeitgeist herauszuspüren vermeine. Ein Prozess komplexer Fragmentarisierung. Klangscherben, die nicht zusammenpassen, die aber miteinander leben müssen und eine Musik am Abgrund ihrer selbst erzeugen. Ein Auflösungsprozess, eine Art Dekonstruktivismus der Zeit, bei dem sich die vertraute Erfahrung im Unendlichen verliert.
Gemeint ist dabei nicht nur eine geographisch-physikalische Räumlichkeit, sondern auch eine klangliche. Und zwar die Tiefendimension des Klangraumes, die sich nur in der Zeit zu entfalten vermag, in der also Raum und Zeit zusammenkommen und ineinander verschmelzen.
Ein Stück über die Verflüchtigung der Zeiterfahrung in der Unendlichkeit des Raums.

Studie über Zustände und Zeitprozesse
für Flöte und Klavier (2007), Ergon 35, Musikwerknummer 1351

Gemessene Zeit, empfundene Zeit, gefrorene Zeit. Von der Bewegung zum zeitlichen Stillstand. In mehreren Stadien bzw. Zuständen wird dieser Weg zurückgelegt, wobei ein besonderes Augenmerk dem formalen Timing, d. h. dem Verhältnis von Materialbeschaffenheit und seiner Dauer gilt.
Dieses Material erkundet Randbereiche des Klanglichen beider Instrumente, ohne aber auf die in der aktuellen zeitgenössischen Musik modischen Geräuschklänge zu rekurrieren, sondern es wird versucht, die klanglichen Randbereiche innerhalb der normalen Tonerzeugung aufzuspüren. (Beispielsweise bei der Flöte extrem kurze Tondauern, so dass der Eindruck eines ersterbenden Klanges entsteht, der gar nie richtig zum Klingen kommen kann. Oder beim Klavier eine Bevorzugung des tiefsten Registers, in dem das Klangliche über die distinkte Tonhöhe dominiert.)
Im ersten Teil: Präzise definierte Anzahl Töne bei Tonfolgen, prädeterminierte Pausendauern und Abschnittsdauern, melodische Direktionalität. Die mittels strenger algorithmischer Verfahren erzeugten Tonhöhen sind in ihren Bewegungen stark eingeschränkt, damit die Aufmerksamkeit des Hörers sich auf die anderen Prozesse richtet (Verdichtung–Verdünnung, Registerfilter usw.). Die sachliche, direktionslose Radikalität, nüchtern und kompromißlos, sowie harte Filmschnitte verhindern jegliches Schwelgen. Die Struktur wird auf das substanziell Notwendige reduziert. Jedoch: je strenger die Struktur definiert wird, desto mehr tendiert sie zur Ambivalenz, zum Kippen ins Strukturlose. Dadurch wird das streng definierte strukturelle Korsett allmählich ad absurdum geführt.
Im zweiten Teil: Offene Zeitlosigkeit. Meditative Klanggestaltung. Frei assoziativ und doch mit dichten strukturellen Bezügen.
Im dritten Teil: Das Einfrieren des Klanges.
Es ist ein Spiel mit der menschlichen Wahrnehmung in Bezug zum Ablauf der Zeit, indem die menschliche Wahrnehmung gerne Zusammenhänge schafft, wo fast keine vorhanden sind. Wie werden welche Felder von wem zu welchen Sinneinheiten zusammengenommen? So trennt die längste Pause des Stückes (über 13 Sekunden von Takt 136–140) identisches Material in separate Abschnitte, während umgekehrt kontrastierende Materialien in gemeinsame Abschnitte zusammengezwungen werden. Eben eine Studie über Zustände und Zeitprozesse und ihre Wahrnehmung.

Ly-Gue-Tin
eine (nicht ganz ernst gemeinte) klingende Werkmonographie für Stimme(n) und Klavierklänge, komponiert zur Einweihung der Lebenstafeln von Jean Tinguely in Basel an seinem 83. Geburtstag (22. Mai 1925 – 30. August 1991), auf eigene lautpoetische Texte (2008), Ergon 38, Musikwerknummer 1493

Der weltberühmte Eisenplastiker Jean Tinguely wurde in Basel geboren. Er ist vor allem durch seine beweglichen, maschinenähnlichen Skulpturen bekannt geworden, die teilweise an merkwürdige menschliche Bewegungsmuster aus der Arbeitswelt erinnern. Seine motorenbetriebenen Maschinenplastiken setzte er aus Draht, Blech und allerlei anderen Fundstücken und Schrottelementen zusammen und reflektierte damit in oft witziger und verspielter Weise die menschliche Gesellschaft und ihre Abfallberge.
So wie Tinguely einzelne Elemente aus der realen Lebenswelt nahm und sie zu surrealen Konstruktionen zusammenfügte, so habe ich einzelne phonetische Elemente aus der realen Sprachwelt genommen und sie zu einer surrealen Kunstsprache zusammengefügt, und dies mit einer eigenen Sprachfärbung, einem spezifischen Sprachrhythmus und assoziativen Anklängen an bestehende Sprachen. Und analog dazu bin ich auch kompositorisch vorgegangen. Amorphe Klänge und zuckende, mechanische Bewegungsmuster prallen aufeinander und gehen merkwürdige Verbindungen ein. Die Vielfalt von Tinguelys gegenständlichen Skulpturen spiegelt sich in der Vielfalt der musikalischen Skulpturen, die trotz ihrer disparaten Beschaffenheit in skurriler Weise auf gemeinsamen Ausdruck und Kommunikation hindrängen.

René Wohlhauser

Programm:

Quantenströmung
Compositions by René Wohlhauser, played by the Ensemble Polysono
at the European tours 2008* / 2009** / 2010*** / 2011**** / 2012*****

[01] Klavierquartett 08:43
Version for flute, clarinet, cello and piano (1979/1983–1984), partially rev. 1987 ***

[02] Duometrie for flute(s) and bass clarinet (1985–1986)* 03:03

[03] Gedankenflucht for cello and piano (1995) ** 15:49

[04] Quantenströmung Version for flute, cello and piano (1996/1997) **** 12:59

[05] Die Auflösung der Zeit in Raum 14:29
Version for clarinet (& bass clarinet), cello and piano (2000–2001/2011) *****

[06] Studie über Zustände und Zeitprozesse for flute and piano (2007) * 10:37

[07] Ly-Gue-Tin for voice(s) and piano sounds on phonopoetic texts by the composer (2008) ** 10:11

total time: 75:51

Ensemble Polysono
Christine Simolka, soprano • Ursula Seiler Kombaratov, flute
Igor Kombaratov, clarinet • Markus Stolz, cello
René Wohlhauser, piano/baritone/conductor

World Premiere Recordings

 

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