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WARUM EIN BLECHBLÄSERQUINTETT? »Ein Blechbläserquintett assoziiert man gerne einmal mit einer musikalischen Spaßmachertruppe, die vielleicht weiße Turnschuhe trägt und choreographisch organisiert auf der Bühne herumhüpft. Das ist sicher etwas Feines und hat auch seine Berechtigung. Aber es ist nicht das, wofür das Ensemble steht«, meint Matthew Sadler, der Londoner Trompeter des Ensemble Schwerpunkt, das 2009 in Hannover zusammenfand, um dann gemeinsam das Studium bei Mike Svoboda an der Musik-Akademie Basel fortzusetzen. Die Ambition des Quintetts ist eine ganz andere: Es soll diese musikalische Formation von Hörern wie Komponisten endlich ernst genommen werden! Man will für Blechbläserquintett das sein, was das Arditti Quartet für Streichquartett war (und immer noch ist): ein Standards setzendes Ensemble zeitgenössischer Musik. Die Werke dieser Aufnahme und deren Ausführung sind der Klang gewordene Beweis dafür. Spielwechsler. Versteckt wurde vom SWR für die »ars nova«-Reihe in Ravensburg 2016 bei Vassos Nicolaou (*1971) in Auftrag gegeben und vom Ensemble Schwerpunkt aus der Taufe gehoben. Nicolaou fasst sein Werk so zusammen: »Ich wollte ein Bläserquintett komponieren, das anders klingt, als man sich Bläserquintette sonst vorstellt – in erster Linie durch die fast durchgängige Verwendung von Dämpfern. Diese filtern den eigentlichen Klang und verleihen dem Ensemble eine metallische Klang-Eigenschaft. Die Tuba stellt sich als der eigentliche Spielwechsler (›game changer‹) heraus – und sie ist Versteckt, da dieses Instrument generell als das am wenigsten wichtige in so einer Besetzung angesehen wird, sich hier aber als das wichtigste herausstellt.« Luciano Berio (1925–2003), der einzige nicht mehr lebende Komponist auf dieser Einspielung, komponierte Call (1985, für zwei Trompeten, Horn, Posaune und Tuba) aus Anlass der Eröffnungsfeier eines Einkaufstempels. In dem Stück nimmt Berio die Reaktion des Publikums auf die Musik selber vorweg und baut so einen Metawitz ein. Kurz, effektiv und kompromisslos modern, ist Call dennoch das vermutlich eingängigste Werk unter den sechs hier vorgestellten Stücken und nicht von ungefähr ein Standard-Konzertbeginn für Bläserquintett geworden. Einer der großen Vorteile von zeitgenössischer Musik ist es, dass man zu den Werken die Komponisten selbst befragen kann, sofern sie sich nicht weigern (wie Galina Ustwolskaja es tat), sich über die Partitur hinaus zu äußern. Benedict Mason (*1954) ist gottlob nicht so ein Fall. Er schrieb über sein Brass Quintet (1989): »Da man als Blechbläserquintett oft auf Arrangements zurückgreifen muss, kann ein Konzert im Vergleich zu dem eines Streichquartettes zwar ebenso ein Genuss sein, jedoch niemals denselben Anspruch ans Repertoire erfüllen. Und hier liegt nun ein so teuflisches Werk vor, dass man im Grunde ein Arditti-Blechbläserquintett braucht – oder zumindest verlangt, dass es solch ein Ensemble geben müsste. Das Stück fordert über die zu erwartende Robustheit einer normalen Blechbläserkomposition hinaus ein großes Maß an Zartheit und Raffinesse, wie ein Streichquartett. Insbesondere die Tuba benötigt die Grazie eines pirouettendrehenden Babyelefanten, um so die Töne quasi spiccato zu produzieren. Und doch ist alles völlig für Blechbläser gedacht: Das Stück ist kein Arrangement und wäre für Streichquartett keinesfalls geeignet. Wir sehen hier die Welt der ›Sessions‹, sorgfältig in Einzelteile zerlegt, mit Pausen zum Nachdenken … Warten. Füllige Akkorde und Drops, Licks und Fills, wie in improvisierten Bigband-Moñas, Fetzen von Salsa, aufgelesen vom Boden des Aufnahmestudios, alles streng kontrolliert und mit höchstem Anspruch ans Ensemblespiel, oft so leise wie möglich, doch ohne dass Dämpfer zu Hilfe kommen dürfen. Merengue Jams verdrücken sich schlaftrunken in der Hitze, ein Hauch von Son und Zigarrenrauch löst sich in der Obertonreihe auf, läuft auf und ab, in allen Instrumenten, in Schichten und im Kanon. Es folgt eine lange Duchführung; hier werden nun alle Möglichkeiten des Spiels mit Dämpfern erforscht – inklusive des sogenannten Hotel- (oder Übungs-)Dämpfers für die blassesten Klänge molto lontano (wenn man so will, ein Effekt, als ob Musik im Fernsehen aus einem anderen Teil des Hotels zu hören ist). Zurück ins Freie, noch ein Klassiker: Eine Balkan-Band hat einen kurzen Auftritt, der in kniffeligen Taktarten, ›inegalité‹ und metrischen Verschiebungen widerklingt. Nachdem das Stück jahrelang vor sich hindümpelte, bin ich froh, dass das Ensemble Schwerpunkt sich seiner nun mit solchem Fingerspitzengefühl angenommen hat. Die Uraufführung fand im November 2014 statt – zufälligerweise zum 25. Jahrestag der Komposition.« Wenn jedes Instrument oder jede Instrumentenformation auf irgendeine Art seine bzw. ihre Paganini-Etüden hat, könnte Benedict Masons Brass Quintet diese Rolle ebenso gut für Blechbläserquintett spielen. Die Ausführungen von Pascal Dusapin (*1955) über Stanze; Dyade pour quintette de cuivres sind so knapp wie das Werk selbst: »Ich stolperte über den Titel des Werkes – italienisch für ›Zimmer‹ – in dem gleichnamigen Buch des Philosophen Giorgio Agamben und entschied mich dafür einerseits, weil ich den Klang des Wortes mochte, andererseits wegen der passend mitklingenden Assoziationen. Was in dem Werk allerdings ertönt, ist eher mit dem Untertitel beschrieben: Dyade bedeutet in diesem Zusammenhang zwei philosophische Prinzipien, die einander ergänzen. Man kann das Wort allerdings auch so interpretieren, dass es ein Paar von verwandten Gegenständen oder zwei verflochtenen Elementen beschreibt. Oder im biologischen Sinn auch ein aus zwei Chromatiden bestehendes Chromosom – weswegen Stanze bezeichnenderweise meinen Zwillingen Alice und Théo zum 2. Geburtstag (1991) gewidmet ist.« Mit diesem Wissen werden besonders Hörer mit kleinen Kindern zu Hause eher eine häusliche Szene zweier greinender – und dann sich gegenseitig beruhigender – Kleinkinder entdecken als einen komplexen philosophischen Hintergrund. Radix (2013) wurde vom Ensemble Schwerpunkt bei Jarkko Hartikainen (*1981) in Auftrag gegeben und im Gegenzug dem Ensemble gewidmet. Der Komponist beschreibt sein Werk wie folgt: »Radix erkundet die äußersten Randgebiete des für Blechblasinstrumente technisch Möglichen. Es beruht im Kern auf zwei Techniken: Lufttönen, wo schlicht Luft durch das Instrument geblasen wird und wobei keine unbedingt identifizierbare Tonlage entsteht – und der sogenannten ›hand pop‹, wo mit der flachen Hand auf das Mundstück geschlagen wird. Dabei entsteht durchaus, entsprechend der Fingerstellung, ein Ton… ›Schönheit‹ liegt in der Überwindung des Alltäglichen. Schön zu sein heißt in dieser Hinsicht also radikal zu sein. ›Radikal‹ wiederum lässt sich auf die lateinische Wurzel ›radix‹ zurückführen: ›die Wurzel der Dinge‹. Im Akt des völligen Neuüberdenkens eines grundlegenden Aspekts des Alltäglichen können wir, idealerweise, etwas geradezu welterschütternd Schönes entdecken.« Sofia Gubaidulina (*1931) ist weithin als eine der bedeutendsten KomponistInnen der Moderne des 20. Jahrhunderts anerkannt. Leider sucht man in ihrem Œuvre vergeblich nach einem Blechbläserquintett. Aber: Es gibt Quattro (1974) für zwei Trompeten und zwei Posaunen. Dieses drückt Besinnlichkeit und Explosivität nahezu gleichzeitig aus, und die Pausen sind fast genauso wichtig wie die Noten. Es ist ein zu gutes Stück, um bloß wegen des Fehlens von Horn und /oder Tuba hier nicht präsent zu sein. Als sich herausstellte, dass zumindest für die hohen Standards dieser Aufnahme ein Nicht-Posaunenspieler dem zweiten Posaunenpart wohl kaum gerecht werden konnte, doppelte Mikael Rudolfsson seine erste Stimme per »overdub« mit der eigens aufgenommenen Spur der zweiten. Jens F. Laurson Programm:
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