Guardian: Top 10 Classical Recordings of 2023
Infotext:
Was ist mit Worten und was ist mit Singen Dieses Album ist ein unvollständiger Überblick über Vokalwerke aus der Komponist:innengeneration, die in den 1950er oder 1960er Jahren geboren wurden und in eine europäische Szene eintauchten, die sich einem selbstbewussteren ästhetischen Pluralismus zuwandte, basierend auf der Lockerung und Zersplitterung der vorherrschenden musikalischen Hegemonien. Auf jeweils eigene Art gelingt es allen hier vertretenen Komponist:innen, den natürlichen lyrischen Charakter der Stimme mit der für die Mitte des Jahrhunderts typischen Ablehnung – ob durch das Zerlegen der Sprache und ihrer Bedeutung oder durch die »neutralisierende« Strategie einer instrumentalen Behandlung der Stimme – der jüngeren historischen Last eben jener Lyrik zu verbinden. Es scheint, als würde die Stimme hier über die Zeit hinweg singen. Von einem Augenblick zum nächsten wechselt sie von Anklängen an die Renaissance-Polyphonie zum Ausblick in die Zukunft mit Klängen wie aus einer anderen Welt; mal beschwört sie die Intimität, mit der ins Ohr geflüstert wird, dann bricht die ganze Dramatik eines leidenschaftlichen Belcanto-Appells hervor. Gerade das finde ich aufregend. Die Stimme ist gänzlich verkörpert, in ihre tatsächliche Geschichte integriert und gleichzeitig mit ihrem möglichen Vermächtnis verbunden. Wenn es zwischen diesen Stücken gemeinsame Themen gibt, haben sie mit Instabilität und Ungewissheit zu tun. Sofern ein Text jegliche Bedeutung in sich trägt, ringt er wahrscheinlich mit den großen Fragen. Wer bin ich? Was ist dieses Leben? Was ist der Tod? Dieses existenzialistische Hinterfragen spiegelt sich oft in rastlosem musikalischem Material wider, das scheinbar zittert oder pocht, während es einen Weg vorwärts findet: Tonhöhen entgleiten oder nisten sich in Zwischenräumen ein, Rhythmen ruckeln und springen oder kreisen in obsessiven Wiederholungsschleifen um sich selbst, und manchmal gibt der Klang einfach den Geist auf. Wie gesagt: Dies ist ein unvollständiger Überblick. Er zeigt eine bestimmte Haltung zum Komponieren von Vokalwerken, auch wenn die Ansätze angenehm unterschiedlich sind. Als Portrait einer Interpretin ist er ebenfalls unvollständig, vielleicht auch etwas beliebig. Einige Stücke sind feste Bestandteile meines Repertoires; andere habe ich im Studio zum ersten Mal aufgeführt. Das ganze Album sollte 2019 aufgenommen werden, letztlich war das Projekt aber erst nach über drei Jahren abgeschlossen. Als Dokument meiner Arbeit hält es vielleicht etwas fest von diesem weiten, langsamen Weg zur künstlerischen Reife. Es ist oft ein recht einsamer Weg, aber die Momente, in denen man neben einem Weggefährten im Gleichschritt läuft, sind immer ein willkommenes Abenteuer. Irgendwie ist eine Äußerung immer ein Gespräch, sei es auch nur ein Dialog mit dir, dem imaginären Hörer. Juliet Fraser |
Programm:
Rebecca Saunders (*1967)
[01] O für Solo-Sopran (2017) * 11:23
Enno Poppe (*1969)
[02] Wespe für Solostimme (2005) 07:24
Beat Furrer (*1954)
[03] Spazio Immergente I für Sopran und Posaune (2015) * 13:24
Chaya Czernowin (*1957)
[04] Adiantum Capillus-Veneris I für Stimme und Atem (2015) 10:22
Rebecca Saunders
[05] O Yes & I für Sopran und Bassflöte (2018) * 08:17
Beat Furrer
[06] Lotófagos für Sopran und Kontrabass (2006) 10:23
Gesamtspielzeit: 62:03
Juliet Fraser, Sopran
mit
Mikael Rudolfsson, Posaune[03]
Helen Bledsoe, Bassflöte [05]
Uli Fussenegger, Kontrabass [06]
* Ersteinspielungen