Infotext:
YOICHI SUGIYAMA · KINDERSZENEN Der oft zu Unrecht verwendete Begriff »Portrait-CD« scheint ausnahmsweise gut geeignet, um diese Sammlung vierer Werke von Yoichi Sugiyama zu beschreiben. Es ist nicht schwer, Zusammenhänge zwischen diesen Werken und zentralen biographischen Ereignissen, die noch heute Spuren in seiner Musik hinterlassen, zu finden. Für das erste dieser Ereignisse müssen wir bis in seine frühesten Kindheitsjahre zurückgehen. Sugiyama wurde 1969 in Tokio geboren und begann im Alter von drei Jahren, Violine zu spielen; erst als Student der Toho School of Music gab er das Instrument auf. Diese als Kind gewonnene Erfahrung der Perspektive eines aufführenden Musikers – besonders eines Streichers – zeigt sich am deutlichsten in den Kinderszenen für vier Bratschen (2017), die vom Ohara Museum of Art in Auftrag gegeben wurden. Trotz des ergänzenden Untertitels nach R. Schumann handelt es sich keineswegs nur um »Arrangements« der 13 Klavieroriginale. Vielmehr wurden diese für das Ensemble mit großem Können und erstaunlicher Vorstellungskraft vollständig neu gedacht – wie wir gleich zu Beginn hören, wo das Ausgangsmaterial in kurze, beinahe »Webernsche« Fragmente atomisiert wurde, die sich wie ein Hoquetus ineinander verzahnen, um aus den Streicher-Timbres eine reiche Klangfarbenmelodie zu kreieren. Das gesamte Stück über zeigt sich Sugiyamas außergewöhnliche Beherrschung zeitgenössischer Streichertechniken, einschließlich einer großen Bandbreite von verschiedenartigen Flageoletts, Mikrotönen, Glissandi, Klopfgeräuschen auf dem Griffbrett, der Verwendung eines Metalldämpfers, der einen Klang »wie eine LP oder ein Transistorradio« erzeugt, oder an einer Stelle sogar verspieltes Pfeifen der Melodie. Schumann wurde also nicht re-arrangiert, sondern viel eher re-komponiert – und vor allem »modernisiert«. Dies führt uns zu einem zweiten zentralen Aspekt von Sugiyamas Karriere: früher Kontakt mit zeitgenössischer Musik. Erneut begann er jung: Sein erster Geigenlehrer, Isako Shinozaki, spielte im Ensemble für Neue Musik »Vent d’Orient«, und schon als Kind traf Sugiyama die Schlüsselfiguren der japanischen Neue-Musik-Szene. Nur wenig später begann er selbst zu komponieren und nahm im Alter von 13 Jahren Unterricht bei Akira Miyoshi; später studierte er bei ihm in Toho. Dort gründete Sugiyama zusammen mit seinen Kollegen Sunao Isaji, Yasuharu Fukushima und Takashi Niigaki das Festival für Neue Musik »Theater Winter« und das Ensemble »Mis En Loge«. Er lud Persönlichkeiten wie Akira Nishimura und Yuji Takahashi zu den Konzerten ein, die auch im NHK Radio gesendet wurden. Diese intensive Beschäftigung mit zeitgenössischer Musik zeigt sich deutlich in den Kinderszenen, obwohl diese auf bereits bestehendem, streng tonalem Material basieren. Dasselbe gilt übrigens für sämtliche Stücke auf dieser CD, die alle ähnliche Anleihen enthalten. Sugiyamas Interesse für zeitgenössische Musik führte ihn aber auch in andere Richtungen. Das Ensemble Vent d’Orient brachte mehrere italienische Komponisten nach Japan, was bei Sugiyama eine solche Faszination auslöste, dass er zunächst Studien bei Franco Donatoni und Sandro Gorli aufnahm und schließlich mehr oder weniger dauerhaft nach Mailand zog. Die Verbindung mit Italien hatte einen weiteren Nebeneffekt: Gorli übertrug Sugiyama Dirigieraufträge, und der begann, dieses Handwerk bei Emilio Pomàrico ernsthaft zu erlernen – der Beginn einer bedeutenden Karriere, zu deren Höhepunkten die akribischen Aufführungen der Musik von Franco Donatoni zählen, die auf CD beim Label NEOS erschienen sind (NEOS 11410). Dies ist ein weiteres biographisches Detail, das sich auf dieser CD widerspiegelt. Das mag paradox klingen, ist es doch auffallend, dass Sugiyama hier nicht als Dirigent in Erscheinung tritt; wenn es aber zur Rolle eines Dirigenten gehört, eine Partitur nicht als festgelegtes »Objekt« zu sehen, sondern als Entwurf für eine Live-Darbietung, dann ist er in dieser Rolle eindeutig präsent. Ein Beispiel hierfür ist Two Verses by Du Fu für Frauenstimme und Instrumente (2014), das vom Festival »Music from Japan« in Auftrag gegeben wurde und »den vielen Opfern verschiedener Ereignisse in diesem Jahr« gewidmet ist. Es gibt keine Partitur, lediglich Einzelstimmen, in denen Sugiyama Tonhöhen ohne festgelegte Längen notiert. Die anderen Parameter überlässt er, mit Hilfe einiger schriftlicher Anweisungen, den Interpreten. Sugiyamas ausgeprägte Erfahrung als Dirigent gab ihm das Selbstvertrauen, solch wichtige Entscheidungen den Spielern zu überlassen; oder wie er es ausdrückte: »Mein Ziel ist, dass du deine eigene kreative Phrase selbst spielen kannst«. Wie die Kinderszenen enthält auch dieses Werk ein Fundstück aus bereits vorhandener Musik: eine Volksmelodie aus Shian, der Heimat des Poeten Du Fu (712–770) aus der Tang-Dynastie, auf dessen Versen sie basiert. Was zu einem anderen Punkt in Sugiyamas Lebenslauf führt: seiner Erforschung von »Volksmusik und ethnischen Instrumenten«. Diese zeigt sich besonders deutlich in Kuguhi (Swan Song / Schwanengesang) für 17-saitige Basskoto, dem Andenken seines Lehrers Miyoshi gewidmet. Hier ist der Volksmusikbezug schon allein durch den Gebrauch des »ethnischen« Instruments deutlich erkennbar. Aber in diesem Werk findet sich noch eine andere Quelle: ein Riuka-Lied aus dem gagaku-Repertoire, das ausschließlich bei kaiserlichen Beerdigungen gesungen wurde und von der Metamorphose des Herrschers in einen Schwan erzählt. Daraus ging nicht nur das musikalische Material hervor, sondern auch die vierteilige Form (langsam–schnell–langsam–schnell). Anders als zahlreiche andere japanische Komponisten nutzt Sugiyama diese »traditionellen« Bezüge nicht, um eine Art pointierte Abgrenzung zwischen »Ost« und »West« zu schaffen. Da er zwischen beiden pendelt, sucht er eher Aspekte, um sie zu verbinden: zum Beispiel entlang der früheren »Seidenstraße«, die sie eint (das China von Du Fu), oder bei den Gregorianischen Gesängen, die von portugiesischen Missionaren im 16. Jahrhundert nach Japan gebracht wurden und die das klassische Koto-Werk Rodukan maßgeblich prägten (und die in einem anderen Werk Sugiyamas für dieses Instrument zitiert werden). In Kuguhi hält Sugiyama die Verbindung subtiler, vor allem durch die Art, wie er für das Instrument schreibt. Auch dieses Werk ist überaus idiomatisch, es vermischt traditionelle Techniken und sogar Klänge – einschließlich einer deutlich hörbaren Pentatonik – mit zeitgenössischen westlichen Aufführungspraktiken; doch in manchen Fällen, wie den Pitchbendings oder Glissandi, ist es schwer zu sagen, zu welcher Kategorie sie eigentlich gehören. Der neueste Aspekt in Sugiyamas Entwicklung, der sich hier widerspiegelt, hängt mit dem Irak-Krieg von 2003 zusammen, der ihn »für die […] politischen Umstände sensibilisiert« hat. Dieses Bewusstsein kommt in The Last Interview from Africa (2013) zum Vorschein. Das Werk wurde vom Tokyo Gen’On-Projekt in Auftrag gegeben und ist den Opfern des Tsunami von 2011 gewidmet. Auch hier sind viele von Sugiyamas Hauptanliegen deutlich erkennbar. Das Werk wird ohne Dirigent aufgeführt, mit einer »offenen Partitur«, die lediglich Einsätze für nicht vollständig festgelegte Einzelstimmen angibt. Es gibt eine prä-existente »ethnische« Quelle: ein Gebet, das jede Woche am Grab von Ken Saro Wiwa gesungen wird und hier in einem mikrotonalen quasi-Unisono vorgetragen wird. Dies erzeugt eine Art lärmende Heterophonie, die den rauen afrikanischen Gesang heraufbeschwört. Es gibt auch einen theatralischen Aspekt: Die Musiker treten einer nach dem anderen in afrikanischen Kostümen ein, der Schlagzeuger beginnt die Prozedur durch Trommeln auf einer symbolische Ölkanne und geht später mit einer nigerianischen Buschtrommel auf Rundgang. Das fünfte Mitglied dieses »Quintetts« allerdings – eine Klangmontage vom Tonband – bringt den politischen Aspekt ein, indem Saro Wiwas letztes Interview 200 Mal wiederholt wird, wenngleich man das erst am Ende hören kann. Dieses ambitionierte Werk bietet uns das bislang vollständigste »Portrait des Künstlers als reifer Komponist« – doch angesichts der sich dynamisch entwickelnden Karriere des Komponisten ist es unwahrscheinlich, dass man dieses Portrait lange als vollständig betrachten kann. Peter Burt Programm:
|