ZU ADAM BERENSON
Musik bedeutet nichts – oder besser gesagt, sie bedeutet, was immer du denkst, dass sie bedeutet!
Adam Berenson
Ist ein Kafka-Text nur eine leere Form, die nach dem Prinzip der »gleitenden Halluzinationen« die Sinnprojektionen ihrer Interpreten evoziert oder widerlegt?
Hans Hiebel
Wenn ich Berenson zuhöre und in seinem Werk eine ästhetische Richtung zu erkunden versuche, fühle ich mich zum Werk von Franz Kafka hingezogen. Kafka bezeichnete sich selbst als das unmusikalischste Wesen, das ihm je begegnet sei, dennoch sprach er in seinem Werk ausdrücklich von einer »Philosophie der Musik«. Dem Nobelpreisträger Elias Canetti zufolge ist Kafka der »größte Experte für Macht«. Zugleich ist er auch ein großer – wenn auch nicht der größte – Experte für Musik. Seine Gedanken zur Musik wie zum Unmusikalischen sind nicht als Gebrauchsanleitung angelegt, sondern in Allegorien über sein gesamtes Werk verteilt. Wenn ich nun zu Berenson komme, einem versierten »Kafka Kenner«, möchte ich annehmen, dass man hier wie auf einer parallelen Schiene reisen kann, und diese folgt wiederum Kafkas Ästhetik.
Eine Annäherung an Kafka und die Musik erfolgte im Allgemeinen über die Vorstellungen der deutschen Romantik zur Musik und ihre verschiedenen Potentiale. »Macht« kann Kraft ohne vorbestimmte Tendenz bedeuten; wenn sie richtig gelenkt wird, kann sie menschlich fördernd, erzieherisch und sogar erlösend sein.
Man denke an die Macht der Musik, welche die Welt des Hörers zu verzaubern vermag oder ihn mit einer Welt der reinen Formen vertraut machen kann. Aber diese Macht kann auch eine fast unmenschliche Gewalt suggerieren. Der Hörer erfährt keine Sublimierung; die Musik tut seiner Vernunft Gewalt an. Sie steht unter dem Verdacht, die Sinne zu benebeln, zum Un-Sinn, ja zum Wahnsinn einzuladen, eine Entgleisung zu einer höheren Gewalt zu sein – als schieres Ereignis einer Überwältigung, im Gegensatz zur genuin erwünschten Fähigkeit zur Stärkung des persönlichen Subjekts.
Kafka schrieb in sein Tagebuch: Als es in meinem Organismus klar geworden war, daß das Schreiben die ergiebigste Richtung meines Wesens sei, drängte sich alles hin und ließ alle Fähigkeiten leer stehn, die sich auf die Freuden des Geschlechtes, des Essens, des Trinkens, des philosophischen Nachdenkens der Musik zu allererst richteten.
Der Kafka-Wissenschaftler Mark Anderson betrachtet Kafkas Ausschluss der »Freuden der Musik« als zentral für Kafkas modernistisches Projekt, in dem »die Musik ein organisches, überflüssiges ›Ornament‹ darstellt, das der asketische Modernist beseitigen muss, um schreiben zu können.« Hier haben wir also die Furcht des habsburgischen Modernisten vor der dunklen Seite des romantischen Arguments – Musik als fleischlicher Rausch (»organisch«) und Musik als Allotria, als kraftloses Spiel (»ornamental«), überflüssig für die ernsthafte Aufgabe einer ästhetischen Selbstverwirklichung.
Kafka kannte diese dunkle Seite: In seiner großen Erzählung Forschungen eines Hundes erlebt ein Hundeforscher zum ersten Mal Musik wie folgt: … aber kaum setzte ich an, kaum fühlte ich die gute vertraute hündische Verbindung mit den sieben, war wieder ihre Musik da, machte mich besinnungslos, drehte mich im Kreise herum, als sei ich selbst einer der Musikanten, während ich doch nur ihr Opfer war, warf mich hierhin und dorthin, so sehr ich auch um Gnade bat …Andererseits, um auf Anderson zurückzukommen, »stellt die Musik ein organisches, überflüssiges ›Ornament‹ dar, das der asketische Modernist beseitigen muss, um schreiben zu können.« In Berensons Musik findet sich etwas von beiden Richtungen.
Berenson liefert ein inwendig vitales Stück für Streicher, ein einzelner Satz mit dem Titel mammisi für Streichquartett (»Mammisi« bedeutet »Geburtshaus« im Koptischen resp. Alt-Ägyptischen – ein archaisches Symbol für göttliche Geburt und ewige Erneuerung). Der Titel vermittelt eine Stimmung der stillen Erwartung. Man hört, wie man so schön sagt, »mit den Augen«, aber man weiß nicht, was man hören wird. Im Augenblick des aufmerksamen Wartens ist man auf sich zurückgeworfen: Es gibt nichts im akustischen Repertoire, auf das man zurückgreifen könnte. Anders als ob man vielleicht voraussieht, worauf Wagner im Rheingold zusteuert, gerade wenn die Ambosse zu hämmern beginnen. Bei Berenson ist das, was kommt, immer eine Überraschung: Jede Note – oder »Klanglichkeit« – ist unerwartet. Alles ist neu, aber durch seine Intensität – seine Qualität wie Amplitude – gekennzeichnet und erzeugt eine unhörbare Struktur von Intensitäten unter der Haut, im akustischen Gedächtnis und der rationalen Erwartung. Man begreift diese, wenn überhaupt, erst, wenn man sie, wie Kafkas Romane, zu Ende »gelesen« und dann noch einmal gelesen hat. Man kann Berensons Quartette nicht nur einmal durchlesen: Man muss das Ganze im Kopf haben, bevor man die Logik eines Teils davon erfassen kann. In diesem Punkt sprechen Wittgenstein, Schönberg und Adorno mit einer Stimme. Letzterer schreibt über Schönbergs Begriff des »Subkutanen« in der Musik. Er erklärt, dass Schönbergs Konzept der subkutanen Strukturierung für alle Musik von echter Qualität in all ihren Aspekten gültig ist. Damit meint er nichts anderes als die Fähigkeit, alle Aspekte dessen, was hier und jetzt sinnlich in Erscheinung tritt, als Aspekte eines einheitlichen Sinns zu entwickeln, der seiner eigenen Logik gehorcht. Dieser Sinn ist weder als etwas von der Musik Dargebotenes noch als deren Ausdruck zu verstehen; er existiert nicht losgelöst von der Musik, sondern ist, wiederum nach einer Formulierung Schönbergs, etwas, das nur durch Musik sagbar sei.
Berensons Novität ist ein Paradebeispiel für das, was Wittgenstein in seinem Blue Book auch als Conatus der Musik sieht: »Die Musik vermittelt sich selbst.« Ich möchte hinzufügen, dass diese Musik ein reines »Sagen« dessen ist, was man nicht ist … aber eine Aussicht auf eine spätere Rückkehr zu sich selbst eröffnet, um die Früchte der Vollendung, einer gütigen Erschöpfung, zu genießen. Die Worte Kafkas bereichern dieses Ereignis. Obwohl er wörtlich von der Lektüre »eines guten Buches« spricht, werde ich ihn von der Musik sprechen lassen. Ich erlaube mir, seine Worte für unsere Erfahrung mit Berensons Musik zu übertragen: Es ist mir zu eng in allem, was ich bedeute, selbst die Ewigkeit, die ich bin, ist mir zu eng. Lese ich aber zum Beispiel ein gutes Buch, etwa eine Reisebeschreibung, erweckt es mich, befriedigt es mich, genügt es mir. Beweis dafür, daß ich vorher dieses Buch in meine Ewigkeit nicht mit einschloß oder nicht zur Ahnung jener Ewigkeit vorgedrungen war, die auch dieses Buch notwendigerweise umschließt. Von einer gewissen Stufe der Erkenntnis an muß Müdigkeit, Ungenügsamkeit, Beengung, Selbstverachtung verschwinden, nämlich dort, wo ich das, was mich früher als ein Fremdes erfrischte, befriedigte, befreite, erhob, als mein eigenes Wesen zu erkennen die Kraft habe. Das ist die Aufgabe des Zuhörers, und dafür gibt es bisher, nach Kafka, kein(en) Schüler weit und breit.
Die Neuheit, die Berenson bringt, hat etwas Propädeutisches. Richtig verstanden, ist alles neu. Das Sein ist eine fortwährende Überraschung, ein ständiges Ausströmen neuer Dinge. Sich nicht überraschen zu lassen, ist, wie wir gehört haben, eine Folge von Müdigkeit, Unzufriedenheit, Enge, Selbstverachtung. Berenson zuzuhören ist eine Übung darin, sich auf das Neue einzulassen. Das träge Ohr wird Geräusche hören; aber nach einigen Wiederholungen erfährt man Geräusche, die als Musik wiedergeboren werden: Unbehagen wandelt sich in Vergnügen. Berenson hat sich in die Weiten des Lärms begeben, um dann eine Beute in Form von Musik nach Hause zu bringen: Es ist eine Bergung, eine Entdeckung von bislang nicht »erzählten« Reichtümern.
Berenson ist, wie Kafka, zugleich Schöpfer und Philosoph des Neuen. Beide geben uns Kreaturen, die wir weder an Land noch im Meer je gesehen oder gehört haben: Berenson seine Musik – Kafka seinen Gregor Samsa, den geplagten Menschenkäfer; Poseidon, den Chefbürokraten der Unterwasserbüros; eine singende Maus, einen gelehrten Hund, einen kultivierten Affen, der die Durchschnittsbildung eines Europäers erreicht hat; aber Kafka ist nicht bereit, seine Schöpfungen als einzigartig neu zu bezeichnen, denn alles sei, wenn man es aus richtigem Blickwinkel betrachtet, immer wieder neu. Als Max Brod, Kafkas Retter und Förderer, ihm seinen Essay über das Neue zeigte, antwortete Kafka kritisch mit einer scheinbaren Übung in formaler Logik, recht musikalisch in ihren Ausbrüchen von Fantasie. Nun ergibt sich einerseits aus Deinen vielen Einschränkungen des Begriffes »neu«, daß eigentlich alles neu ist, denn da alle Gegenstände in immer wechselnder Zeit und Beleuchtung stehn und wir Zuschauer nicht anders, so müssen wir ihnen immer an einem andern Orte begegnen … Danach gibt Kafka Brods abstraktem Begriff »Apperzeption« eine reiche soziale und existentielle Bedeutung, indem er ihn mit dem modernen Bewusstsein der Müdigkeit verbindet. Die Ermüdung, die Ermattung, erschöpft im Voraus die Neuheit des Objekts und wirkt seiner ästhetischen Apperzeption entgegen.
Das Streichquartett Nr. 4 in zwei Sätzen beginnt leise, dann mit einem beredten Schrei, gefolgt von Klängen, die an Flüstern erinnern; Aktivität und Bewegung am Rand des Schmerzes, wie eine grollende Bedrohung, dann Konversation, tiefe Zufriedenheit, wieder Schreie, kontrastiert mit aufsteigenden und absteigenden Skalen, schließlich das Erinnern an eine menschliche Stimme. Der erste Satz beherbergt viele solcher einzelner »sprechender« Elemente, artikulierte, persönlich klingende Stimmungen, die von Pausen unterbrochen werden. Wie bei der kürzeren mammisi muss man allerdings sehr aufmerksam zuhören: Man ist nicht in der Lage, den nächsten Klang zu erahnen. Erst im Nachhinein wird man erkennen, dass der Satz genau in seiner Mitte, bei 09:16, seinen Höhepunkt erreicht hat.
Das Ganze ist eine Abfolge von Darstellungen, die irgendetwas zwischen Gefühlen und Gedanken anregen, die kaum akustische Parallelen zur realen Welt bieten, eher Andeutungen von vermitteltem erkennbarem Klang. Auch bei Kafka verbinden sich Gefühle und Gedanken, wie in seinem Aperçu über die Lektüre von Dostojewski: Besondere Methode des Denkens. Gefühlsmäßig durchdrungen. Alles fühlt sich als Gedanke selbst im Unbestimmtesten.
Bei 10:15 befindet man sich in himmlischen Höhen, eine akustische Anspielung auf Kafkas Gleichnis von den Krähen: Die Krähen behaupten, eine einzige Krähe könnte den Himmel zerstören. Das ist zweifellos, beweist aber nichts gegen den Himmel, denn Himmel bedeuten eben: Unmöglichkeit von Krähen.
Bei 12:57–58 findet sich eine weitere parabolische Andeutung: Kafkas Der Kreisel. Ein »Philosoph« glaubt, dass das vollständige Wissen über ein kleines Ding – hier ein Kinderspielzeug, ein Kreisel – das Wissen über das gesamte Universum vermitteln würde. Zu diesem Zweck stürzt er sich, als er spielende Kinder sieht, auf den Kreisel, um das Geheimnis seines Drehens zu »begreifen«, und »tötet« ihn, indem er das Objekt buchstäblich ergreift. Das Geheimnis seiner Drehung bleibt unergründlich (und damit ein ironischer Kommentar zum Versuch dieses Kommentators, die Rätsel des vierten Quartetts zu erfassen).
Der erste Satz enthält längere Pausen, die zu besonderer Aufmerksamkeit führen. Dann geht er subtil und allmählich seinem Ende entgegen und endet so leise, wie er begonnen hat, mit einer Note von geradezu verdienter Erschöpfung. An dieser Stelle könnte man schließlich an Kafkas Das Schloss denken, wo unsere Interpretationen, wie wir nur zu oft erfahren, in Ermattung enden. Die Prostituierte Olga sagt: … die Briefe richtig zu beurteilen, ist ja unmöglich, sie wechseln selbst fortwährend ihren Wert, die Überlegungen, zu denen sie Anlaß geben sind endlos und wo man dabei gerade Halt macht, ist nur durch den Zufall bestimmt, also auch die Meinung eine zufällige.
Das vermeintlich zufällige Anhalten ist der Moment der Erschöpfung. Der Ansatz der Interpretation, die zu diesem Punkt führt, ist auch für diesen Moment stimmig. Ermattung ist ein anderer Name für das Eindringen dessen, was im Nachhinein als zufällig erscheint.
Der zweite Satz fließt kraftvoll unter der Herrschaft einer anderen Ästhetik. Unterschiedliche Elemente schweben in einem im Wesentlichen stehenden Klang, den Berenson mit einem »Windkanal mit Artefakten« vergleicht, eindringlichen klanglichen Ergänzungen. Die Kontinuität des Satzes – es gibt nur eine einzige Pause bei 16:05 – steht im Gegensatz zur unterbrochenen Erzählung des ersten Satzes und kann diesen scheinbar erden. Viele seiner Artefakte sind besonders schön, wie bei 08:20–08:40, und ergreifend, wie bei ca. 22:25. Es gibt bemerkenswerte Überraschungen, wie bei 18:40–19:00, dem Fibonacci-Punkt, wenn eine Art hölzernes Trommeln etwas wie einen Sopran hervorbringt. (Dieser »Rassel«-Effekt wird dadurch erzeugt, dass der erste Geiger den Bogen hinter dem Steg, in der Nähe des Saitenhalters, drückt.) Am Ende des zweiten Satzes erinnert sich der Hörer vielleicht daran, dass er dieses brodelnde Rasseln schon einmal gehört hat, nämlich zu Beginn des Satzes bei 00:52, und genießt damit das einzige nahezu symmetrische Ereignis im gesamten Quartett. Einen vergleichbaren Kontrast von Lyrik (dem »Sopran«) und dem Lärm der empirischen Erfahrung (dem »Rassel«-Effekt) finden wir in Berensons Klavierkonzert.
Hier ist die Kraft der akustischen Assoziation stärker ausgeprägt als in den Quartetten. Berenson betitelt das Stück: Everything that no one ever saw, Konzert für Klavier und Elektronik. Es ist wie eine Tondichtung, die auf fast magische Weise per Synthesizer nicht das bisher Ungehörte suggeriert, sondern vielmehr das, was man glaubt, oft gehört zu haben; aber nie erwartet hat, dies mit Musik verbinden zu können.
Ich höre diese Geräusche als einen fast befriedigenden Index einer Welt des Lärms, als fast alles, was ich je gehört habe. Der Reihe nach: Verkehrslärm; eine Durchsage; ein Gespräch auf der Straße; der Klang eines Leierkastens; ein aufziehender Sturm; ein seilspringendes Kind; Wind; gurgelndes Wasser in einem Abfluss; Glocken; ein hechelndes Kaninchen; das Horn eines
Schleppers; Fahrradklingeln; Morsezeichen; ein Klavier in einer Cocktail-Bar; ein Krankenwagen; ein landendes Flugzeug; ein klagendes Geschrei; eine Türklingel; das Rascheln von Lametta; das Miauen einer Katze; das Plappern eines Truthahns; eine Rolltreppe; eine Beschwerde; ein Windkanal; ein Hubschrauber; Explosionen; ein startendes Flugzeug; ein Nebelhorn; ein Jazz-Piano; Gewehrschüsse; ein Warnsignal; lang gehaltene Schmerzensschreie; ein opulenter Mahler-Streichersatz bei 14:35, und mehr in der Art für weitere 36 Minuten. Ich kann mir das Stück als ein Rätsel für Mensa-Intelligenzler vorstellen: Wie viele menschliche Geräusche können Sie in x-Minuten-Intervallen erkennen?
Fast noch fesselnder ist das Klavier, hier ein zuweilen melodienseeliger Protagonist, der das Stück mit Geschichte auflädt und in erhabener Alltagsweltverleugnung vorgeht. »Er scheint zu glauben, dass er sich in einem romantischen (Brahms’schen) Klavierkonzert aus dem 19. Jahrhundert bewegt. Mal befindet er sich in dem, was er für einen langsamen Satz hält, mal in einem Scherzo.« (Berenson) Seine Immunität gegenüber der Welt, gegenüber dem Lärm des Alltags ist die organisierende Spannung des Stücks, seine subkutane Stoßkraft.
Ohne es zu beabsichtigen liefert Gilles Deleuze einen theoretischen Kommentar zu Berensons Konzert. Deleuze hört die Welt mit seinen Ohren als ein Chaos von Fragmenten (nacheinander gehörte Straßengeräusche reparieren das Chaos nicht). Jede Aussicht auf Harmonie oder Ganzheit liegt im Kunstwerk selbst – bei einer Betonung auf das Werk. Entgegen gewissen Erwartungen »transzendiert« das Kunstwerk nicht den Lärm der Welt: Indem es seine Eigenschaften sublimiert, erinnert es uns gleichzeitig an die Welt, in der es sich als Werk neben anderen Formen und Werken wie Häusern, Laboratorien und Brücken befindet. Als Deleuze nacheifernder Denker kann man schreiben, dass die Einheit eines Kunstwerks »durch einen hinzugefügten Teil – einen letzten Pinselstrich, einen objektivierenden Standpunkt, eine Kristallkugel« hergestellt wird, und dabei kann man an Berensons Klavierprotagonisten gedacht haben. Ein Element, das rückwirkend ein Ganzes hervorruft – das formale Prinzip des Ganzen – verbindet inkommensurable und nicht-kommunizierende Teile miteinander und verstärkt ihre Unterschiede. Die Ordnung der Kunst ist also kein Rückzug aus der Welt, sondern eine Antwort auf diese, über die Kreation einer Welt verbundener Fragmente, die sich aus einer perennierenden Differenz entfalten. Das moderne Kunstwerk ist ein Joyce’scher »Chaosmos«, ein chaosgewordener Kosmos, aber ein besonderer, nach den formalen Prinzipien des Chaos konstruierter Kosmos, der singuläre, individuelle Kosmos des Künstlers …
Stanley Corngold
Übersetzung: Detlef Heusinger
ÜBER MEIN ZWEITES UND VIERTES STREICHQUARTETT
Obwohl mein zweites und mein viertes Streichquartett in einem größeren zeitlichen Abstand zueinander komponiert wurden (die Zeit dazwischen wird von meinem singulären – und völlig alleinstehenden – dritten Quartett eingenommen, welches vom JACK Quartett in Auftrag gegeben und 2013 in Philadelphia uraufgeführt wurde), sind die Stücke »genetisch«dennoch ähnlich.
Mein zweites Streichquartett oder mammisi für Streichquartett (»Geburtsort« auf Koptisch), wie ich es betitelt habe, wurde für einen Kompositionswettbewerb komponiert, aus dem ein Werk hervorgehen sollte, das im Rahmen einer altägyptischen Ausstellung an der Universität von Pennsylvania im Jahr 2011 aufgeführt werden sollte. Obwohl ich den Wettbewerb nicht gewonnen habe, war das kurze Stück, das ich produziert habe, besonders wichtig für mich. Hier habe ich zum ersten Mal Techniken und Sensorien mit Streichern erforscht, die sich aus meinen jüngsten und nachhaltigsten kompositorischen Inspirationen jener Zeit (und letztlich für mich aller Zeiten) ableiten: Beat Furrer, Matthias Pintscher und Helmut Lachenmann. Ich verwendete und erforschte die Streich- und erweiterten Techniken, die Teil ihrer Klangwelten waren und nun Teil meiner eigenen sind.
Als das QRTT Quartett (in Philadelphia) dieses Stück schließlich im März 2023 aufnahm (zusammen mit meinem vierten Quartett), entdeckte ich, dass diese Einflüsse omnipräsent waren, aber auch – zu meiner Freude – dass das Werk dennoch nach »mir« klang.
Mein Streichquartett Nr. 4 wurde im Jahr 2019 komponiert. In zwei Sätzen erkundet es, wie bereits erwähnt, eine Welt, die sich im selben Teil des Kosmos befindet wie mammisi. Ich habe das Gefühl, dass der musikalische Zeitgeist den sensiblen und aufmerksamen Musiker wie Hörer darüber informiert, dass zeitgenössische sogenannte ernste Musik typischerweise die »negativen Räume« der Klangwelt bewohnt, aus denen die »heutige Musik entstand«. Der erste Satz existiert im Schatten, er hinterlässt nur »Textspuren«. Der Satz ist also eine Art Vier-Wege-Gespräch, das im Dunkeln stattfindet, mit Flüstern (nichts erhebt sich jemals über ein »piano«). Es werden »Graustufen« verwendet: ein Satz, der sozusagen aus einer Mischung von Schwarz und Weiß besteht. Besonders dieser Satz scheint mir melodisch und ästhetisch von Matthias Pintscher beeinflusst zu sein.
Spricht der zweite Satz von der »Tiefe der menschlichen Subjektivität«? Die einzige Andeutung von Tonhöhe im zweiten Satz kommt – vorübergehend, bei zwei Textstellen – von einem Rassel-Effekt, der von der ersten Violine erzeugt wird. Es ist tatsächlich eine Art endloser Tunnel aus Geräuschen; eine hypnotische Reise vom Nichts zum – vielleicht – Nichts. Ich empfinde dies als gerdadezu therapeutisch, und es fasziniert mich, weil es ähnlich wie bei Cage zu funktionieren scheint. Es sind die klanglichen Artefakte oder »Fehler«, die während der Reise unbeabsichtigt produziert werden, die die Aufmerksamkeit auf sich ziehen können. Und doch ist dabei die eigentliche klangliche Substanz, d. h. das Geräusch, nur bedingt der Gegenstand der Bewegung.
Ein kreisförmiger Werdegang: Ich wurde in Philadelphia geboren. Ich reiste nach New York, um die NYU Tisch School of the Arts zu besuchen, wo ich Filmproduktion studierte, und dann weiter nach Boston zum New England Conservatory, wo ich Komposition und Jazz-Klavier studierte. Danach kehrte ich nach Philadelphia zurück, um zu unterrichten, zu komponieren und aufzunehmen. Seit meiner produktiven Zeit in Boston habe ich nahezu unablässig an neuen Projekten gearbeitet. Inzwischen sind mehr als 60 Alben mit oft »genre-loser« Musik entstanden sowie mehrere Dutzend »Konzert-Kompositionen«. Viele meiner Aufnahmen bestehen auch aus meiner improvisierten Musik (solo und mit Ensembles); und diese improvisierte Musik offenbart und reflektiert all die musikalischen Genres (sowie eine Fülle anderer Kunstformen), die mein Leben geprägt haben. Zu diesen Einflüssen gehören klassische Musik, zeitgenössische Konzertmusik, Avantgarde-Jazz, Rock- und Popmusik, Film, Fotografie, Zeichnen und Malerei.
In der dritten Klasse bekam ich eine Klarinette in die Hand gedrückt, und zu meiner großen Bestürzung und Frustration konnte ich weder meine Finger noch meinen Kopf mit dem Instrument vertraut machen. Ich war offensichtlich zu jung für dieses anspruchsvolle und für kleine Finger unhandliche Instrument. Aber – und das ist das Wichtigste – sobald ich drei verschiedene Töne auf der Klarinette spielen konnte, war ich sofort daran interessiert zu komponieren. Und ich erinnere mich sehr genau an den Titel des daraus entstandenen kleinen Klarinettenstücks: Circle Music. Viele Jahre später war ich erfreut zu erfahren, dass für Platon der Kreis nicht nur die vollkommenste Form war, sondern dass die Seele einer kreisförmigen Bewegung folgt, die um eine göttliche Essenz herumführt.
Ich bin seit langem der Meinung, dass ich ein übergreifendes Talent habe, nämlich eine allgemeine Kreativität. Da ich glaube, dass ich in der Welt vor allem intuitiv und emotional funktioniere, erscheint es mir dennoch logisch, dass ich mich mehr als zu allem Anderen zur Musik hingezogen fühle. In diesem Raum – einem Bereich, der am effektivsten zu funktionieren scheint, wenn die Inspiration zuerst aus dem Gefühl kommt – kann ich meine eigene innere Welt zum Ausdruck bringen, meinen Sinn für die Wahrnehmung und den Aufbau meiner Lebenswelt, meine Fantasie und meine Launenhaftigkeit: und ich kann all diese Dinge oft auch spontan, durch Improvisation, tun. Ich kann Ideen und Gefühle sofort ausdrücken, und zwar auf eine Weise, die für mich befriedigend und authentisch ist.
Die Streichquartette auf diesem Album und das Klavierkonzert sind das Ergebnis meiner Instinkte, Interessen und meiner Ausbildung, d. h. der Art und Weise, wie ich die Welt wahrnehme und fühle. Bei den Streichquartetten musste ich die musikalischen Informationen zu Papier bringen, um sie an die Spieler/Interpreten weiterzugeben, aber ich glaube, dass sich der verwendete Inhalt und die daraus resultierende Form genauso entwickelt hätten, wenn ich irgendwie in der Lage gewesen wäre, auf allen Instrumenten zu improvisieren – oder die Musik in Echtzeit zu Papier zu bringen, wobei vier Hände die Musik für die einzelnen Instrumente aufschreiben – und zwar gleichzeitig.
Andererseits ist mein Konzert für Klavier und Elektronik Everything that no one ever saw vollständig improvisiert. Das Fundament aus synthetischen Klängen – die hier als »Orchester« fungieren – wurde im Voraus ausgewählt, und ich habe diese ausgewählten Klänge dann spontan in einer beliebigen Reihenfolge übereinandergelegt, in mehreren Durchgängen, um den »Orchester«-Teil zu bilden. Dann ließ ich die resultierende Hintergrundspur in meinen Kopfhörern laufen, während ich auf dem akustischen Klavier improvisierte (in einem Take), um zu versuchen, die wild unterschiedlichen und elektronischen Klangereignisse mit einer lyrischen Linie zusammenzufügen.
Die kumulative Energie der gesamten Musik auf diesem Album erscheint mir wie meine eigene, befreite Essenz ohne materielle Hülle.
Adam Berenson
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