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musica viva München Seit ihrer Gründung durch den Komponisten Karl Amadeus Hartmann im Jahr 1945 ist die Konzertreihe ›musica viva‹ des Bayerischen Rundfunks eines der weltweit bedeutendsten Foren der Gegenwartsmusik. Uraufführungen und historische Meilensteine der Moderne sind das Konzept dieser monatlich stattfindenden Konzerte. Im Januar und Februar 2008 fand in München zum ersten Mal in der Geschichte der ›musica viva‹ ein dreiwöchiges Festival statt. Nicht nur das immer engagierte Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, sondern auch andere Spitzenorchester der ARD verhalfen diesem Festival (und damit herausragenden Komponisten und Interpreten der Neuen Musik) zu einem großartigen Erfolg. Der Filmemacher und Komponist Peider A. Defilla (Inhaber der B.O.A. Videofilmkunst) dokumentiert seit 2001 für BR-alpha, den Bildungskanal des Bayerischen Fernsehens, die Konzerte der ›musica viva‹. In jeweils 15-minütigen Film-Essays bildet er das breite musikalische Spektrum der ›musica viva‹ ab. Die bestehende Kooperation zwischen dem Bayerischen Rundfunk, NEOS und B.O.A. ermöglichte auch die hier präsentierte DVD mit repräsentativen Ausschnitten der wichtigsten Konzerte und Interviews des Festivals. Darüber hinaus veröffentlichte NEOS im September 2009 eine Festival-Box mit sechs CDs: fünf Hybrid SACDs mit den ungekürzten Werken von Czernowin, Dillon, Furrer, Hartmann, Hölszky, Lim, Pintscher, Reimann, Saariaho, Saunders, Scelsi, Widmann, Xenakis sowie eine Stereo-CD mit traditioneller Musik aus Ägypten und Persien, einem der viel beachteten Schwerpunkte des Festivals [NEOS 10926]. Adriana Hölszky Die Komposition Countdown für Countertenor und 20 Instrumentalisten verwendet fragmentarisch den Text Odyssee durch Obdachlosenwohnheime des Obdachlosen-Schriftstellers mit dem Pseudonym Ver du Bois (Holzwurm). Die Instrumentalisten schaffen mehrere Klangräume, in deren Mitte der Countertenor steht. Sein Klangraum ist jedoch ein eigener, zentraler, innerer Raum, der mit dem Kreis der Instrumentalisten nicht kommuniziert. Das symbolisiert Einsamkeit, ein nicht Eingebundensein, ein Abseitsstehen. Conlon Nancarrow Study No. 41 ist eines von vier Werken für zwei Player Pianos. Es besteht aus zwei verschiedenen Stücken und drei Teilen. In 41a wird eine der beiden Klavierrollen auf einem der beiden Pianos gespielt, in 41b eine weitere Rolle auf demselben oder einem zweiten Klavier, und in 41c werden beide Rollen auf zwei Klavieren simultan gespielt. Study No. 41 gehört zu Nancarrows komplexesten Werken. Die Stimmen sind auf komplizierten irrationalen Tempo-Relationen aufgebaut, d.h. jede Stimme läuft in einer anderen Geschwindigkeit ab. Michael Lentz / Uli Winters Der Rhythmus der Schritte und Schläge, der hörbare Atem, Zurufe aus dem Publikum – die musikalische Essenz eines Boxkampfes wird mit der Komposition Boxgesang weiterentwickelt. Ein leibhaftiger Boxer als Metrum und Solist steigt mit einem Ensemble von Piccolo bis Subwoofer in den Ring. Musik als Produkt physischen Körpereinsatzes, Stimme in Form schaukelnder Sprachkommentare und in Form einer menschlichen Beat-Box. Reaktion und Gegenreaktion, Offensive und Deckung, Konzentration und Zerstreuung: Das Boxen als Lebensmodell, ein Kreislauf von Verausgabung und Entspannung. Hans Zender Die Fragmente entstanden bzw. entstehen in freier Folge. Bisher sind sechs fertig ausgeführt, noch etwa ebenso viele sind skizziert. Die verwendeten Texte sind Fragmente aus gnostischen Schriften, aus apokryphen Quellen und aus dem Johannes-Evangelium. Rhythmik und Harmonik beruhen auf Techniken, die durch strengste Gesetze die Willkür des Komponisten einschränken, dadurch erhalten sie etwas ›Rituelles‹, das von sich aus den Hörer zu gesammelter Konzentration bringen will. Olivier Messiaen Messiaens Musik wurde von Gregorianik, indischer Rhythmik und den Gesängen der Vögel inspiriert. Un sourire ist eine Hommage an Mozart, den Messiaen sehr verehrte: »… Wenn ich Mozart liebe, dann, weil es in seiner Musik eine Rhythmik mit starken unterschiedlichen Akzentsetzungen gibt. Das kommt daher, dass er deutsche und italienische Libretti komponiert hat. Es gibt also in seiner Musik einen ständigen Wechsel von betonten und nicht betonten Zeiten, und das ergibt eine große rhythmische Kraft. Mozart ist heiter, bezaubernd, spielerisch, aber in Wirklichkeit rhythmisch sehr kraftvoll.« Enno Poppe Von weitem sieht alles gleich aus. Die Idee eines Stücks, das immer aus denselben fünf Noten besteht, immer in derselben Reihenfolge. Farbe und Ausdruck entstehen aus dem starren Festhalten an der Gestalt. Aber trotzdem kein Minimalismus, vielleicht sogar das Gegenteil. Von nahem ist alles ganz verschieden. Younghi Pagh-Paan In ihrem Werk In luce ambulemus (Im Lichte wollen wir wandeln) ist die Wanderschaft das Symbol für eine innere Suche, die ihr Ziel im Erreichen der Demut vor Gott findet. Die Musik ist durch ein gespanntes Gleichgewicht zwischen Festigkeit der Form und stetigem Wandel des Klangs geprägt. Iannis Xenakis Antikhthon wurde 1971 im Auftrag des Choreographen George Balanchine als Ballett konzipiert. Xenakis wählte einen abstrakten Ansatz aus der klassischen griechischen Philosophie. Er selbst merkte an: »Ich habe einen pythagoreischen Begriff (antikhthon = anti-Erde) des 5. und 6. Jahrhunderts vor Christi gewählt. Die Pythagoreer waren die ersten, die behaupteten, dass die Erde nicht Mittelpunkt des Universums ist.« So wäre auch Antikhthon zu hören: als Klang gewordenes Bild des Alls, das sein ptolemäisches Zentrum verloren und dafür an unendlicher Weite gewonnen hat. Beat Furrer »Mich interessieren immer die Übergangssituationen«, sagt der Komponist von sich selbst. »Wo schlägt eine Ordnung um in eine andere. Wo sind die Ränder des einzelnen Phänomens?« Auch in diesem Werk schälen sich aus monochromen, wie still stehenden Flächen einzelne Gesten heraus, die fokussiert werden oder sich als huschende Gesten auf Schattenjagd verlieren. Furrer stellt dem Soloklavier im Orchester einen Schattenkörper zu Seite, mit dem der Solist sich in ferne Nähen begibt. Gérard Pesson Die Geschwindigkeit als Stilmittel spielt in diesem Werk eine wesentliche Rolle. Kurze Anklänge an archetypische Klangphänomene – Märsche, Walzer, Ritornelle – erscheinen nicht etwa als Zitate, sondern wie flüchtige Gedanken am Rande eines kompositorischen Prozesses. |
Programm:
Adriana Hölszky (*1953) countertenor Daniel Gloger Music excerpts · Interview with Adriana Hölszky Conlon Nancarrow (*1912) phonola Wolfgang Heisig, Rex Lawson Music excerpts · Interview with Wolfgang Heisig and Rex Lawson Michael Lentz (*1964) / Uli Winters (*1965) bass clarinet, piccolo Axel Kühn, Florian Riedl Music excerpts · Interview with Michael Lentz and Uli Winters Hans Zender (*1936) Fragment I (Johannes I, 1–17) SWR Vokalensemble Stuttgart Music excerpts · Interview with Hans Zender Olivier Messiaen (1908–1992) SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg Music excerpts · Interview with Sylvain Cambrelig Enno Poppe (*1969) SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg Music excerpts · Interview with Enno Poppe Younghi Pagh-Paan (1945) tenor Hubert Mayer Music excerpts · Interview with Youghi Pagh-Paan Iannis Xenakis (1922–2001) WDR Sinfonieorchester Köln Music excerpts · Interview with Brad Lubman Beat Furrer (*1954) piano Nicolas Hodges Music excerpts · Interview with Nicolas Hodges Gérard Pesson (1958) WDR Sinfonieorchester Köln Music excerpts · Interview with Brad Lubman |
Pressestimmen: