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Detlef Heusinger · Lulu’s Dream
Von der E-Gitarre zur Live-Elektronik (und auch zurück) Drei Werke von Detlef Heusinger sind auf dieser CD zusammengestellt, in denen die E-Gitarre eine zentrale Rolle spielt. Wer ein biographisches Bekenntnis dahinter vermutet, liegt nicht falsch. Aber das besagt für sich genommen nicht viel, denn welcher Jugendliche, der in den 1970er Jahren aufwuchs, war nicht fasziniert von Jimi Hendrix? Von den psychedelischen Klängen der Stratocaster, den Verzerrungen durch Effektgeräte und übersteuerte Verstärker, den zahlreichen neuen Spieltechniken, den ausufernd mitreißenden Improvisationen? Heusinger hatte schon eine Ausbildung auf der klassischen Gitarre, bevor er mit 14 Jahren zur E-Gitarre wechselte und, inspiriert von Bands wie Led Zeppelin oder Pink Floyd, in verschiedenen Formationen seine eigenen Bühnenauftritte mit diesem Instrument erlebte. Aber ein Studium bei Henze oder Nono sowie der avantgardistische Kanon des Verbotenen lassen eigentlich wenig Raum für das E-Gitarrenspiel. Die Tätigkeiten als Komponist, Dirigent und später als Leiter des SWR Experimentalstudios erlauben ebenfalls keine weiteren Obsessionen. Beginnend mit dem Gitarrenkonzert 2nd Anniversary of Zabriskie Point (2005) jedoch hat Heusinger sich seiner alten Liebe wieder zugewendet. Allerdings mit einer völlig verwandelten Perspektive: Die E-Gitarre wird in den historischen Kontext der elektronischen Musik gestellt und damit als Instrument gleichsam neu erfunden. Als Soloinstrument beschwört sie eine moderne Version der schier zeitlosen Lulu, im Solokonzert fungiert sie in einer scheinbar längst überholten Gattung, in der kammermusikalischen Besetzung ist sie Vermittlerin für die ganze Geschichte der elektronischen Musik vom Theremin bis heute. Und ein Schuss Nostalgie ist ja glücklicherweise in der zeitgenössischen Musik mittlerweile auch wieder gestattet.
Musik sei eine »Kunst des Übergangs weit über das Wagnersche Verständnis hinaus«, schreibt der Musikphilosoph Christian Grüny. Als einen Beleg für diese These könnte man die moderne (Live-)Elektronik heranziehen. Denn während Richard Wagner die Kunst des Übergangs in Melodik und Harmonik entwickelte, kann sie heute auf den Klang selbst bezogen werden. Musikalische Klänge lassen sich mikroskopisch betrachten, analysieren, in alle akustischen Bestandteile zerlegen und aus diesen neu zusammensetzen. Die 4 Crossroads stellen ein solches morphing in den Mittelpunkt des Geschehens: Es geht um Transformation und Transition der Klänge bis hin zur völligen Verschmelzung von traditionellen und elektronischen Instrumenten. Wo etwa das im Flageolett gespielte Cello oder die mit dem E-bow interpretierte E-Gitarre ins Theremin übergehen, lässt sich hörend kaum bestimmen. Perkussionsinstrumente wie das Waterphone oder das Flexatone mit ihren lang anhaltenden, teilweise inharmonischen Resonanzen unterstützen die klanglichen Fusionsprozesse. Die E-Gitarre als Bindeglied zwischen instrumentaler und elektronischer Welt ist noch am ehesten identifizierbar, ohne dass sie sich in den Vordergrund spielen würde. Formal sind die 4 Crossroads ungleichgewichtig: deutlich am längsten der erste Satz, in dem zwei tranceartige Abschnitte mit Glissandi im Cello, Bending der Gitarre und orgelartigen Akkorden des Synthesizers einen bewegten Mittelteil umrahmen, der von raschen Bewegungen des Keyboards dominiert wird. Der zweite Satz lenkt den Fokus ganz auf die mystischen Klänge des Theremins; der sehr kurze dritte Satz lässt bewegte Figuren durch die Instrumente wandern: vom Glockenspiel zur Gitarre und dem ausnahmsweise normal, d.h. arco gespielten Cello. Das folgende Zwischenspiel besteht aus vom Komponisten eingespielten, synthetisierten Klängen der Hammondorgel und des Novachords – eine Hommage an die Pionierzeit der elektronischen Musik in den 1940er Jahren und eine Verbeugung vor dem Erfinder beider Instrumente, Laurens Hammond! Material aus dem Zwischenspiel findet sich auch im letzten Satz wieder, der nach einer Introduktion, deren verstörende Farben von David Lynch stammen könnten, in ein rasantes Finale mündet: Über einem durchgehend schnellen Puls entwickeln E-Gitarre, Cello und Theremin betörend melancholische Melodielinien. Die Live-Elektronik steuert den Klang über acht kreisförmig um das Publikum platzierte Lautsprecher, nutzt Reverse-Effekte, verändert in Mikroabständen Tonhöhen sowie Amplitude und Geschwindigkeit des Vibratos und setzt verschiedene Filter. Durch Convolution (Faltung) wird die Gitarre fallweise mit den Eigenresonanzen des Klaviers versehen. Die 4 Crossroads lassen uns durch ein Museum der elektronischen Klangerzeugung wandeln, dessen mit sentimentalen Erinnerungen behaftete Exponate von der Gitarre für die Dauer unseres Rundganges sämtlich zu neuem Leben erweckt werden.
Im Januar 2019 fand in Bremen die Uraufführung von Detlef Heusingers Neufassung des 3. Aktes der Lulu von Alban Berg statt. Sie bringt unter anderem Theremin und E-Gitarre auf die Bühne und unterstützt durch elektronische Effekte eine ebenso behutsame wie flirrend-beschwingte Modernisierung des Werkes. Gleichsam als Kondensat daraus entstand Lulu’s Dream für E-Gitarre, das Motive aus der Oper aufgreift, verdichtet und neu beleuchtet. Wer mit der Oper oder der Lulu-Suite vertraut ist, wird manches wiedererkennen: die für Berg typische Kombination von Quarten mit chromatischen Schritten (die die Welt des Tristan heraufbeschwört), die Zirkusmusik (deren Wiederkehr im Finale der Oper symmetriebildende Funktion hat) – und als lyrischen Höhepunkt das Wedekindsche Lautenlied aus dem ersten Intermezzo des dritten Aktes. Die »Lulu reloaded«, wie Heusinger seine Opernfassung nennt, wird hier durch neue Harmonien angereichert. Den Weg von der Laute Wedekinds zur E-Gitarre Heusingers hatte schon Berg durch seine jazzartigen Harmonien geebnet.
Roland Barthes beschrieb 1980 in seinem berühmten Brief (»Cher Antonioni«) Michelangelo Antonionis Filme als die »Kunst der Zwischenräume«, in denen nicht die scheinbare Wahrheit gespiegelt, sondern der subtile Sinn unter der Oberfläche erforscht werde. Diese Worte könnten auch die Aufgabe beschreiben, die sich Detlef Heusinger mit dem E-Gitarrenkonzert gestellt hat. Wie in Antonionis Blow Up die Vergrößerung eines Fotos zuvor unsichtbare Details enthüllt, werden in dieser Musik Materialien und Details durch ihre Vergrößerung (beispielsweise mittels time stretching) hörbar gemacht, die normalerweise unter der Oberfläche bleiben.
Über Michelangelo Antonionis legendären Film Zabriskie Point (1970) sagt Heusinger, er sei wegen seiner Gesellschaftskritik noch immer aktuell. Insbesondere die berühmte Explosions-Szene, in der die Imagination der Hauptprotagonistin die Villa am Felshang mit all ihren Exponaten der amerikanischen Konsumgesellschaft in slow motion durch die Luft fliegen lässt – im Original untermalt durch die Musik von Pink Floyd – inspirierte den Komponisten dazu, mit dem Werktitel auf Antonioni zu rekurrieren. Konkreten Niederschlag findet die filmische Technik im Interludium, das (wie bei den 4 Crossroads vor dem letzten Satz eingefügt) die Klänge von Hammondorgel und Novachord mittels Phasevocoder und Filtern derart in die Länge dehnt, dass eine musikalische Zeitlupe entsteht. Sie mikroskopiert die Details der Klänge und enthüllt dadurch Harmonien in ihrem Innersten, die sonst nicht wahrnehmbar wären. Zugleich wird die von Roger N. Shepard entwickelte Skala auskomponiert, in der die Illusion eines unendlich aufsteigenden Klanges erzeugt wird. Analog zu Maurits C. Eschers Treppauf Treppab und wie in Antonionis Filmszene scheint die Bewegung in einer unendlichen Zeitschleife gefangen zu sein … Mit dem Solokonzert wird hier eine vermeintlich anachronistische Gattung bedient, und mit der Wahl des Soloinstruments wird der Kommentar zum musikalischen Zeitgeist auf doppelte Weise ironisch gefärbt. Aber das E-Gitarrenkonzert ist auch ein Plädoyer für ein vielseitiges Instrument, das erstaunlich gut mit dem Orchester harmoniert. Als eine Art Experimentalstudio im Miniaturformat wird hier lediglich das Vox Tone Lab eingesetzt, ein Klassiker unter den Effektgeräten der Gitarrenmusik. Reverse, Phasing und Feedback-Effekte erzeugen einen eigenen Sound, der auf die 1970er Jahre verweist, ohne eklektisch zu sein, und in die Zukunft schauen lässt.
Stefan Jena |
Programm:
Detlef Heusinger (*1956)
4 Crossroads für Ensemble und Live-Elektronik (2017) 26:42
[01] No. 1 09:34
[02] No. 2 04:59
[04] Interlude 03:48
[05] No. 4 05:54
[03] No. 3 02:27
Carolina Eyck, Theremin
Ensemble Experimental
(Jürgen Ruck,E-Gitarre · Rei Nakamura, Klavier / Synthesizer · Esther Saladin, Violoncello · Olaf Tzschoppe, Schlagzeug)
SWR Experimentalstudio
(Lukas Nowok / Maurice Oeser / Constantin Popp, Klangregie)
Detlef Heusinger, Dirigent
[06] Lulu’s Dream für E-Gitarre und Elektronik (2018) 13:18
Jürgen Ruck, E-Gitarre
SWR Experimentalstudio
(Lukas Nowok / Detlef Heusinger, Elektronik)
2nd Anniversary of Zabriskie Point für E-Gitarre und großes Orchester (2005) 21:30
[07] I 05:39
[08] II 03:05
[09] III 04:02
[10] Interlude 04:06
[11] IV 04:38
Detlef Heusinger, E-Gitarre
hr-Sinfonieorchester Frankfurt
Sian Edwards, Dirigentin
Gesamtspielzeit: 61:44
Ersteinspielungen
Pressestimmen:
Classical Explorer
A fresh approach to Classical Music
29 September 2021
The Beauty of Contemporary Music: Detlef Heusinger
In short, an expression of utmost beauty couched in modernist Terms
Born in Frankfurt, Germany, in 1968, Detlef Heusinger is head of the Experimental Studio of the SWR (South West German Radio). His music is a long way from the harsh objectivity once invoked by mention of „electronic music“; these are hauntingly beautiful sounds, exquisitely crafted.
The electric guitar plays an important role in all of the pieces here – Heusinger is himself a player (he switched from acoustic to electric guuitar aged 14). As a composer, he later studied with Henze and Nono. One would be right, perhaps, to perceive elements of modern jazz in 4 Crossoroads for ensemble and live electronics (2017) whcih we hear here in a performance conducted by the composer. This piece highlights the theremin, but also the Hammond organ and the Novachord.
The piece comprises four movements, with a silvery interlude between the third and fourth, and one can certainly feel that interludial character.
Lulu’s Dream (from which the disc also takes its title) also has a quiet beauty to it. It has a fascinating gestation as it arises through Heusinger’s revision of the third (and incomplete) act of Alban Berg’s Lulu, a piece most famously first completed by another composer, Friedrich Cerha. Heusinger brought his characteristic theremin and electric guitar to the stage; Lulu’s Dream is an outgrowth of that project. Scored for electric guitar and electronics, this 2019 piece Lulu’s Dream is a sort of homage to the great composer Alban Berg, encompassing typical traits of his music yet encased within an aura that is all Heusinger. Themes from the opera drift into and out of the musical stream as if, indeed, in a Dream. The absolute beauty of Lulu’s Dream has to be heard to be believed; a confluence of myriad sounds that encompasses the potency of silence itself.
Finally, 2nd Anniversary of Zabriskie Point (2005) uses „audio magnification“ to enable us to hear sounds that would normally lie beneath the surface. The inspiration is Michalangelo Anotnionini’s 1970 film Zabriskie Point and in his piece Heusinger experiments with infinitely ascending lines (influenced by the drawings of Escher), amongst other ideas. The piece is is also Heusinger’s own electric guitar concerto (and here the composer is himself soloist). It exists in a whispered world that is markedly disturbing, as if the quietude contains great power within. There are more explosive moments within this piece, but Heusinger’s core sense of sonic awareness and even, at times, lushness, remains.
In short, an expression of utmost beauty couched in modernist terms. The recording is, as one might expect, faultless.
Colin Clarke