Auferstanden aus Ruinen
Nachkriegsmusik beim „Forum neuer Musik“ des Deutschlandfunk Köln
Die Werke und deren Aufnahmen auf dieser CD sind in Zeiten von Krieg und Zerstörung entstanden. Wir wissen bereits um die Langfristigkeit ihrer Verheerungen. Die Traumata halten ein Leben lang an und prägen in der Folge mehrere Generationen. Der Mensch ist fähig zur Bestialität – zugleich ist er ein hochsensibles Wesen. Er ist fragil und sollte entsprechend behutsam behandelt werden. Dieses Album will das Bewusstsein für die Bedeutung der Empathie stärken und die Sehnsucht nach Leben zum Ausdruck bringen.
Ich danke dem DLF-Redakteur und Produzenten Frank Kämpfer, der mir über Jahre immense künstlerische Freiheit ermöglicht hat. Ebenso gebührt Dank den künstlerisch Mitwirkenden:
Florian Juncker, dem Duo Ingólfur Vilhjálmsson / Laurent Bruttin, dem E-MEX Ensemble unter der Leitung von Christoph Maria Wagner sowie den Tonmeistern Robert F Schneider und
Stephan Schmidt.
Eres Holz
Ein Mensch erkennt, dass er nie Mensch war
Die Komposition nimmt ihren Ausgang von einem 2011 erschienenen Buch der Historikerin Svenja Goltermann, in dem es, so der Untertitel, um »Deutsche Kriegsheimkehrer und ihre
Gewalterfahrungen im Zweiten Weltkrieg« geht, und im Weiteren darum, wie sie von der deutschen Nachkriegsgesellschaft wahrgenommen und angenommen wurden – oder eben nicht.
Die Gesellschaft der Überlebenden heißt das Buch. Zur besonderen Situation der deutschen Kriegsheimkehrer gehörte die Erkenntnis, dass ihre Leiden umsonst gewesen waren und dass sie einer verbrecherischen Ideologie gedient hatten. Oder aber – soweit sie an nationalsozialistischen Überzeugungen festhielten –, dass sie versagt hatten. Anders gesagt: Sie waren nicht allein durch die traumatischen Gewalterfahrungen, sondern zusätzlich durch Schuldgefühle belastet. Andererseits ist genau diese Erfahrung – die Entfremdung von der Gesellschaft, auch und gerade von eigentlich nahestehenden Menschen, von der Familie, von Freunden – auf jeden anderen Konflikt extrapolierbar: Traumata können nicht geteilt und oft nicht einmal kommuniziert
werden. So sind auch die im Buch zitierten Aussagen nicht in Situationen alltäglicher Kommunikation entstanden, sondern entstammen Gesprächsprotokollen mit den behandelnden Psychiatern.
Der Komponist Eres Holz hat dennoch versucht, sich hineinzuversetzen in diese Männer, und das ganz bewusst als Jude, als Israeli, als Sohn einer Holocaust-Überlebenden. »Jeder Krieg«, so sagt er, »schafft ein Zwangssystem, das die Gesellschaft zusammenschließt, und dann lässt sie keinen Platz für Individualität. Da wir soziale Tiere sind, vereinigen wir uns zu einer Art Organismus, so dass wir unsere eigenen Gedanken verdrängen. Das sieht man auch sehr stark bei den Berichten aus diesen Dokumenten, wo sie erzählen, wie sie sich von ihrem eigenen Körper abkoppeln, wie sie ihre Gefühle komplett beiseitelegen und die Situation im Krieg betrachten, als seien sie Außenstehende.«
Originalzitate der Betroffenen aus Svenja Goltermanns Buch spielen in der Komposition von Eres Holz eine wichtige Rolle: Sie umschreiben die Stationen Depression – Sinnlosigkeit –
Trauma – Realitätsflucht – Selbsterkenntnis. Sie werden während der Aufführung als Texttafeln projiziert.
DEATH
Das trifft vielleicht noch mehr auf die Komposition DEATH für zwei Bassklarinetten und Live-Elektronik zu. Auch hier gibt es eine visuelle Dimension, Nebel, Scheinwerfer, farbiges Licht, stroboskopartige Effekte, sogar eine Taschenlampe – als Evokation eines Schlachtfeldes recht bescheiden, im Konzertsaal allerdings, in Verbindung mit einer durchaus gewalttätigen Musik, von verstörender Wirkung. Denn hier geht es nicht um die Frage, wie Gewalterfahrungen im Krieg Menschen verändern – hier wird Gewalt ganz unmittelbar erfahren: stellvertretend von den beiden Bassklarinettisten, die einem Pandämonium elektronischer Klänge ausgeliefert sind, an dessen Produktion sie selbst mitwirken. Doch auch das Publikum wird in das Geschehen
hineingezogen, indem es unmittelbar daran teilhat, wie Gewalt ausgeübt und erlitten wird. Das stellvertretend auszuagieren, ist die technisch, musikalisch und emotional überaus heikle Aufgabe der beiden Solisten. Der optischen Ebene kommt in diesem Stück also keine inhaltliche, sondern lediglich eine wirkungsverstärkende Aufgabe zu: Ein Gefühl des Ausgeliefertseins stellt sich auch beim bloßen Hören ein.
Der Komponist bezieht sich dabei auch sehr bewusst auf die Emblematik des Instruments. Die Bassklarinette verfügt über das weite Ausdrucksspektrum der Klarinette – vom schrillen Alarm bis zur stillen Klage –, nur insgesamt herabgestimmt durch die tiefe Lage. Es ist der abgründige Klang einer einzelnen Bassklarinette, zu dem im zweiten Akt von Wagners Walküre dem Allherrscher Wotan die Erkenntnis dämmert, dass die Dinge sich der Gestaltbarkeit durch Macht und Herrschaft entziehen. In Eres Holz’ Komposition wächst der Bassklarinette mittels elektronischer Verstärkung noch eine weitere Farbe zu: eine dröhnende, donnernde Klangqualität, eruptive Sounds, fremd und unheimlich.
Das Nachdenken über die Gewalt, über ihre Gründe und Anlässe, war der Ausgangspunkt der Komposition. Das Anwachsen der Gewalt innerhalb von Gesellschaften und im Rahmen politisch-systemischer Konflikte, die schwindende Bereitschaft zu Kommunikation und Kompromiss und die daraus resultierende weltweite Instabilität treiben Eres Holz schon lange um: Aus dieser bedrängenden Erfahrung heraus konzipierte er die Komposition DEATH. Kurz vor ihrer Uraufführung kam es zum Überfall der Hamas auf Israel – und in der Folge zum Gaza-Krieg.
Die Komposition DEATH spricht vom Schmerz, vom Verüben und vom Erleiden der Gewalt, bei allen Beteiligten.
MACH für Posaune und Elektronik
MACH – so heißt ein Zyklus von Stücken für Soloinstrumente, den Eres Holz 2011 begonnen hat und der inzwischen zehn Stücke umfasst. Es geht in diesen Stücken um die »Lebenseinsamkeit« als Conditio humana – das Wissen, wie Arthur Schnitzler es formulierte, »dass wir nie ganz ineinander hineinkönnen, einander nie ganz verstehen werden«. Es ist aber sicher kein Zufall, dass gleich fünf dieser Stücke in den Jahren der Corona-Pandemie 2020 / 21 entstanden sind. Nicht allein der Aufführungspraxis wegen – Proben und Aufführungen von Ensembles waren wegen der Kontaktbeschränkungen ja über längere Zeiträume nicht möglich. Vielmehr wurde Einsamkeit plötzlich zur täglichen Erfahrung und zum Debattengegenstand, und so kommt diesen Stücken auch eine zeitdiagnostische Qualität zu. Das Individuum, das mit allen Mitteln – eben auch denen der Elektronik – in Kontakt zu kommen sucht: auch in der Isolation, auch in der Einsamkeit noch bezogen auf ein Gegenüber.
In der Komposition MACH für Posaune und Live-Elektronik ist diese Konstellation verschoben – indem nämlich Posaune und Live-Elektronik zusammenwirken und eine Botschaft transportieren. Denn apokalyptische Perspektiven eröffnen sich auch hier. Sie ergeben sich fast zwangsläufig aus der Grundkonstellation des MACH-Zyklus, die Stücke aus einem jeweils instrumentenspezifischen Repertoire virtuoser Techniken und expressiver Spielfiguren zu entwickeln. Bei der Posaune sind es etwa Rufmotive (Tonrepetitionen, wiederholte Sekund- oder Terzmotive), wie überhaupt der »appellative« Charakter des schweren Blechs hier eine Rolle spielt.
In der deutschen Sprache bildet sich dazu ein entsprechender Assoziationsraum: Posaunen hört man bei feierlichen kirchlichen Zeremonien, bei Beerdigungen und, gemäß Luthers Übersetzung, beim Jüngsten Gericht: »Wir werden nicht alle entschlafen / Wir werden aber alle verwandelt werden / und dasselbe plötzlich in einem Augenblick / zur Zeit der letzten Posaune.« (1. Kor. 15,51-52) Dieser Bezug wird in Eres Holz’ Komposition offengelegt. Die Vortragsanweisung beim Höhepunkt des Stücks, etwa in der Mitte, lautet »unheimlich, apokalyptisch«. Stark akzentuierte Forte- und Fortissimo-Attacken der Posaune, teils mit Flatterzunge, über berstenden und rauschenden elektronischen Klängen sind das charakteristische Vokabular dieser Episode. Danach folgt ein »tänzerisch« überschriebener, aber durchaus unheimlicher Abschnitt, in dem die etablierte Ordnung der Musik allmählich zerfällt, bis schließlich nur mehr elektronische Klänge übrigbleiben, in denen der Posaunenklang als bloße Reminiszenz mitschwingt: Der Mensch verschwindet.
Ingo Dorfmüller