Lange Zeit schien unter den Komponisten der Nachkriegszeit das Komponieren für Orgel diskreditiert zu sein, im besonderen Maße in Deutschland, nicht so sehr in Frankreich, wofür vor allem Olivier Messiaen steht, der die französische Orgeltradition nach dem Fin de Siècle neu belebte und zugleich fortlebte. Er befreite die Musik in der Kirche, insbesondere die Orgelmusik, als Erneuerer vom Geiste der Restauration. Die Bedingungen schienen dafür in Frankreich günstiger zu sein als in Deutschland, da dort das Selbstverständnis von Glaube und Religio sehr rational und damit sehr säkular sich zeigt. Es folgt einem naturphilosophisch-cartesianischen Ansatz, dem Denken der Aufklärung verpflichtet, zutiefst skeptisch gegenüber mythologisch verklärten Ausschweifungen und religio-ideologischen Sedimenten. In Deutschland erschien vielen ernstzunehmenden Komponisten mit Geschichtsbewusstsein die Kirche als ein ideologischer Raum und mit ihr die Orgel, beide nicht zuletzt durch deren belastete Rolle im Nationalsozialismus, letztere über die Jugend- und Singbewegung, diskreditiert. Erst György Ligeti, der sich um Konventionen, auch historisch belastete, nie scherte, sondern diese mitunter mittels semantischer Umdeutungen (musica reservata) einfach hinwegfegte, begriff den Kirchenraum als kreativen Kunstraum und entdeckte mit seinem epochalen Orgelwerk Volumina die Orgel als reiches Terrain für musikalische Innovationen, womit er eine Renaissance der Orgelmusik im Deutschland der späten 1960er Jahre (Bremen 1968: pro musica nova) einleitete.
Meine intensive Beschäftigung mit der Orgel folgt einer starken autobiographischen Komponente. Schon als kleiner Junge von fünf Jahren sollte sich für mich das Hören von Olivier Messiaens Musik als ein sehr prägendes Momentum für mein späteres Leben erweisen. Über eine sehr schwierige und disruptive Kindheit und Jugendzeit wurde ich daran gehindert, die Orgel spielen zu lernen. Der Beruf des Kirchenmusikers schien mir nach einem solchen nicht gelebten Leben als orientierungslosem Jugendlichem, der im Glauben Lebenshilfe suchte, spirituellen Halt zu geben. Die Einsicht, diesen Beruf nicht ergreifen zu können, stürzte mich in eine schwere Krise. Ein Ausweg aus dieser Krise schien das Komponieren für Orgel zu sein. Diesem Umstand verdanke ich mein umfangreiches Orgel-Œuvre. Und in vieler Hinsicht formte sich daraus mein ästhetisches Denken, basierend auf einer rationalen, aufklärerischen Haltung (siehe oben). In diesem Sinne ist meinem abendfüllenden Orgelzyklus superverso ein theosophisches Programm einbeschrieben, jenem theosophischen Weltkosmos verpflichtet, der auch Olivier
Messiaens Orgelschaffen grundiert, der Trias des Weltseins als Weltenlauf in seiner sich fortlaufend entwickelnden Verwandlung. Für diesen Zyklus stand daher in besonderer Weise das große Vorbild Messiaen Pate.
Dieser cartesianisch-naturphilosophische Ansatz ist rational in seiner säkulären Objektivation, spirituell im starken Glauben an den göttlichen Seinsgrund, den Baruch de Spinoza einst
»Substanz« nannte. Aus dieser Spiritualität speist sich jener säkulär-rationale Ansatz von Religio, der die Geistes- und Kulturgeschichte Frankreichs seit jeher stark geprägt hatte. In seiner ontologischen Diskursivität ist er zugleich ein jüdischer. Spinozas »Substanz« als existierende ist für den menschlichen Verstand, für dessen Sinne, in ihrer allumfassenden Unendlichkeit nicht greifbar. Diese Substanz erscheint als Ursache, als Urgrund all dessen, was ist, etwa des Menschen als Individuum. Sie ist göttlich, Schöpferin aller natürlichen Existenz. Die Konstituierenden des Naturseins versammeln sich in ihrer Mannigfaltigkeit (Ganzheit) in der Trias aus der Bezüglichkeit aller einzelnen Dinge zum Ganzen von Bewegung und weiter von Veränderung als prozesshaftem Gestaltungsprinzip. Hieraus leitet sich als diskursive Ebene individuellen Seins die Trinitas von Körper, Seele und Geist her. Für jedes menschliche Individuum gebiert diese den dementsprechenden einmaligen »göttlichen Plan«.
Mein Zugang zur Orgel ist ähnlich dem Olivier Messiaens sowohl technisch als auch von starker emotionaler Prägung bestimmt. Der technische Zugriff basiert auf einer Analyse der reichen Klangfarbenpalette dieses wunderbaren Instrumentes und einer ganz unbewusst entwickelten wie sehr persönlich geprägten Hermeneutik der Farben (Farben des Lichts etwa: »scharf, gleißend« im 1’-Register = das ewige Licht, das hell alles überstahlt, auch den apokalyptischen Befund, der immer wieder hervorlugt), die sich kompositorisch in Form spezifischer Registerkombinationen wiederfinden. Wie bei Messiaen stehen zudem spezifische Melodie-, Akkord- und Strukturkonfigurationen für entsprechende semantische Bezüge.
Weiter hat sich mein Komponieren über die glückliche Begegnung mit einigen Pionieren entwickelt, die federführend für die Renaissance der Orgel in der Neuen Musik stehen: Reimund Böhmig, Hans-Ola Ericsson, Christoph Maria Moosmann und Zsigmond Szathmáry, die meine Werke herausragend interpretierten und immer noch interpretieren. Auf dieser CD wird nun ein Teil jener Orgelwerke vorgestellt, die Reimund Böhmig, der Magier der Klangfarben unter den Organisten, auch teilweise auf Kleinorgeln interpretiert, was angesichts des mitunter orchestralen Duktus dieser Stücke an ein Wunder grenzt.