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Georg Katzer · Streichquartette Die Streichquartette stehen gewiss nicht im Zentrum des umfangreichen Werks von Georg Katzer, und doch begleiten sie seine gesamte Entwicklung als Komponist: Fast so, als habe er in Abständen von jeweils etwa 20 Jahren anhand des traditionellen Formates seine eigene Position jeweils neu bestimmen wollen. Sie sind keine Summe seines Schaffens, aber wichtige Wegmarken, sie bieten keinen Überblick, wohl aber Einblicke in einen künstlerischen Werdegang. Georg Katzer, in Schlesien geboren, nach dem Krieg in der Nähe von Magdeburg aufgewachsen, war zunächst musikalischer Autodidakt, denn in den Nachkriegsjahren war an systematischen Musikunterricht nicht zu denken. Es bedurfte eines Vorstudienjahres, bevor er zum Kompositionsstudium an der Berliner Hochschule zugelassen werden konnte, zunächst bei Rudolf Wagner-Régeny, dann bei Ruth Zechlin. Prägend war dann das Meisterstudium bei Hanns Eisler ab 1960, der ihn ermutigte, die unterschiedlichsten Genres auszuprobieren: Die verblüffende Vielgestaltigkeit von Katzers Werk findet hier möglicherweise eine Erklärung. Die Laufbahn des Komponisten Georg Katzer beginnt also nicht mit dem allmählichen Hineinwachsen in die Verbindlichkeiten einer etablierten Musikkultur: Von daher mag sein besonderes Verhältnis zur Tradition rühren. Sie musste für ihn schon deshalb wertvoll sein, weil er sie sich selbst und aus eigenem Antrieb erschlossen hatte, und eben darum auch nicht sakrosankt und erstarrt, sondern lebendig – zugänglich für Veränderungen. So verband er die traditionellen Formen, Konzert und Sonatensatz, mit einer modernen Musiksprache, die Komposition mit Reihen in der Schönberg-Nachfolge mit einer Art von tonaler Zentrierung. Zugleich führte er beständig neue Spielarten und Techniken in die Musik ein und überschritt die Grenzen von Genres und Gattungen. Die Wirkung war eine doppelte: Sie stellte nicht nur die Tradition, sondern auch die Konventionen modernen Komponierens, etwa den Regelkanon der Dodekaphonie, in Frage. Das Streichquartett Nr. 1 (1965) ist ein gutes Beispiel für Katzers kompositorische Strategien: Die Konturen einer klassisch dreisätzigen Anlage, schnell–langsam–schnell, lassen sich noch erkennen, ebenso die Kontrastwirkungen eines Sonatenhauptsatzes und die episodische Struktur eines Rondos. Was sich aber innerhalb dieses Rahmens vollzieht – der Wechsel asynchroner und mehr oder weniger streng synchronisierter Bewegungsmuster, oder, wenn man so will, kollektiven und individuellen Handelns – ist ganz und gar eigenartig und reicht von gleichsam gehämmerten Akkordfolgen bis zu aleatorischen Auflösungsfeldern, bei denen den Interpreten die rhythmische Anordnung der vorgegebenen Tonhöhen innerhalb eines bestimmten Zeitraumes freigestellt ist. Das von diesen Extremen umschriebene Konfliktpotential lässt sich am gestischen Charakter der Musik mühelos ablesen. Über zwanzig Jahre liegen zwischen Georg Katzers erstem und seinem dritten Quartett, Jahre der Erfahrungen mit den unterschiedlichsten Formen und Genres, dem experimentellen Musiktheater und insbesondere der elektronischen Musik, die seit Mitte der siebziger Jahre für ihn sehr wichtig wurde. Im Streichquartett Nr. 3 lässt Katzer die traditionelle Form hinter sich – dafür hat sich die Palette der Klangfarben ungeahnt erweitert: Verschiedene Triller-, Tremolo- und Glissandoeffekte, Spiel am Steg, am Frosch, mit dem Bogenholz, oder auf dem Korpus der Instrumente, unterschiedliche Pizzicato-Effekte, Flageoletts, extreme Lagen, Stimmkreuzungen: Das alles konstituiert die ganz andere Klangwelt dieses Quartetts. Indessen tauchen auch bekannte Elemente auf: Etwa die fast schon gewaltsame Synchronisierung, die zweimal die weitgehend individuell geführten Instrumentalstimmen in den Gleichschritt zu zwingen sucht, einmal kurz nach Beginn, und dann noch einmal kurz vor dem chaotisch-tumultuösen Schluss des Stückes. Wer will, mag darin politischen Hintersinn erblicken, immerhin schreiben wir das Jahr 1987 – Katzer selbst hat aber von derart eindeutigen Festlegungen nie viel gehalten. Seine eigene Erläuterung zum Dritten Streichquartett nennt einen geradezu unscheinbaren Entstehungsanlass: »An einem Sommerabend nahm ich erstmals mit wachem Bewusstsein den Gesang der Grillen wahr, ich hörte ihn als ein dichtes, zirpendes Gewebe um einen Zentralton.« Und doch wurde ihm das Schallereignis des Grillengesangs offenbar zum Paradigma: Ein Ganzes aus lauter unabhängigen Einzelstimmen. »In der Niederschrift einer außermusikalischen Anregung gerinnt ja etwas anderes: Menschliche Erfahrung in kunstmäßiger Analogie. So wird man die mehrfach wiederkehrenden Klangfelder, die durch das abendliche Hörerlebnis ausgelöst wurden, im Umfeld des Stücks kaum mehr als Naturphänomene auffassen können. Viel eher, wenn man will, als Ausdruck von Nervosität und Anspannung.« Wiederum ein langer Zeitraum, siebzehn Jahre, trennt Georg Katzers Drittes Streichquartett von seinem vierten und jüngsten Gattungsbeitrag. Dazwischen liegen das Jahr 1989, der Untergang des Staatssozialismus und die deutsche Wiedervereinigung, die den Künstlern der ehemaligen DDR eine paradoxe Erfahrung bescherte – sie ist oft genug beschrieben worden: Man darf jetzt alles sagen, aber es hört einem keiner mehr zu – und dazu die Erkenntnis, dass auch die Neue Musik ein Markt ist. Die Skepsis, die aus solchen Lebenserfahrungen folgt, ist in Katzers Streichquartett Nr. 4 eingegangen. Er hat ihm einen doppeldeutigen Titel gegeben: »tempi fragili« – »Zerbrechliche Zeitmaße« oder eben doch: Zerbrechliche, gefährdete Zeiten? Was vordergründig auf einen rein musikalischen Sachverhalt gemünzt ist, wird zur Chiffre der großen Verunsicherung, die zum prägenden Lebensgefühl unserer Zeit geworden ist: Das Stück pendelt episodisch zwischen Gehen und Innehalten, Statik und Dynamik, mechanistischem Leerlauf und rabiaten Ausbrüchen, behandelt die Zeit als gebrochenes Diskontinuum, bis gegen Ende jegliche Koordinierung aufgegeben wird und am Schluss jeder für sich allein sphärisch klingende Flageoletts spielt. Utopie oder Entropie? Auch hier keine Festlegung. Allemal aber Komponieren auf der Höhe der Zeit. Ingo Dorfmüller |
Programm:
String Quartet No. 1 (1965) 18:40
[01] I 07:33
[02] II 06:28
[03] III 04:39
[04] String Quartet No. 3 (1987) 16:32
[05] String Quartet No. 4 “tempi fragili” (2004) 17:54
total time 53:25
Sonar Quartett
Susanne Zapf, violin (violin I: 04 & 05)
Kirsten Harms, violin (violin I: 01–03)
Nikolaus Schlierf, viola
Cosima Gerhardt, violoncello
World Premiere Recordings
Pressestimmen:
02/2011
Katzers Streichquartette
Interpretation:
Klangqualität:
Repertoirewert:
Booklet:
Der 1935 in Halberstedt/Schlesien geborene Georg Katzer zählt zu den bedeutendsten Komponisten unserer Zeit. Katzer studierte unter anderem bei Rudolf Wagner-Régency, Ruth Zechlin und war Meisterschüler von Hanns Eisler und Leo Spies an der Berliner Akademie der Künste. Bis heute schuf Georg Katzer ein vielgestaltiges Œuvre mit mehr als 150 Kompositionen. Dazu gehören Ballette, elektronische Musik, Kammermusik, Orchesterwerke und Musiktheater. Im Werkverzeichnis finden sich auch Streichquartette.
Das Label NEOS hat nun eine Aufnahme mit den Streichquartetten Nr. 1, 3 und 4 veröffentlicht (Hybrid-SACD, auch auf herkömmlichen CD-Playern abspielbar), interpretiert vom 2006 gegründeten Sonar-Quartett. Das zweite Streichquartett fehlt, es wurde bisher weder aufgeführt noch sonst veröffentlicht, war zeitweise sogar verschollen. Vielleicht wird es eines Tages noch nachgereicht, obgleich Elemente des zweiten Streichquartetts mittlerweile ins vierte eingeflossen sind.
Unverwechselbar
Die vorliegend eingespielten drei Quartette entstanden in einem Zeitraum von fast vierzig Jahren, das erste 1965, das dritte folgte 1987 und das vierte entstand schon diesem Jahrhundert. Trotz des großen Zeitrahmens und den damit verbundenen kompositorischen Entwicklungen Georg Katzers ist sein eigener Ausdruck in allen Streichquartetten unverwechselbar. War das erste Streichquartett noch die Komposition, mit der Katzer laut Booklet seinen kompositorischen ,Durchbruch‘ erlebte, so sind aus heutiger Sicht die Streichquartette Nr. 3 und 4 mit ihrem erweitertem Spektrum an musikalischen Mitteln und Spielweisen interessanter, gleichwohl ist das erste nicht weniger hörenswert.
Atmosphärisch
Mit dem Sonar-Quartett hat Georg Katzer kongeniale Interpreten seiner Streichquartette gefunden. Das Quartett, das sich seit seiner Gründung auf die zeitgenössische Musik, insbesondere die das 21. Jahrhunderts konzentriert, hat die Streichquartette Katzers sehr genau ausgearbeitet; jeder einzelne Ton ist ausdifferenziert, hat seinen eigenen Ausdruck, der gleichwohl in ein überzeugendes horizontales und vertikales Gesamtgefüge eingebettet ist. Das Spiel des Sonar-Quartetts ist atmosphärisch, dramatisch, die musikalische Struktur der Quartette geradezu plastisch. Dramatisch und mit explosiver Dichte scheinen die Quartette, intensiv musiziert, zu atmen. Die vorliegende Einspielung ist rundum gelungen und sollte in keiner Sammlung zeitgenössischer Kammermusik fehlen.
Patrick Beck
http://magazin.klassik.com/reviews/reviews.cfm?TASK=REVIEW&RECID=19019&REID=12061
03.12.2010
Die Geschenkempfehlungen der Redaktion
Was Sie alles haben müssen
16.10.2010
XX/XXI 2010
Auszeichnungen & Erwähnungen:
Dienstag, 15.02.2011
Preis der deutschen Schallplattenkritik 1/2011 für Georg Katzer
Die Juroren der Vereinigung „Preis der deutschen Schallplattenkritik“ zeichnen die NEOS-Produktion „Georg Katzer: String Quartets“ NEOS 11020 durch die Aufnahme in die Bestenliste 1/2011 aus.
German Record Critics‘ Award 1/2011 for Georg Katzer
The jurors of the „German Record Critics‘ Award“ association have recognized the NEOS production „Georg Katzer: String Quartets“ NEOS 11020 by including it in its list of the best recordings of the first quarter of 2011.