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AN AENEAS, AN DIDO… SAR: Wie kommst du ausgerechnet auf Aeneas? GM: Die Geschichte von Dido und Aeneas habe ich schon als Kind vor dem Einschlafen von meinem Vater gehört. Die antiken Mythen haben wohl auch seine kindliche Welt beflügelt. Ich erinnere mich an ein Gefühl der Überraschung, der Enttäuschung über das »Unhappy End«, der großen Trauer um die schöne, verlassene Königin und um die verlorene Liebe. Auch an ein imaginiertes Bild von weißen Segeln, sich entfernend im Horizont. Du sagst aber »ausgerechnet«. Wieso? SAR: Ein griechischer Held, in einen römischen Mythos adoptiert, ist für einen Juden aus Israel nicht das Allernächste – zumal viele deiner Werke eher im jüdisch-literarischen Kontext sind. GM: Viele. Nicht alle. Ich glaube übrigens nicht, dass man eine direkte genetische Verwandtschaft braucht, um das Ur-Menschliche mitzuempfinden. Die Mythen der Antike, genauso wie die Bibel-Geschichten, sind Urbilder unseres Wesens. Leidenschaft, innerer Kampf, Todesangst, Lebensdrang, Sehnsucht, Freiheitsdrang ist uns allen gemeinsam. Außerdem: Wer weiß? Vielleicht sind wir doch verwandt? Dido stammte ja aus Tyros. Wenn du fit bist, könntest du von Tel Aviv aus der Küste entlang zu ihr radeln… SAR: Dein Zyklus heißt aber An Aeneas. Nicht »An Dido«. GM: Ja. Vielleicht aus dem verborgenen Wunsch heraus, ihn posthum zu rehabilitieren… In der Aeneis, dem Epos von Vergil, spielt er die Hauptrolle. Die Affäre in Karthago nimmt darin ein relativ kurzes Kapitel in Anspruch. Aber im Laufe der Jahrhunderte wurde der Blick vor allem auf Dido gerichtet. Die verlassene Geliebte, die ihren Palast verbrennen lässt und sich das Leben nimmt. Das Allerberühmteste heute ist die Klage der Dido aus Purcells Oper. Metastasios Didone abbandonata aus dem Beginn der 1720er Jahre hat mehrere Schauspielstücke und Opern zur Folge gehabt. Geschweige denn die zahllosen Gedichte, Lieder, Gemälde… SAR: Wie auch die Sonate von Clementi? GM: Ja. Clementi betitelt diese, seine letzte Sonate nach ihr. Er bewegt sich mit seinen Satzbezeichnungen und Spielanweisungen am Rande von Programmmusik. Clementi zieht alle seine Register des Ausdrucks, schreibt sehr ungewöhnliche Pedalbezeichnungen vor, um das herzzerreißende Schicksal dieser armen Adelsfrau zu beschreiben und um unser Mitleid zu erwecken. Dabei neigen wir dazu, zu vergessen, dass jedes Scheiden eine zweiseitige, mehrseitige Tragödie ist. Was läuft im Kopf und im Herzen des flüchtigen Königsohns aus Troja vor diesem Scheiden ab? Er muss sich zwischen Liebe und göttlicher Verfügung entscheiden, zwischen der eigenen Lust und dem Sendungsbewusstsein, zwischen dem Wunsch nach Heim und Hafen und dem (inneren?) Befehl, durch die Meere zu wandern, bis er an sein wahres Ziel gelangt. Er ist verstrickt in eigenen Zweifeln und Verzweiflung. SAR: Mitten im Labyrinth. GM: Genau. Im dritten Stück, mit diesem Titel, ist sein Versuch zu hören, die Stricke zu zerreißen, loszukommen. Wenn man die Noten liest, kann man es aber bestimmt sehen, vielleicht kann man es auch hören: Er macht gedanklich einige Schritte vorwärts, findet keine Öffnung und kehrt sofort zurück, versucht es irgendwie ein wenig anders. Da der Weg nicht gefunden wird, versinkt er in Wahnbildern, bevor er wieder in den Sog des Labyrinths gezogen wird. SAR: Sind in den anderen Stücken Lösungen? Wird der Weg gefunden? GM: In den ersten zwei bestimmt nicht. du. Nocturne ist die Beschreibung eines inneren Konflikts. Der Versuch, einen kurzen Moment zu »strecken« und durch Dynamik-, Motiv-, bzw. Register-Gegensätze diese Kluft zu beschreiben. sie. Delirium ist sogar noch mehr ein »Nicht-Bewegen«. Ein inneres Kreisen, fast bis ins Bewusstlose. SAR: Ja. Ich finde es sehr schwer, mich beim Hören zu konzentrieren. Es ist fast peinlich, aber ich schlafe ein… GM: Wunderbar! Dann hat das Stück sein Ziel erreicht. Wenn du die Partitur anschaust, siehst du, dass an einem Punkt auch die Bindung zu Takt und Rhythmus aufgehoben wird – mutiert in eine sogenannte graphische Notation. Der Spieler gestaltet das Zeitgeschehen nach eigenem Empfinden. Beim Spielen bekomme ich dort ein Gefühl von Taubheit in den Fingern… SAR: Bis zu diesem Krach in der Mitte… GM: Ja. Didone ist nicht mehr bei Sinnen. Sie wird mit einem Hieb von der Wut übermannt, die sie letztendlich zum Verbrennen des Palastes und zum Selbstmord zwingt. Diese Wut macht sie aber umso hilfloser. Völlig ermattet. In Klammern gesagt – es ist eine Zuspitzung dessen, was auch bei Clementi die Gegensätze zwischen »lamentando« und »furioso« ausmacht. SAR: Ist es ihr Delirium oder sein Delirium? GM: Gute Frage. Sie schwebt ja im Halb-Bewusstsein, aber die musikalischen Materialien, aus denen dieses Schweben besteht, stammen von »ihm«, von seinem inneren Kreisen im ersten Stück. Also vielleicht doch alles nur seine Wahnbilder… Näher betrachtet, bestehen zwischen allen fünf Stücken viele Verwandtschaften. Das muss aber dich, als Zuhörer, nicht interessieren. SAR: Vater. Die Berührung.: Sein Vater? Dein Vater? Vater unser? GM: Alle zusammen. Bei der Flucht aus Troja trägt Aeneas seinen Vater auf seinen Armen zu den Schiffen. Der Vater symbolisiert das Gewesene, das Erbe früherer Generationen, die göttliche Pflicht (auch das Göttliche fügt sich ja in unser patriarchales Denken und Fühlen…). Der Vater ist gleichzeitig eine weise Stütze, ein Wegbegleiter, wenn auch ein imaginierter. Den Anteil meines Vaters an meiner Berührung mit dem literarischen Material habe ich schon erwähnt. Er war ja ein exzellenter, in Israel sehr bekannter Geiger. Das erste Stück, das ich mit ihm gespielt und aufgenommen habe, war diese Sonate von Tartini in g-moll, die wohl von den Herausgebern Didone abbandonata genannt wurde… Deren Bearbeitung habe ich seinem Gedenken gewidmet. Ebenso ein Solostück für Klavier namens Kinnor (hebräisch für »Violine«). SAR: Das »Vater«-Stück ist unheimlich zart, manchmal dehnt sich die gefühlte Pulsierung ins Endlose. Hast du keine Angst, in diesen Momenten den Zuhörer zu verlieren? GM: Der Zuhörer muss nicht an der Leine gehalten werden. Er soll sich mit der Musik, darf sich aber auch weg von der Musik frei bewegen. Ich hoffe nur, dass er die Bereitschaft mitbringt, zuzuhören, hineinzutauchen, diesen seelischen Spaziergang mitzumachen. Ob diese Musik Tiefen hat, muss er selbst empfinden und beurteilen. Vielleicht muss er sich auch an Längen und Tiefen gewöhnen. Das ist kein Videoclip auf YouTube. Die Pop-Welt serviert oft alles kurzatmig, oberflächlich, zugänglich. Mich interessiert die Suche. Und, übrigens, die »Berührung« führt doch im Laufe dieses Stücks zu einer Gewissheit. Es keimt eine musikalische Idee, die dann in eine Art zeremonielle Initiation führt (es fällt mir kein besseres Wort für diese Stelle ein als das französische »hiératique«), die sozusagen das Entscheiden zum Scheiden verkörpert, sich wieder in die Wogen des Meeres zu begeben. SAR: Ein tiefes und extrem dunkles Meer, im fünften Stück… GM: Ja. Lauter Schattierungen von Schwarz und Blau. Wenn man zuhört. Das quasi ostinato des Wellen-Motivs kämpft sozusagen gegen sich. Der Weg im Wasser ist nicht geebnet und leicht. Es ist keine »Meeresstille und glückliche Fahrt«. Eher fürchte ich, dass Aeneas und seine Mannschaft sich auf dem Boot eines Charons befinden, der sie ins Jenseits überführt. SAR: Fazit: Frauen nicht verlassen! GM: Genau das. Nie! |
Programm:
Muzio Clementi (1752–1832) [01] I Introduzione. Largo patetico e sostenuto – Allegro, ma con espressione 10:47 Gilead Mishory (*1960) [04] du. Nocturne / you. Nocturne / tu. Nocturne 05:36 World premiere recording Giuseppe Tartini (1692–1770) [09] I Affettuoso 07:10 total playing time: 69:15 Gilead Mishory, piano |
Pressestimmen:
05/2017 Drei Komponisten, drei Jahrhunderte, drei Stile, aber nur ein Thema – diese spannende CD basiert konzeptionell auf der Geschichte um Dido und Aeneas. (…) Mishory erfüllt nicht nur sein eigenes Werk mit beklemmender Atmosphäre, sondern verlebendigt die barocke Rhetorik Tartinis und die expressive Formensprache Clementis pianistisch souverän. Frank Siebert
Dr. Hartmut Hain schrieb am 4.4.2017, die Produktion sei „ein faszinierendes Konzeptalbum“, Mishorys Klavierspiel beschreibt er als „nuancenreich und überzeugend“. Lesen Sie den ausführlichen Artikel hier!
06/03/2017 Alain Steffen schreibt: „Gilead Mishorys eigenes Werk ‘An Aeneas’ wirkt in sich geschlossen und innovativ, auch wenn es mit seinen 32 Minuten etwas lang erscheinen mag. Trotzdem, Mishory ist ein Komponist, der hellhörig macht und dessen Musik sich erfrischend vom zeitgenössischen Mainstream abhebt.“
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