Innen und Außen, Wahrnehmung und Wirklichkeit, Komponieren im Differenzraum
Das musikalische Erforschen der Zwischenräume von Innen und Außen, von Körper und Seele, das subtile Ausleuchten der fragilen Wanderschaft der menschlichen Seele in ihrer wirklichen, in ihrer heterogenen Vielfalt der unendlich scheinenden Möglichkeiten, das ist der Nukleus der kompositorischen Arbeit Jakub Ratajs. Begriffslos forschend, dem haptischen Außen sich entziehend, Emotionen Räume öffnend, ist dieses Suchen eine musikalische Wanderschaft ins diskontinuierlich Offene, entzogen dem messbaren Zeitfaktor, dem kategorisierend zahlhaft Quantifizierbaren. Die Seele, ihre Wanderung eröffnend mit dem Phänomen Erlebniszeit, fraktalisiert den Zeitfaktor in Richtung einer unendlichen und zugleich gebrochenen Dimensionalität. Entsprechend führt das Komponieren Jakub Ratajs die Zerbrechlichkeit dieser Bewegung vor. Struktur nimmt im Komponieren bei Rataj keine sonderlich dominante Rolle ein. Sie hat bei ihm nicht die Oberhand über das intentional Intuitive des schöpferischen Handelns. Sie ist niemals hierarchisch angelegt, sondern offen in der Vielheit der Möglichkeiten der Fortbewegung und nicht zuletzt – »dem schaffenden Geist wohnt der Zweifel inne« (René Descartes) – deshalb fragil und zerbrechlich. Der Puls der Wahrnehmungszeit – die Pulsation der Gewissheiten – oft zu Anfang in Ratajs Werken sich gebieterisch Gehör verschaffend, wird meist sehr schnell durchbrochen durch das, was Rataj als eine »zusammengefasste Mischung von Wahrnehmungen der Außenwelt« und des Innen bezeichnet.
In H, dem Klavierquintett, erscheint dieser Puls anfangs derb stampfend als dumpf-perkussiver, denaturierter, in sich ersterbender Klang in tiefer Lage. Was ist die Gegenwelt aus der Sicht des Komponisten, die Rataj stets zu zumindest zweischichtigem Komponieren anregt? »Man könnte den menschlichen Körper [und die Seele] mit einem labilen Filter zwischen beiden Welten vergleichen.« (Jakub Rataj)
Bewegung ergibt sich für Rataj aus der Bezüglichkeit von Atem und Puls und ihrem Differenzraum zum – musikalisch vorgezeigten – (mechanisierten) Metrum. Bewegung ist als eine ins unendlich Offene weisende für Rataj ein weit vielfältigeres Phänomen als Polyphonie im traditionellen Sinne. Bewegung ist somit, heterogen gedacht, mehr als ein lineares Fortschreiten. Bewegung findet auch rhythmisch sowie harmonisch statt im Innehalten als eine menschliche Regung, indem Tonfolgen zunächst in kurzen Einsprengseln in Gegenbewegung ausdifferenziert in Erscheinung treten. Denn auch dem Innehalten ist der Prozess des sich stetigen Veränderns (Heraklit) einbeschrieben. Bewegung zeigt sich später in nachfolgenden Varianten komplexer ausgeführt, etwa im jüngsten 2. Streichquartett Kratzer in einer gebrochenen Dimension um sich kreisend. Das Innehalten als Solches darf demnach nicht als Stillstand fehlinterpretiert werden. Bewegung entsteht zunächst bei Rataj – und darin besitzt er ein Alleinstellungsmerkmal – sehr häufig rhythmisch aus dem statischen Momentum des Metrums, als eine kompositorisch selbstgenerierende Entwicklung einer zyklisch sich gebenden rhythmischen Struktur. Diese nimmt quasi aus einer konsequent gegen das Metrum sich entwickelnden Urzelle auf variativem Wege Gestalt an, in besonderem Maße zu Beginn seiner dreiteiligen Komposition H für Klavierquintett, entstanden 2017.
In Entsprechung des von Rataj entworfenen Bildes des menschlichen Körpers (sprich: Individuums) als labiler Filter zwischen den Innenwelten und dem Außen gibt sich sein Komponieren nicht nur rhythmisch und, wie im Weiteren zu sehen ist, auch in der Textur und der Artikulation sowie in der dynamischen Disposition so fein ziseliert wie variantenreich, sondern gleichermaßen auch harmonisch und auch im dynamischen Bezirk. Axiomatisch basiert die autonom aus sich selbst generierte Harmonik auf einem enggeführten viertönigen Cluster im Vierteltonabstand. Dieser teilt sich im Klavierquintett H zuweilen in zwei Gruppen à drei Tönen in ebenso mikroharmonischer Distanz auf. Daraus abgeleitete Ton-, später auch sangliche Melodiefolgen von hohem emotionalem Potential umspielen sich gegenseitig permutativ, woraus eine komplementär kohärente mikroharmonische Äquidistanz resultiert. Diese mündet im Idealfall kontrapunktisch im Vierteltoncluster. In der Varianz der weiten Lage öffnen diese Tonfolgen in doppelten Sinne Resonanzräume: Bei beiden Streichquartetten erweitern ungewöhnliche Tonhöhenkonstellationen der einzelnen Instrumente das Klangfarbenspektrum. Semantisch betrachtet, erscheint die Wirklichkeit zugleich als eine unendliche und grenzenlose.
Während solchen Tonfolgen im Klavierquintett nur geringfügige Phasenverschiebungen zu eigen sind, dienen sie bereits im Streichquartett Second Breath – und später, etwa im 2. Streichquartett Kratzer radikaler emanzipiert, da in der kompositorischen Ausführung differenzierter und zugleich komplexer – als Basis für eine sich verselbständigende polyphone Struktur, die sich gegenstrebig zur homophonen Schicht der jeweiligen Werkanfänge verhält. Im kontrastierenden Mittelteil in H und in weiter entwickelten Varianten ebenso in den späteren Werken für Streichinstrumente, darin durchweg in kleineren Formabschnitten, wird die anfangs exponierte Struktur um ein Vielfaches, will sagen: in starker Überdehnung augmentiert. Dies vollzieht sich zunächst in der einfachen Form additiv, später – komplexer – durchweg proportional, dominiert von Clusterflächen über langgezogene Glissandi, die stets einer mikroharmonischen Bezüglichkeit unterworfen sind. Auch flächige Tonrepetitionen, teilweise ins Geräuschhafte denaturiert, geben Varianten der augmentierten Morphologie. All diesen Techniken sind feinziselierte Klangtexturen zu eigen, in der Reprise von H und später differenzierter in den Folgewerken, etwa im Streichquartett Kratzer über den ganzen Werkverlauf verteilt. Kratzer – seine Großform ist in viele diverse mikroformale Strukturen aufgeteilt – setzt diese Texturen, besonders jene mit größerem Geräuschanteil, im Sinne seiner rhythmischen Grundstruktur perkussiv ein. So bezieht dieser Titel seine Legitimität nicht zuletzt auch aus der Art, wie das Werk komponiert ist. Jene mikroformalen Strukturen zeichnen scheinbar ein asymmetrisches Bild, sind aber als Teile einer quasi verdeckten Symmetrie nur in ihrer Abfolge vertauscht.
Sphärisch fein ziselierte Passagen von Flageoletts und Mikroglissandi an der Grenze der Hörbarkeit, Tonfiltertechniken im Wortsinne, spannen auf mikroharmonischer Basis nicht nur einen Schirm von Spektralität auf, sondern leuchten die Zartheit der Zwischenräume mikroskopisch aus. In dieser Textur greift der Komponist, im Gegensatz zur Überdehnung, zur Stauchung (Prolatio minor) der rhythmischen Strukturen. Das darin liegende Potential von Klangmalerei verweist im kristallinen Sinne im Streichquartett Kratzer auf eine scharfgeschnittene Kerbe in einem Gebäude, in der gleißenden Abendsonne von bleiernen Wolken umgeben; weiter in H auf die eisigen Temperaturen des Winters auf Gotland, den Anblick des »stählernen« Meeres. Solches Potential dient dem Komponisten immer wieder als inspirierender Klangquell, gespeist aus der ihn umgebenden Landschaft. Damit knüpft er im besten Sinne an die Tradition seiner kulturellen Herkunft an, und nicht nur emotional: an seine böhmischen Vorfahren Dvořák und Janáček.
Bezüglich der Generierung von Form und Struktur im Differenzraum von Homophonie und Polyphonie verfügt dieser Komponist über eine Vielfalt an musikalischen Möglichkeiten, die nur wenigen anderen Kollegen gegeben sind. Nicht nur dies adelt ihn, den 1984 geborenen, zum wichtigsten Vertreter seiner Altersgruppe in Tschechien.
Streichinstrumente und Streichertechniken bieten für die emotive wie inhaltliche Ausgestaltung dieses für ihn sehr bedeutsamen Themas ein reichhaltiges Potential. So ist es alles andere als zufällig, dass er dieses Instrumentarium für sein Sujet wählte.
In Stria, dem 2023 / 24 entstandenen Werk für Violoncello solo, treibt Jakub Rataj kybernetisch sein den anderen Werken sehr verwandtes Material in eine Richtung spieltheoretischen Experimentierens voran. Dieser stupend kreative und höchst individuelle Weg der Transformation von vertikalen Strukturen auf eine horizontale Ebene des solistischen Musizierens leuchtet dennoch unmittelbar ein.
Ernst Helmuth Flammer (20. Oktober 2024)