Johann Sebastian Bach: Goldberg-Variationen

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Artikelnummer: NEOS 32101 Kategorie:
Veröffentlicht am: Juni 25, 2021

Infotext:

DIE GOLDBERG-VARIATIONEN
Überlegungen zur Tempogestaltung

 

Ob es jemals Absicht war, die Goldberg-Variationen als einen Zyklus zu spielen, wird sich nie vollständig klären lassen. Berichte aus dem Umfeld von Johann Sebastian Bach, der dieses Werk um 1740 komponierte, geben Anlass für eine andere Auslegung. Der Bach-Biograph Johann Nicolaus Forkel spricht um 1800 auf der Grundlage von Mitteilungen der Söhne Bachs von schlaflosen Nächten des Grafen Hermann Carl von Keyserlingk, seinerzeit russischer Gesandter in Dresden von 1733 bis 1745. Auf Keyserlingks Bitten wollte sein Freund Bach mit Musik aus eigener Feder dieser anhaltenden Schlaflosigkeit Abhilfe schaffen. Bach hoffte, mit einem Variationenwerk über einer Basslinie diesem Wunsch am ehesten gerecht werden zu können. Keyserlingk bat seinen Hauscembalisten Johann Gottlieb Goldberg (unter dessen Namen dieses Werk bekannt wurde), gelegentlich eine oder mehrere »seiner« Variationen zu spielen. Doch gerade die vollständige Aufführung dieser Variationen gehört längst zum festen Repertoire von Cembalisten und Pianisten. Im Falle einer vollständigen Aufführung wird erwartet, dass Überlegungen bezüglich der Frage, wie sich die verschiedenen Variationen zueinander verhalten, zu konkretisieren sind.

 

Wäre es nicht Absicht gewesen, die Variationen vollständig zu spielen (obwohl wir nicht wissen, wie ernst Keyserlingks Schlaflosigkeit tatsächlich war), wäre es auch nicht Absicht gewesen, den Grafen mittels Virtuosität und permanent wechselnder Tempi seines Schlafes zu berauben.

Offen bleibt der Ursprung für die Überlegung, Variationen in verschiedenen Tempi spielen zu wollen. Der Originalpartitur aus dem Jahr 1741 ist nur eine Tempoangabe (bei Variation 15 andante) zu entnehmen, auch wenn zwei andere Angaben (bei Variation 16 und Variation 22) ein bestimmtes Tempo implizieren. Ausgaben mit Tempoangaben für jede einzelne Variation lassen sich erst Mitte des 19. Jahrhunderts finden, was das Bedürfnis nach eindeutigen Tempodifferenzierungen, offensichtlich Ausdruck eines romantischen Geistes, erkennen lässt. Diese Haltung widerspricht jedoch der barocken Ästhetik von Regelmäßigkeit und Symmetrie.

Obwohl seit den 1970er Jahren ein Exemplar der Erstausgabe mit Bachs eigenen Erläuterungen, inklusive zwei neuer Tempoangaben, vorliegt, knüpfen immer noch Interpretationen an die übliche Praxis mit Virtuosität und Tempowechsel an.

 

Bei genauerer Betrachtung scheinen allerdings gerade diese zwei neuen Tempoangaben bezüglich der Interpretation der betroffenen Variationen nicht von wesentlicher Bedeutung. Sie erwecken sogar den Anschein, überflüssig zu sein. Die Ergänzung in Variation 7, al tempo di Giga, und die Ergänzung in Variation 25, adagio, bestätigen tatsächlich, was der Notentext bereits deutlich macht. Diese Ergänzungen verdeutlichen, dass offensichtlich Variation 7 NICHT al tempo di Giga gespielt wurde, ebenso Variation 25 NICHT adagio.

Die Goldberg-Variationen definieren sich als ein Zyklus aufeinander folgender Variationen. Dass eine einzelne Variation mit einer Tempoangabe versehen ist, sagt nicht nur etwas über die jeweilige Variation aus, sondern auch über den Kontext, in dem diese Variation steht. Variation 7 muss al tempo di Giga gespielt werden, weil Variation 6 NICHT in diesem Tempo gespielt wird. Dementsprechend muss also Variation 25 adagio gespielt werden, weil Variation 24 NICHT adagio gespielt wird.

Eine Tempoangabe impliziert demnach eine Tempoabweichung. Aus den Ergänzungen zweier Tempoangaben von Bach in seinem Handexemplar lässt sich schließen, dass er die Bedeutung besonderer, abweichender Tempi betont. Daraus ergibt sich die Schlussfolgerung, dass alle Variationen, mit Ausnahme derer, in denen ein eigenes Tempo angegeben wird (in der revidierten Fassung Variationen 7, 15, 16, 22 und 25), in »normalem« Tempo gespielt werden sollen.

 

Bach hat die Variationen in verschiedenen Taktarten geschrieben. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie das »normale« Tempo durchgehalten werden soll. Aus dem letzten Takt der Variation 26 ergibt sich die Antwort: Hier weicht die Schreibweise der Pausen von der üblichen in einem 18/16-Takt ab. Die Unterteilung der rhythmischen Akzente verschiebt sich somit von 2 x 3 auf 3 x 2 Sechzehntel. Diese letzte Unterteilung entspricht den rhythmischen Akzenten in einem 6/8-Takt, dem Takt der Variation 27. Da laut Quellen aus Bachs Umfeld (u. a. Kirnberger) die Achtel-Takte grundsätzlich als triplierte Viertel-Takte zu verstehen sind, wird deutlich, dass in den verschiedenen Variationen und Taktarten ein einheitlicher Puls spürbar ist, der auf der Viertelnote der Aria basiert und damit als Ausgangspunkt für die Wahl des Tempos gelten kann. Die vorliegende Einspielung greift genau auf diese Idee zurück. Meine Interpretation sucht nach einer Einheit im Werk und lässt die Basslinie »Mantra-ähnlich« erklingen. Auch wenn diese Musik alles andere als »Schlaf-fördernd« sein will, gelingt dadurch ein Verharren in sich stetig wiegender Bewegung.

 

Albert-Jan Roelofs
Übersetzung: Yvonne Petitpierre

Programm:

Johann Sebastian Bach (1685–1750)

Goldberg-Variationen
Aria mit verschiedenen Veränderungen BWV 988 (1741)

Clavier Ubung bestehend in einer ARIA mit verschiedenen Veraenderungen vors Clavicimbal mit 2 Manualen.
Denen Liebhabern zur Gemüths · Ergetzung verfertiget von
JOHANN SEBASTIAN BACH
Königl. Pohl. und Churfl. Saechsl. Hoff-Compositeur, Capellmeister, u. Directore Chori Musici in Leipzig.

[01] Aria 01:56
[02] Variatio 1. a 1 Clav. 01:41
[03] Variatio 2. a 1 Clav. 02:18
[04] Variatio 3. Canone all’Unisuono, a 1 Clav. 01:10
[05] Variatio 4. a 1 Clav. 01:12
[06] Variatio 5. a 1 ôvero 2 Clav. 01:33
[07] Variatio 6. Canone alla Seconda, a 1 Clav. 01:14
[08] Variatio 7. a 1 ôvero 2 Clav. al tempo di giga 00:54
[09] Variatio 8. a 2 Clav. 01:44
[10] Variatio 9. Canone alla Terza, a 1 Clav. 01:10
[11] Variatio 10. Fugetta, a 1 Clav. 01:06
[12] Variatio 11. a 2 Clav. 01:10
[13] Variatio 12. Canone alla Quarta. 01:44
[14] Variatio 13. a 2 Clav. 01:45
[15] Variatio 14. a 2 Clav. 01:32
[16] Variatio 15. Canone alla Quinta, a 1 Clav. andante 02:25
[17] Variatio 16. a 1 Clav. Ouverture 03:08
[18] Variatio 17. a 2 Clav. 01:40
[19] Variatio 18. Canone alla Sexta, a 1 Clav. 01:07
[20] Variatio 19. a 1 Clav. 00:35
[21] Variatio 20. a 2 Clav. 01:37
[22] Variatio 21. Canone alla Settima. 01:09
[23] Variatio 22. a 1 Clav. alla breve 00:53
[24] Variatio 23. a 2 Clav. 01:39
[25] Variatio 24. Canone all’Ottava, a 1 Clav. 01:44
[26] Variatio 25. a 2 Clav. adagio 07:19
[27] Variatio 26. a 2 Clav. 01:38
[28] Variatio 27. Canone alla Nona, a 2 Clav. 01:07
[29] Variatio 28. a 2 Clav. 01:37
[30] Variatio 29. a 1 ôvero 2 Clav. 01:34
[31] Variatio 30. a 1 Clav. Quodlibet. 01:10
[32] Aria da Capo è Fine. 02:07

Gesamtspielzeit: 54:55

Albert-Jan Roelofs, Cembalo

 

Pressestimmen:


11/21

[…] Dem niederländischen Clavieristen Albert-Jan Roelofs gelingt es großartig, für die unterschiedlichen musikalischen Tableaus einen gemeinsamen Puls als weltumspannendes Narrativ aufzuspüren. Roelofs musiziert mit fein delikatem Anschlag, findet in der Semantischen Entschlüsselung der diversen Taktarten den inneren Bezug der Variationen untereinander und grenzt doch deren unterschiedliche Affektgehalte klar voneinander ab. Roelofs gestaltet diese Variationen nicht nur unglaublich sensibel und feingliedrig, er formt sie unter seinen Fingerkuppen geradezu plastisch aus. […] Faszinierend!

Martin Hoffmann

 

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