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John Cage: ASLSP

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Artikelnummer: NEOS 11042 Kategorien: ,
Veröffentlicht am: Oktober 15, 2010

Infotext:

John Cage: ASLSP
Wie langsam ist »so langsam wie möglich«?

John Cage komponierte ASLSP für Klavier solo in Jahre 1985. Im Juli 1987 unternahm er auf Anregung des Organisten Gerd Zacher die legendär gewordene Bearbeitung für Orgel mit dem Titel Organ 2/ASLSPASLSP steht für »as slow as possible« (so langsam wie möglich). Diese Spielanweisung hat die Interpreten vor ein großes Rätsel gestellt.

Die entgegengesetzte extreme Tempoforderung, mit der uns Cage in seinen Freeman Etudes begegnet, lautete »as fast as possible« (so schnell wie möglich), was natürlich maximal schwer umzusetzen, jedoch absolut eindeutig zu verstehen ist. »As fast as possible« ist eine technische Forderung, die den Ausführenden an die Grenze seiner physischen Möglichkeiten treibt. Es ist keine absolute Tempovorschrift, sondern eine, die sich auf die Möglichkeiten des Ausführenden bezieht, und die bekanntermaßen auf Robert Schumann zurückgeht, der 1838 in seiner Klaviersonate g-moll op. 22 zunächst als Tempo »So rasch wie möglich« vorgibt, um dies kurz darauf mit einem »Noch schneller« ad absurdum zu führen.

Diese per se unmögliche Möglichkeit, die Schumanns expressives Fieber verbal so unmittelbar zum Ausdruck bringt, hätte eine typische Cage-Erfindung sein können – wobei freilich, was bei Schumann unausweichlicher Ernst, bei Cage innerlich distanziertes Spiel ist. Jedenfalls, was »so schnell wie möglich« bedeutet, versteht jeder Musiker spätestens da, wo er mit seinen manuellen oder geistigen Fähigkeiten an die Grenze stößt. Doch wie ist das mit »so langsam wie möglich«?

Der große dänische Symphoniker Vagn Holmboe, bedeutendster Komponist seines Landes zwischen Carl Nielsen und seinem eigenen Schüler Per Nørgård, stellte Anfang der sechziger Jahre seine vier Streicher-Symphonien zu einem zusammenhängend verschränkten, einstündigen Werkzyklus zusammen, den er Kairos nannte. Kairos steht hier für die »erlebte (psychologische) Zeit«, im Gegensatz zu Chronos, der »gemessenen (physikalischen) Zeit«.

In früheren Generationen hat diese Trennung für die Musiker nicht wirklich existiert. Heute ist sie zu einer Grundfrage interpretatorischer Auseinandersetzungen geworden. Ist bei Beethoven der messbar vorgegebene physikalische Wert (die Metronomisierung) entscheidend oder die Verwirklichung der musikalischen Struktur und des daraus erwachsenden, lebendig erlebten Zusamenhangs?

So kann man nun bei Cage fragen: Soll sich »as slow as possible« auf eine von der menschlichen Fähigkeit unabhängige, physikalische Dauer beziehen – dann ist die Grenze erst dort gegeben, wo menschliche Berechnung endet, also in dem, was der Mensch in seiner Ratio für »beinahe die Unendlichkeit« halten könnte, da es schlicht sein Vorstellungsvermögen überschreitet? Oder bezieht sich die Tempoangabe auf die Fähigkeit des Musikers, eine erlebbar zusammenhängende Gestaltung der klanglichen Abfolgen »so langsam wie (ihm) möglich« darzustellen?

Diese Frage kann nur jeder Musiker für sich selbst entscheiden. Sollte er der letzteren Spur folgen, so ist die Grenze des Möglichen, wie schon im schnellen Tempo, wieder identisch mit der Grenze seiner Möglichkeiten, in diesem Fall seiner Korrelationsfähigkeit des klingenden Kontinuums. Das würde allerdings voraussetzen, dass Cages Musik den Gesetzen dynamischen musikalischen Zusammenhangs Rechnung trüge. Was sie ganz absichtlich nicht tut.

Als Cage bei Arnold Schönberg studierte, wurde ihm schnell klar, dass er überhaupt keinen Sinn und auch kein Interesse für die Zusammenhänge und Gesetzmäßigkeiten der Harmonik hatte, was er sein Leben lang freimütig bekannte. Schönberg seinerseits sagte über seinen Schüler, der mit Hingabe an seinen Lippen hing und dabei einer vollkommen anderen Spur folgte, er sei zwar »kein Komponist«, jedoch ein »genialer Erfinder«.

Cage stellt die Klänge sozusagen neutral als Erscheinungen nebeneinander, wie Objekte in einem Raum, die für sich wirken sollen und in Bezug auf den Raum, jedoch nicht in einem energetischen Fluss oder dynamischen Prozess, wie Musik bis dahin verstanden wurde. Nehmen wir dieses Bild einmal ernst und stellen uns vor, wie die Vorschrift »so langsam wie möglich« zu übertragen wäre, so landen wir unwillkürlich bei der Größe des Raums als Äquivalent zur Dauer des Stücks: Diese Musik soll im selben Sinne so langsam wie möglich gespielt werden wie ein Ausstellungsraum, in dem sich bestimmte Objekte befinden, so groß wie möglich sein sollte.

Diese Analogie führt uns wiederum dahin, dass die Orientierung bezüglich Langsamkeit sich auf die physikalische Zeit beziehen dürfte. Also ist die Anweisung zugleich »so einfach wie möglich« zu verstehen: Treffen Sie eine Entscheidung im Rahmen der gegebenen Bedingungen. Für eine CD-Einspielung beispielsweise beträgt der maximale Zeitrahmen 80 Minuten für das Ganze oder für jeden für sich stehenden Abschnitt daraus (also maximal 640 Minuten); für ein Konzert, bis das Saalpersonal zusperrt, usw.

ASLSP besteht aus acht Stücken, von denen sieben in unveränderbarer Reihenfolge ausgewählt werden (es wird also, auch dies eine typische Cage-Idee, niemals – egal wie lange sie dauern sollte – eine vollständige Aufführung geben). Trotzdem umfasst jede Aufführung von ASLSP acht Sätze, denn ein beliebiges Stück muss wiederholt werden. Außer der titelgebenden Vorschrift gibt es keinen verbalen Anhaltspunkt zur Ausführung, auch keine dynamischen Anweisungen.

In der Notierung ist jedes der Stücke genau zwei Zeilen lang. Die relativen Dauern innerhalb der Stücke sind festgelegt. Was fehlt, ist »nur« die Fixierung des Absoluten. Das führt zu extrem unterschiedlichen Auslegungen. Steffen Schleiermacher etwa gibt jedem Stück genau zwei Minuten, ist also nach 16 Minuten fertig (und ASLSP wirkt dadurch weit zügiger und flüchtiger als manch anderes Cage-Stück, das er außerdem spielt…).

Auf der Halberstädter Orgel hingegen ist das Werk auf die Dauer von 639 Jahren berechnet, und zu jedem Klangwechsel pilgern Cageinaner an den symbolträchtigen Ort (erster Klang: 5. Juli 2004; erster Klangwechsel: 5. Mai 2006; Finale: 2639) – ist das dann »so langsam wie möglich«? Ob die Kirche so lange stehen wird? Ob dann noch jemand existiert, der sich dafür interessiert? Eines jedenfalls, was ihn immer begleitet, beinhalten die Titellettern ASLSP nicht: das Fragezeichen. Hingegen eine irrationale literarische Allusion: »Soft morning city! Lsp!« – die eröffnenden Ausrufe des Finales von James Joyces Finnegans Wake.

Christoph Schlüren

Programm:

ASLSP for piano solo (1985) 64:05

[01] No. 1 08:20
[02] No. 7 (as 2nd piece) 07:38
[03] No. 2 06:12
[04] No. 3 05:48
[05] No. 4 10:18
[06] No. 5 10:29
[07] No. 7 07:43
[08] No. 8 07:32

Sabine Liebner, piano

Pressestimmen:


13.10.2011

 


07-08/2011

 

 


June 2011

 


2/2011

Empfehlung

Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 5
Repertoirewert: 5
Booklet: 5
Gesamtwertung: 5

Dem Komponisten und seinen Spielanweisungen gerecht werden – das ist im Falle von John Cages Klavierstück ASLSP (As slow as possible) eine besondere Herausforderung. Ist es das? Cages Anweisung ist eindeutig: Das Stück ist so langsam wie möglich zu spielen. Genauso klar ist aber auch, dass eine verbindliche Interpretation dieses «So langsam wie möglich» nirgendwo zu finden ist.

Die praktische Umsetzung der Anweisung kann da­her nur individuell aus Sicht des Interpreten gelöst werden, was Cage wenn nicht gemeint, so doch bewusst in Kauf genommen hat. Denn seine grundsätzlichen Vorstellungen von der Veränderbarkeit (s)einer Musik würden insbesondere in ASLSP offenbar werden – jeder Interpret definiert «so langsam wie möglich» für sich selbst und liefert eine entsprechende Möglichkeit, so langsam wie nur möglich zu spielen.

Natürlich ist das Ansichtssache, ein Gefühl des Erfahrens, Empfindung aus erlebter und gemessener Zeit: so langsam wie möglich. Cages Zeitproportionen pendeln zwischen der exakt einzuhaltenden Zeit-Vorgabe in 4’33’’ und der offenen Konstruktion von ASLSP. Er schrieb ASLSP 1985 für Solopiano und bearbeitete es 1987 auf Anregung von Gerd Zacher für Orgel: Organ²/ASLSP. Letzteres wird seit dem Jahr 2000 im sachsen-anhaltischen Halberstadt als Mehr-Jahrhundert-Projekt über einen Zeitraum von 639 Jahren aufgeführt. Dort vergehen zwi­schen einem Klang (Ton- oder Pfeifen-)wechsel locker auch einmal zwei oder drei Jahre!

Als Cage 1985 die Komposition fertigstellte, erschien Musik noch auf Vinylschallplatten mit einer Höchstspieldauer von zwanzig bis 25 Minuten pro Seite. Erst die Erfindung der Compact Disc ermöglichte Schallplattenaufnahmen bis etwa achtzig Minuten. Woraus sich schon für eine Studioaufnahme von ASLSP ein Unterschied von dreißig Minuten errechnet. Die Komposition besteht aus acht Stü­cken, sieben davon in unveränderbarer Reihenfolge, ein beliebiges Stück wird als achtes wiederholt, in der Aufnahme mit Sabine Liebner ist es Nummer sieben als zweites Stück.

Bei Liebner dauert ASLSP 64 Minuten, Steffen Schleiermacher braucht gerade einmal 16 Minuten, Stephen Drury etwa 18 Minuten. Auf dem Klavier kommt niemand auch nur annähernd an die Spieldauer beim Orgelprojekt heran. Allein schon aus physikalischer Gegebenheit verklingt jeder angeschlagene Klavierton nach einiger Zeit.

Musik der Wandlungen – Cages musikalischer Grund-Satz – auf ASLSP angewandt bedeutet zunächst einmal, dass an der Komposition nichts verändert wird: die Noten sind immer dieselben. Was sich aber verändert, ist die Dauer des Werks, denn «so langsam wie möglich» steht in unmittel­barem Zusammenhang mit Aufführungsort, -zeit und -interpret. Sabine Liebner löste die eigentlich simple Cage-Spielanweisung mit klug gesetzten Klangfolgen, die sie nahezu separatistisch aneinanderfügte und zu einem intensiven, ausgewogenen und «so langsam wie möglichen» Klangerlebnis führte.

Klaus Hübner

As its title suggests, John Cage’s ASLSP is to be played „as slow as possible,“ though this sparse keyboard work could take anywhere from the 64:05 timing Sabine Liebner gives it on this Neos release, to the 639 years it is calculated to last in the much-publicized performance given on the organ in St. Burchard Church in Halberstadt, Germany.

Because Liebner takes this piece at a comparatively brisk tempo, it is possible to detect some shape in the work, and to feel a degree of connectedness in it, even though each pitch or chord is separated by extremely long silences. Conceptually, ASLSP is a challenge to temporal limitations, which are not imposed by the composer, nor even necessarily by the performer or the listener, but by external parameters set by what is practical or possible.

Cage indicated the pitches and the relative duration of each event by its place on two staves and gave instructions that only seven of the eight pieces are to be played, with one of them chosen at random to be repeated. Beyond this, there are no dynamics indicated, and the attacks and durations are determined by the performer, so ASLSP could have a multiplicity of renditions, all different and all incomplete.

To the extent that Liebner’s performance is more easily grasped than any longer performance could be, and might be truer to Cage‘s intentions than any shorter ones, this recording does an excellent job presenting a version for newcomers to Cage’s philosophical ideas and any listeners who want to experience the work within their lifetimes. Because the music is soft and produces a rarefied ambience, this disc would be an interesting choice for meditation or relaxation.

Blair Sanderson

http://www.allmusic.com/album/john-cage-aslsp-w263325/review

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