Klaus Ospald: Tschappina-Variationen, Konzert für Ensemble und Violine

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Artikelnummer: NEOS 10712 Kategorie:
Veröffentlicht am: Oktober 18, 2007

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Tschappina-Variationen – Konzert für Ensemble und Violine

An der Musik Klaus Ospalds nimmt man rasch ihre große Sprachhaftigkeit wahr; auch seine Instrumentalmusik vermittelt dem Hörer den Eindruck, ihm werde etwas durchaus sprachlich Fassbares mitgeteilt.

Neben der unverwechselbaren Rhythmusgestaltung, die zwischen den Polen des beinahe Erstarrens und getriebener Gehetztheit viele Zustände kennt und den Verläufen der Kompositionen oft etwas gleichsam Szenisches gibt, sind es der expressive Gestus der Tonhöhenkonturen sowie die spezifische Klanglichkeit und Färbung der zeitlichen Verläufe, die den semantischen Eindruck vielfach verstärken.

Eine der Wesenskonstanten bildet dabei das Prozesshaft-Variative. Die zwei Komponenten im Titel der Tschappina-Variationen lassen sich als doppelgesichtiger Verweis auf diese Konstante verstehen: Mit „Variationen“ ist das für die Gestaltwerdung des Stückes im Großen wie im kompositorischen Detail ursächliche und durchgehend herrschende Prinzip klar benannt.

Der Name des Graubündner Bergdorfs Tschappina hingegen steht abstrahierend-symbolisch für den „Ort“ naher Natur, deren Beobachtung Ospald unweigerlich und tiefgreifend zur Auseinandersetzung mit Fragen des komponierenden Gestaltens wie des Existentiellen überhaupt führte:

„Die offene Begegnung, die scharfsinnige Wahrnehmung von Natur, ihr evolutionärer Prozess lassen einen ihre Phänomene existentiell erfahren, und wer nicht im kleinsten Stein das Besondre entdeckt, auch wenn er vor der Haustür läge, dem helfen auch nicht die fernsten Fernen. Dass das plötzliche Erscheinen und Verschwinden von Leben im umfassenden Sinne, sein Vergehen, Verlöschen und Auflösen, in der Umwandlung zu einer Verwandlung gelangt und so immer wieder Leben hervorbringt […], verbindet sie tief mit dem Wesen der Musik.“

Der Anfang setzt Motiv und Gestus in eins. Glissando-Bewegungen, überwiegend das Wegsinken nach unten, aber auch das Entgleiten nach oben, prägen die ersten Geschehnisse und durchsetzen dann das gesamte Stück in vielerlei Erscheinungsformen; dieses Kernelement kann in seinem Verlauf ausgesponnene Linien entfalten, umgekehrt sich in der Vertikale niederschlagen und zu repetierend festgehaltenem Intervall kristallisieren.

Setzen sich so rein kompositorisch Motivkeime fort und bilden neue, gleichwohl in ihrer Substanz rückverbundene Zustände aus, so wird gleichzeitig und gleichermaßen die durch diesen Ausgangskern artikulierte Befindlichkeit, fassbar nicht zuletzt als Klagegeste, in mannigfacher Gestalt weitertransportiert.

Darüber hinaus bleibt das Prinzip des Variativen insgesamt elementar. Alle von Erregung und Quirligkeit geprägten Abschnitte können schon untereinander als Variantenkette gehört werden, reihen aber auch intern Variationen aneinander (bereits der eröffnende Formteil besteht aus einem Agitato mit drei Variationen, und auch im weiteren Verlauf werden mehrfach Abschnitte mit einer Variation versehen).

Diesen Abschnitten sind inselartig verhaltene Einschübe eingelagert, in denen sich Elemente des Anfangs in anderem Zustand niederschlagen, sogar eine Art Idylle (Erinnerung) beschworen wird, aber auch das Fragende, wenn nicht gar Resignation zum Ausdruck kommt. Zum Ende des Stückes hin – in der Partitur durch das eingefügte, um Verlust kreisende Gedicht „Geht, Kinder, nicht ans Wasser ’nan“ aus Rückerts Kindertodtenliedern markiert – behält diese Verhaltenheit ganz die Oberhand.

Das Konzert für Ensemble und Violine ist im Ganzen betrachtet noch stärker vom Lauschen auf Zustände und Befindlichkeiten geprägt; in gewisser Weise setzt es dort fort, wo die Tschappina-Variationen endeten.

Wohl gibt es auch hier kontrastierende, sich verknäuelnde Bewegtheit und gegen Ende auch einen heftigen Ausbruch, doch herrscht über lange Strecken eine Haltung des Zurückgenommenen, des sich auf Einzeltöne oder Klangflächen konzentrierenden Einlassens. Oft tastet dabei die Solo-Violine vor, gibt Gesten und Anstöße, singt gleichsam in vibrierend gehaltene Flächen oder Klangsituationen hinein, kann aber auch immer wieder im Gruppengeschehen gänzlich aufgesogen sein.

Ein vielfach wiederkehrendes Ausdruckselement ist das bewusste Ergreifen von Tönen über große räumliche Distanz hinweg, wie überhaupt der Kontrast von Höhe und Tiefe immer wieder artikuliert wird.

Auch im Konzert formt sich ein Geschehensverlauf aus, der trotz aller kontrastierenden Momente von einer einzigen durchwirkenden Energie getragen ist. Dabei können Gegensätze unvermittelt aufeinandertreffen (so etwa im ruhigen Fluss von Abschnitt I in Gestalt von zwei Parenthesen – die erste aus wenigen, agitato auszuführenden Takten bestehend, die mit dem auf Schumann anspielenden Vermerk Launische Replik charakterisiert ist, wenig später eine zweite, einen längeren Ausbruch bewirkende), es ergeben sich aber auch strukturelle und inhaltliche Verklammerungen über größere zeitliche Distanzen hinweg, wenn etwa von derselben Grundhaltung bestimmte Passagen ein übergreifendes Bezugsnetz etablieren.

Beispielhaft seien hierfür die als Heterophonie 1, 2 und 3 bezeichneten Abschnitte angeführt, die sich sämtlich als Ableitung oder Neubeleuchtung von Elementen aus Introduktion und Teil I verstehen lassen: Von der Überlagerung absteigender, Klage assoziierender Skalengänge verschiedener Länge und Rhythmisierung geprägt die erste; von einer einzigen, nach Spielweise und Rhythmusgestalt unterschiedlich artikulierten Tonachse ausgehend die zweite; ein die repetierte Akkordbrechung der Solo-Violine mit aus demselben Tonvorrat gewonnenen, in- und übereinander geschichteten Kurzelementen färbend umgebendes Feld die dritte.

Naturwahrnehmung, Natur und Individuum, der Prozess von Verwandlung und Umwandlung, Vergänglichkeit, Reflexion und Intuition, Humor (im Sinne Sternes oder Jean Pauls), dies sind benennbare Auslöser und Gestaltkräfte dieser beiden Stücke.

Daher auch das Bekenntnis des Komponisten, ein schöneres Motto für seine Werke habe er bis jetzt noch nicht gefunden als dieses Wort von Jean Paul: „Hier ringen negativ elektrische Philosophie und positiv elektrischer Enthusiasmus miteinander um ein Gleichgewicht. […] Wenn der Mensch mit der kleinen Welt, wie der Humor es tut, die unendliche ausmisset und verknüpft, so entsteht jenes Lachen, worin noch ein Schmerz und eine Größe ist.“

Wolfgang Thein

Programm:

21:53 Tschappina-Variationen (2001)
für ensemble


[01] I  Agitato mit 3 Variationen
[02] II  Trope
[03] III Presto mit einer Trope, einer Variation und einer Erinnerung
[04] IV Capriccio mit einer Variation
Enklave (Geht, Kinder, nicht ans Wasser ‘nan)
[05] V sehr langsam
[06] VI lo stesso tempo
[07] VII noch etwas langsamer

36:00 Konzert für Ensemble und Violine (2003/2004)
Bettina Boller gewidmet


[08] Introduktion (“Broulliards”)
Monsieur Croche, der Nebel und der Humorist …
[09] I  langsam
1. Parenthese (launische Replik)
2. Parenthese
[10] II (indisches Notturno) heterophoniel
[11] III (… wie ein Lied aus der Ferne …)
3. Parenthese
“Brouillards” (nur noch Nebel …)
[12] IV Heterophonie 2 / Heterophonie 3
[13] V alla tedesca 1
[14] VI fossiler Choral / alla tedesca 2

gesamt 58:02

Bettina Boller, Violine
Collegium Novum Zürich
Peter Hirsch, Dirigent

Pressestimmen:


04.02.2008

Kraftvolle Mitteilungen in Stille

Interpretation: 
Klangqualität: 
Repertoirewert: 
Booklet: 

Dem jungen Label NEOS verdanken wir nicht nur Veröffentlichungen neuer Musik, die mit medialer Aufmerksamkeit gesegnet ist – zu erwähnen wäre die Reihe der Dokumentations-CDs der letztjährigen Donaueschinger Musiktage – sondern auch Musik, um die herum es still ist, Werke von Komponisten, die nicht um jeden Preis an die Öffentlichkeit dringen müssen, sondern unbeirrbar ihre Botschaften in Klänge umsetzen. Klaus Ospald ist so ein Komponist, dessen Name sich nicht allzu oft im aktuellen Diskurs zeitgenössischer Musik wieder findet, obgleich seine Tschappina-Variationen mit dem 2005 zum ersten Male vergebenen Orchesterpreis des SWR in Donaueschingen ausgezeichnet wurden. Dieses verborgene Wirken, das sich Entziehen der Zeitgenossenschaft, kann der Musik durchaus zu einer größeren Tiefe verhelfen; davon kündet die jüngst bei NEOS erschienene Einspielung zweier Werke Klaus Ospalds: Die Tschappina-Variationen für Ensemble und das Konzert für Ensemble und Violine, beide in Interpretationen des Collegium Novum unter der Leitung von Peter Hirsch.
Ospald setzt in seinen Tschappina-Variationen durch die Beziehung auf ein Schweizer Bergdorf die Natur abstrakt als Gegenbild zu allem Oberflächlichen, zur sinnlosen Vereinnahmung und Überhöhung menschlicher Leistungen. ‘Wer nicht im kleinsten Stein das Besondere entdeckt, auch wenn er vor der Haustür läge, dem helfen auch nicht die fernsten Fernen.’ Im Kleinen das Besondere, Lebenswerte entdecken, wird zum zentralen Anliegen der Musik Klaus Ospalds. So sind besonders die Tschappina-Variationen von Beginn an beherrscht vom fein ausgehörten Gestus, der, wie der Mensch, ‘aus dem Nichts kommt und im Nichts verschwindet.’ Das Grobe ist dieser Klanglichkeit im Innersten fremd, kommt nur zum Einsatz, wenn es antithetisch die Wahrheit des Erklungenen bestätigen soll. So wird der Schlusschor aus Beethovens neunter Sinfonie – als Europahymne vereinnahmt und entkontextualisiert – ironisch verfremdet, als gerechte Rache an der Rücksichtslosigkeit einer von Eigeninteressen dominierten Gesellschaftsstruktur.
Klaus Ospalds Musik setzt ihren Stachel tief in diese Verkrustungen ein, jedoch nicht mit den Mitteln ihres Gegners, sondern mit der bescheidenen Größe des Kleinen und Stillen. Der Gefahr der Naivität und Simplizität geht Ospald dabei aus dem Weg durch die stete Prozesshaftigkeit seiner Musik. ‘Variationen’ ist sein Ensemblestück übertitelt, und das Variative wird zum Grundmuster des Fortschreitens der Musik. Zusätzlich zoomt Ospald seinen kompositorischen Blick gewissermaßen in die Mikrostruktur des Beschriebenen, so dass ungemein polyphone, vielschichtige und bewegungsvolle Linien entstehen.
Das Collegium Novum Zürich unter der Leitung von Peter Hirsch sorgt für eine vitale Interpretation des Werkes, klar und rein in der Struktur, farbig und sensibel in der Klanggestaltung.
Ähnlich wie die Tschappina-Variationen exponiert auch das Konzert für Ensemble und Violine bewusst die Gegensätze des Stillen und des plötzliche Hereinbrechenden. Das Beobachten von Zuständen, das Lauschen auf das, was passieren könnte, beherrscht über weite Strecken den Verlauf der Musik. Zwischen Ensemble und Violine entsteht ein inniger, einvernehmlicher Dialog, der bestimmt ist vom aufeinander Reagieren, von Rück- und Vorsicht auf schon Gehörtes und noch im Entstehen Begriffenes. Bettina Boller, selbst Mitglied des Collegium Novum kommuniziert hier als Solistin in feinsinniger Weise mit ihren Kollegen und trifft hervorragend jenen unprätentiösen Charakter, der dem Stück eigen ist. Die instrumentalen Schwierigkeiten stehen bei ihr nie für sich allein, als virtuoser Selbstzweck, sondern fügen sich unmerklich in einen homogenen Gesamtklang ein.
Kennzeichnend für die Musik Klaus Ospalds ist ein feiner, leiser Humor, der besonders im vorliegenden Konzert von Bedeutung ist; eine ‘launische Replik’ oder ein ‘fossiler Choral’ deuten in den Satzüberschriften darauf hin. Das Bewusstsein, dass der Mensch nur ‘ein Augenaufschlag der Natur ist’ veranlasst Ospald zu einer musikalischen Gelassenheit, die aufgrund seiner feinen klanglichen und strukturellen Beobachtungsgabe jedoch nie in Beliebigkeit umschlägt. Ein Zitat von Jean Paul leitet ihn dabei zu seinen Werken an: ‘Wenn der Mensch mit der kleinen Welt, wie der Humor es tut, die unendliche ausmisset und verknüpft, so entsteht jenes Lachen, worin noch ein Schmerz und eine Größe ist.’
Mit der vorliegenden Einspielung hält der Hörer ein geistig hoch anregendes Kompendium von tiefer Musikalität und strukturellem Denken in der Hand. Die Musik Klaus Ospalds hat es ohne Zweifel verdient, einem größeren Publikum den Blick auf das Naheliegende zu öffnen.

Paul Hübner

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