Infotext:
Matthias Mueller demonstriert eindrucksvoll, dass dieses Blasinstrument sich zur Virtuosität eignet. In Rossinis Variationen wird die romantisch-bravouröse Brillanz zelebriert. Beim brandneuen Klarinettenkonzert, das sich der Schweizer Solist selbst auf den Leib geschrieben hat, stehen klangliche Finesse und rhythmische Variabilität im Zentrum. In den aufgenommenen Solowerken werden diese Eigenschaften auf die Spitze getrieben.
Neben den Klassikern der Sololiteratur für Klarinette, den 3 Stücken von Igor Strawinsky, wird die Virtuosität Rossinis noch durch Paganini übertroffen und in seinen eigenen Etudes de Concert treibt Matthias Müller die klarinettistische Technik in weitere Höhen. Er orientiert sich dabei an den Etüden für Klavier von Chopin und Debussy und vermag der gesteigerten Virtuosität einen noch nie gehörten musikalischen Ausdruck der Klarinette zu eröffnen.
Mit den Videofilmen, die als Bonus-DVD beiliegen, betritt Matthias Müller ebenfalls Neuland: Während das Musiktheaterstück Der kleine Harlekin von Stockhausen klassisch gefilmt ist, hat er mit Videokünstlern Filme zu seinen Etudes de Concert geschaffen, die das Genre des Videoclips der Popmusik aufnehmen und einen eigenständigen künstlerischen Ausdruck schaffen.
Programm:
Matthias Mueller (*1966)
Concerto for Clarinet and Orchestra (2007–2008) 18:12
[01] Allegro giocoso 04:42
[02] Andante cantabile 04:20
[03] Allegro scherzando leggiero 03:42
[04] Finale 05:28
Gioacchino Rossini (1792–1868)
[05] Andante and Variations (1829) for clarinet and orchestra 15:56
1. Tema – Andante – 2. Var. I – 3. Var. II
4. Var. III – 5. Var. IV (minore) – 6. Var. V
Igor Stravinsky (1882–1971)
3 Pieces for Clarinet (1918) 04:02
[06] I 01:37
[07] II 01:07
[08] III 01:15
Matthias Müller
6 Études de Concert (2006–2008) for solo clarinet 14:39
[09] jumping around 02:46
[10] perpetuum 01:48
[11] plaine ondulée 02:29
[12] Vals all’appogiatura 02:33
[13] Hommage 03:04
[14] Barbaro 01:58
Niccolò Paganini (1782–1840)
[15] Moto perpetuo op. 11, No. 6 post. (1831–1832) for clarinet 03:52
total time 57:02
Matthias Mueller, clarinet
ensemble zero · David Philip Hefti, conductor (01–05)
Recordings by Schweizer Radio DRS
Bonus DVD
Matthias Mueller (*1966)
6 Études de Concert (2006–2008) for clarinet
Cyril Gfeller and Rosa Monika Guggenheim, film directors
Karlheinz Stockhausen (1928–2007)
Der kleine Harlekin (1975) for clarinet
Simon Könz, film director
Pressestimmen:
04/2010
01/2010
Vielseitige Besessenheit
Es ist ein Glücksfall: Der Schweizer Matthias Müller, exzellenter Klarinettist und vielseitiger Musiker der jungen Generation, und das erst zwei Jahre alte Münchner Label NEOS des umtriebigen Wolf Weinmann – einst Gründer und Spiritus Rector des avantgardistischen Labels col legno – fanden zueinander. So konnte Matthias Müller gleich eine frühere Produktion mit dem Klarinettenkonzert von Boris Tchaikowsky wieder neu präsentieren, das gekoppelt ist mit Debussys Rhapsodie und dem zweiten Klarinettenkonzert von Carl Maria von Weber; die CD ist technisch verbessert und auch angemessen aufwendig als Digipack mit zweifacher Klappe ausgestattet – alle Produktionen des NEOS-Labels sehen so aus. Beim ersten Erscheinen dieser Aufnahmen von 1998 hatte ich vor allem das wichtige Klarinettenkonzert des zeitgensössischen Tchaikowsky ausgiebig gewürdigt2. Der Komponist war mit 71 Jahren im Jahr 1996 – also kurz vor der Aufnahme – verstorben und es ist deshalb um so verdienstvoller, dem dankbaren Werk eine Wiederbegegnung im neuen Klangbild zu verschaffen. Dazu hatte ich geschrieben:
Ein wenig irritiert drückt man auf den Startknopf für Track 1: Tchaikowskys Klarinettenkonzert! – Es ist natürlich nicht der bekannte, sondern ein zeitgenössischer russischer Namensvetter, mit Vornamen Boris Alexandrovich, …. der nur den Sowjetstaat erlebt hat… Sein dreisätziges Klarinettenkonzert klingt … nach „Russischem“ wie nach „Westlichem“, und das in attraktiver Ausgewogenheit. Im Vergleich dieses 1957 entstandenen Werks etwa mit dem sieben Jahre späteren viersätzigen Cellokonzert von fast vierzig Minuten Länge, das etliche Ausbrüche und Ausflüge in gewagtere Klanggefilde enthält, registriert man in diesem nur 13 Minuten dauernden Stück eine recht gemäßigte moderne Tonsprache. Es beginnt überraschend mit dem langsamen Satz im gemächlichen Dreivierteltakt, eindringlich schmeichelhaft gedämpft und leise in einer Art „russicher Seelenkantilene“. Ihm folgt ein Vivace-Teil im Dreiertakt mit virtuos auftrumpfenden
Klarinettengirlanden, der abrupt in ein stark rhythmisch geprägtes, fast swingendes Allegro im Vierertakt überleitet, das an George Gershwin oder auch Leonard Bernstein erinnert. Das ganze beinahe spätromantisch wirkende Werk klingt in vielen Passagen nach Filmmusik (die der Komponist ja auch geschrieben hat), die mühelos ins Ohr und ins Herz eingeht, was die Qualität der Erfindung nicht beeinträchtigt: der Zuhörer wird nicht gefordert, er kann sich zurücklehnen und an seinem inneren Ohr bei geschlossenen Augen vielfarbige Bilder vorbeiziehen lassen…
Daß er sich auf die Moderne versteht und ihm weicher Ansatz wie beherzter Attacke zu Gebote stehen, zeigt er in Debussys 1. Klarinettenrhapsodie und auch in einer – von ihm aus der Klavierstimme selbst orchestrierten – Fassung von „Petite Pièce“ von 1909/1910. In Webers zweitem Klarinettenkonzert schließlich erweist er sich wieder klangschöner Kantilenen und virtuos auftrumpfenden Zugriffs fähig – in beiden Fällen überzeugende Interpretationen, die sich jeder Konkurrenz stellen können.
Das NEOS-Label hat Matthias Müller gerade mit einer weiteren Produktion eine neue und anspruchsvolle Plattform geboten, sich selbst, seine Kunstfertigkeit und seine musikalischen Vorstellungen vorzustellen… Dazu gleich eine Quizfrage: Wie oft holt der Klarinettist Atem, während er knapp vier Minuten lang das irrwitzige Moto Perpetuo von Niccoló Paganini solo spielt, also ohne Klavierbegleitung? Müller schreibt im selbst verfaßten Booklet, er strebe eine kombinierte Identität an von Virtuosität und Kunstgestaltung, von Spielperfektion in höchster Vollendung als Grundlage einer von jeder Technik völlig unabhängigen und in jedem Moment der Interpretation freien und neuschaffenden Gestaltungsmöglichkeit. Es ehrt ihn, daß er den (fast er-)schlagenden Beweis der eigenen Virtuosität an den Schluß seiner Präsentation auf der SACD verlegt, wo er in aberwitzigem Tempo in 3:52 Minuten dieses Show Piece so herunterbläst, daß einem Hören und Sehen vergehen. Natürlich kann es eine einzelne Geige noch schneller, wie etwa mit Menuhin3, der 1947 in ganzen drei Minuten fertig wurde, während Itzhak Perlman4 sich mit 4:20 Minuten doch etwa mehr Zeit läßt; rund vier Dutzend großer und ganz kleiner japanischen Geigerinnen5 brauchen in ihrer faszinierend präzisen Version fast sechs Minuten, was trotzdem mehr einer Zirkusnummer gleicht als einer musikalischen Offenbarung…
Was aber mit diesem Müllerschen Paganini-Klarinetten-Feuerwerk erkennbar wird, ist neben seiner stupender Kunstfertigkeit tatsächlich so etwas wie eine Ahnung davon, daß ein Idealfall möglich ist, in dem „das Instrument mit Körper und Geist des Musikers verwächst“, wie Müller es formuliert. Er will bewußt mit einer bis zum Äußersten perfektionierten Spieltechnik „jegliche Hindernisse überwinden, die zwischen musikalischer Idee und Klangresultat stehen“ und er schreibt weiter: „Im Virtuosentum wird die Überwindung von Schwierigkeiten zelebriert und die Musik dem Zauber der Magie nahegebracht. Der Solist steht alleine da und muß seine Sonderrolle auch durch eine besondere Leistung rechtfertigen“.
Das sind viele und sehr hohe Ansprüche an sich selbst und man möchte wissen, ob Matthias Müller sie erfüllt. Mutig beginnt er in attraktiv präsentem Raumklang der Silberscheibe mit seinem eigenen viersätzigen Klarinettenkonzert, vor kurzem erst fertiggestellt und schon mit den ersten Takten faszinierend, wenn sich auf einem ganz aus dem Leisen entstehenden Klangteppich des Ensembles der Klarinettenton schlangenhaft in die Höhe windet. Die Sätze sind nicht durchgehend rhythmisch strukturiert, erlauben also fast immer einen Ablauf wie in einer Diaschau von Bildern, in denen sich aneinandergereihte Ton- und Klangvorstellungen nacheinander präsentieren. Im Gegensatz zum Nebeneinander der Klangabschnitte des Kopfsatzes erlaubt der zweite Satz als Andante ein Ineinanderfließen der Motive. Der dritte Satz – ein Allegro scherzande leggiero – beginnt mit einer Art von Rhythmus, der sich aber bald einer eigendynamisch tanzenden und hüpfenden Klarinettenstimme freier angleicht, die immer wieder mit solistisch hervorgehobenen Orchesterinstrumenten dialogisiert. Eine brillant ausgearbeitete Solokadenz der Klarinette mündet in den Finalsatz, in dem ein virtuoses Rankenwerk der Klarinette nicht nur vielfarbige Klangbilder entstehen läßt, sondern dem Solisten auch bizarre Figurationen abverlangt – mitreißend gestaltet ist die kurze Schlußcoda auf Pizzicati der tiefen Streicher als fast fiebriger Kehraus des Klarinettensolos…
Erweist sich Matthias Müller in seinem eigenen Klarinettenkonzert als ein Meister der Form, die dem Hörer nichts wirklich neutönerisch „Schlimmes“ zumuten will, so nutzt er im Ablauf der Musikstücke dieser SACD das nächste, um zum ersten Mal reine Virtuosität zu demonstrieren: Rossinis Andante mit Variationen ist für die meisten anspruchsvollen Klarinettisten ein Schlachtroß; es gibt deshalb davon unzählige Einspielungen. Müllers Interpretation unterscheidet sich von ihnen dadurch, daß er über das von Rossini Notierte hinaus an vielen Stellen zusätzliche Verzierungen, Triller, Vorschläge, ja ganze Kadenzen mit höchstem virtuosen Anspruch anbringt, so daß man gespannt auf immer neue Solistenschnörkel wartet und überrascht feststellt, daß sie wie ganz natürliche Bestandteile des ohnehin auf virtuosen Glanz ausgerichteten Klanggeschehens erscheinen. Die Schlußvariationen rauscht in einem wahrlich abenteuerlichen Tempo am Ohr vorbei, so daß man den eigenen Atem erst in einer langen und ungemein feinsinnig auskomponierten Kadenz wiederfindet, die sich „virtuosissimo“ in allen Ton- und Klangregistern vom Pianissimo-Baß bis zum Fortissimo-Diskant austobt, bevor sie den erlösenden Schlußlauf erreicht.
In diesen beiden Werken begleitet das inspirierte und einfühlsam begleitende ensemble zero, dem Matthias Müller auch als künstlerischer Leiter vorsteht. Danach beginnt solistisch Vorgetragenes, zunächst mit drei Stücken von Igor Strawinsky, die als originelle Miniaturen wesentlich dazu beitrugen, zu Beginn des letzten Jahrhunderts den Dornröschenschlaf der Klarinette zu beenden. Wenn Müller schreibt, Strawinsky zeige den „Farbenreichtum, … virtuose Möglichkeiten und … stilistische Vielfalt mit dem ersten bedeutenden Solowerk für Klarinette exemplarisch auf“, so ist er mit seiner fesselnden Interpretation auch der beste Anwalt dieses Lobes. Diese Miniaturen waren wohl auch der Anlaß dafür, selbst solche Solostücke für sich zu komponieren, die 6 Études de Concert. Das Beiheft druckt von dreien der Etüden – nämlich Nr. 1: „jumping around“, Nr. 4: „Vals all’appogiatura“ und Nr. 5: „hommage“ – jeweils eine ganze Notenseite ab, man kann so das Gespielte mitlesend verfolgen. Besonders interessant ist die Nr. 2, mit „perpetuum“ bezeichnet – sie nimmt die letzte Paganini-Leuchtrakete dieser SACD mit einem atemlosen Dauerspiel schon vorweg. Unter „plaine ondulée“ der Nr. 3 kann man sich tatsächlich so etwas wie eine wellenförmige Ebene vorstellen, die im Licht flirrt. Der Appogiaturen-Walzer der Nr. 4 umspielt mit vielen unterschiedlichen Vorschlagsnoten und –läufen die vielen Haupttöne mit schmückendem Rankenwerk. Nr. 5 – „hommage“ – arbeitet mit besonderen vertrackten Spieltechniken, so mit Verschleifen, Überblasen oder dem Erklingenlassen nur eines oberen Tons von zwei notierten mit bestimmten Griffen. Im letzten Stück „barbaro“ wagt sich Müller weit aus dem Gewohnten heraus und nutzt fast alle modernen Spieltechniken, die man heute mit der Klarinette ausführen kann, für mich das Meisterstück eines avantgardistischen Komponisten, der damit seine ganze Spannweite an Musikerfahrung unter klingenden Beweis stellt.
Das Beiheft berichtet vom Klarinettenstudium Matthias Müllers bei Hans-Rudolf Stalder in Basel und von Klavier- und Kompositionsstudien, auch bei Jörg Wyttenbach und erwähnt internationale Solistenpreise. Man liest auch, daß er sich bevorzugt zeitgenössischer Musik widme; er hat in Zürich auch Kelterborns von mir später besprochenes Klarinettenkonzert6 uraufgeführt.
Die NEOS-Produktion überrascht zudem auch noch mit einer Bonus-DVD, die in zwei Formaten beigefügt wird: in PAL für Europa und in NTSC für Japan und andere Länder. Sie enthält Filmaufzeichnungen sowohl der sechs Konzertetüden als auch einer Aufnahme des „Kleinen Harlekins“ von Karlheinz Stockhausen, ein originelles Zehn-Minuten-Werk für Soloklarinette, das – weil es ja gefilmt wurde – von Matthias Müller im rotblauen Harlekin-Anzug als Personendarstellung interpretiert und von der Kamera in abwechslunsgreichen Bildern illustriert wird.
Die visuellen Gestalter der Bildfolgen – Rosa Monika Guggenheim und Cyril Gfeller – haben dabei nicht nur den Klarinettisten im Visier ihrer Kameras, sondern sie haben auch in manchen Bildfolgen neben Natursequenzen im Hintergrund und neben verfremdenden Farbenspielen vor allem das Erklingende in der Zuordnung zum Interpreten künstlerisch überzeugend bearbeitet.
Man kann dem großartigen, vielseitigen, einfallsreich engagierten Musiker auch und vor allem zu dieser Produktion nur von Herzen gratulieren – was sie an lebendiger und virtuoser Musik, an allgemeinen und auf sich selbst bezogenen Informationen, an Filmdarstellungskunst und an Hör- und Sehgenuß bietet, ist allen Lobes wert, und das gilt uneingeschränkt auch für das NEOS-Label, dem man dafür nicht genug danken kann.
Diether Steppuhn
Biel-Benkemer Dorf-Zyting
12/2009
Okt/Nov 2009