Flirrende Hitze, leiser Wind. Ein Auto fährt einen Highway entlang und entschwindet am Horizont. Der Beginn des Solokontrabassstückes things happening bezieht sich auf die Impression einer Filmszene von David Lynch in der mexikanischen Wüste. Borboudakis konstruiert Räume. Klangräume, Assoziationsräume. Situationen und Beziehungen, Stimmungen und Bilder, Texte, Wörter und Mythen inspirieren den Komponisten. Dieses Erschaffen von Klängen ist eng verbunden mit unterschiedlichen Prozessen der Transformation, insbesondere elektronischen Verfahren. Nachvollziehen lässt sich dies anhand der fünf vorliegenden Solowerke. Geräusche, Töne, Phrasen, Motive, Akkorde und Gesten werden zu Klangaggregaten. Diese bewegen sich von einem Zustand in den nächsten, bäumen sich gegeneinander auf, sind präzise lokalisierbar. Langjährige Freundschaften zu einzelnen Musiker:innen des Ensembles der/gelbe/klang, intensive Zusammenarbeit, Experimentieren mit den Möglichkeiten des jeweiligen Instruments erlaubten es Borboudakis, ihnen die Stücke auf den Leib zu schreiben. So erzählt jedes Stück auch seine eigene Geschichte. Es sind Stimmungsbilder, die die Ausführenden mit den eigenen Grenzen konfrontieren – körperlich und mental – und die Zuhörenden dabei auf eine Reise mitnehmen. Synthetische Verfremdungsprozesse entziehen dem Klang Körperlichkeit, spalten ihn. Dieses wichtige Stilmittel erzeugt Intensität und Innenspannung.
Minas Borboudakis wurde 1974 in Heraklion auf Kreta geboren, seit 1992 lebt er in Deutschland. In München und Hamburg studierte er Klavier und Komposition. Sein Werk wurde u. a. mit dem Preis der Christoph und Stephan Kaske Stiftung und dem Bayerischen Kunstförderpreis ausgezeichnet. In seinen Kompositionen setzt er sich mit philosophischen und mythologischen Fragen auseinander – für ihn ist das Komponieren ein Weg, im Dialog mit humanistischen Themen zu sein und sie in der heutigen Zeit neu zu interpretieren. Sein Musikidiom bewegt sich zwischen Emotion und Intellekt, Poetik und Realismus. Seine Musik zeichnet sich durch Impulsivität, Mikrotonalität, reiche Klangfarben und expressive Gesten aus. Im Mittelpunkt seiner Arbeit stehen große Zyklen wie ROAI I–V, eine Auseinandersetzung mit dem Fließen nach dem Heraklit’schen Satz »Panta Rhei«, und Cycloids I–III für Tasteninstrumente über die Frage des Kreisens und der ständig mutierenden Wiederholung. In photonic constructions I–III (für Orchester und Ensembleformationen) stellt er die duale Natur des Lichts durch oszillierende Klänge dar. Neben zahlreichen Solo-, Kammermusik- und Orchesterwerken spielt das Musiktheater eine zentrale Rolle, etwa liebe.nur liebe (2007, Bayerische Staatsoper), Enheduanna (2015, Glasgow School of Art) oder Z (2018, Nationaloper Athen). Die Musik von Borboudakis wird in den führenden europäischen Konzerthäusern wie der Berliner Philharmonie oder der Elbphilharmonie sowie bei großen Festivals und Konzertreihen wie den Bregenzer Festspielen oder der musica viva des Bayerischen Rundfunks gespielt. Zu den Interpreten seiner Musik gehören u. a. das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, das Tonhalle-Orchester Zürich, das Orchestra Sinfonica Nazionale della RAI, die Wiener Symphoniker, das Bayerische Staatsorchester, das Swedish Radio Symphony oder das Oslo Philharmonic Orchestra sowie Künstler wie Zubin Mehta, Kent Nagano, Jonathan Nott und Constantinos Carydis. Als Dozent und Musikvermittler entwickelt er mit diversen Institutionen Projekte für junge Kreative. Minas Borboudakis ist seit 2022 ordentliches Mitglied der Bayerischen Akademie der Schönen Künste.
der/gelbe/klang widmet sich der Musik von heute in ihrer ganzen ästhetischen Bandbreite, neugierig, experimentierfreudig und immer auf der Suche nach zeitgemäßen Ausdrucksformen. 2020 gegründet, wurde das Ensemble schnell zu einem wichtigen Protagonisten der Neuen Musik in Deutschland. Es entstanden Aufnahmen für den Bayerischen Rundfunk und das Label NEOS; für ZDF / ARTE spielte der/gelbe/klang die Musik von Olav Lervik zu F. W. Murnaus Stummfilmklassiker Nosferatu – Eine Symphonie des Grauens ein. Gastspieleinladungen führten nach Österreich, Frankreich, Aserbaidschan und in die Schweiz. Etliche Werke wurden für das Ensemble geschrieben, darunter Kompositionen von Anahita Abbasi, Vykintas Baltakas und Valerio Sannicandro. Als Gastdirigenten konnten Persönlichkeiten wie Vladimir Jurowski, Emilio Pomàrico, Pierre-André Valade und Vimbayi Kaziboni gewonnen werden. der/gelbe/klang ist auch im Musiktheater aktiv, so gibt es eine regelmäßige Kooperation mit der Bayerischen Theaterakademie August Everding, u.a. mit einer vielbeachteten Aufführung von Philipp Venables Kammeroper 4.48 Psychose. Fundamental wichtig ist dem Ensemble der unmittelbare Kontakt zu Komponist:innen der jüngeren und jüngsten Generation. Zentral ist zudem die Entwicklung genreübergreifender Projekte, besonders die Verbindung mit visuellen Elementen. Eine solche Erweiterung des Konzertbegriffs ist für das Ensemble essenziell – diese Überzeugung führte auch zur Wahl des Namens der/gelbe/klang, nach Wassily Kandinskys genialem Konzept einer ganzheitlichen »Bühnenkomposition«. 2021 wurde der/gelbe/klang mit dem Bayerischen Kunstförderpreis ausgezeichnet.