In Plus or Minus entwickelt Ming Tsao auf der Grundlage von Karlheinz Stockhausens Kompositionsspiel Plus Minus eine faszinierende »Serien-Maschine« – ein komplexes System musikalischer Permutationen, das Klang auf überraschende Weise neu strukturiert. Tsao transformiert Stockhausens Vorlage durch strenge serielle Regeln, kontrapunktische Überlagerungen und ein raffiniertes Spiel mit rhythmischen Verschiebungen. Dabei wird Material aus Stockhausens Mantra in zerlegter, »negativer« Form integriert – oft fragmentarisch erkennbar, aber radikal umgeformt. Entstanden ist ein abendfüllendes Werk für zwei Klaviere und Elektronik, das konzeptionell wie spieltechnisch höchste Anforderungen stellt.
Das GrauSchumacher Piano Duo – langjährige Spezialisten für zeitgenössische Klaviermusik – setzt dieses hochkomplexe Werk mit beeindruckender Präzision und musikalischer Tiefe um. Ihre langjährige Erfahrung mit Stockhausens Mantra fließt hörbar in die Interpretation von Plus or Minus ein. Die enge Zusammenarbeit mit dem SWR Experimentalstudio eröffnet darüber hinaus außergewöhnliche klangliche Dimensionen: In beiden Flügeln sind Schwingungswandler montiert, die den Resonanzboden und Gussrahmen als Lautsprecher nutzen. So verschmilzt akustisches Klavierspiel mit elektronisch generierten Klangräumen, die allein aus Klavieraufnahmen bestehen und dem Instrument selbst entspringen. Entlang parametrisch gesteuerter Klangfarben entfaltet sich ein vibrierender, räumlicher Kosmos, der die Musik von jeglicher humanistischen Linearität löst und ihr eine neue, materialistische Lyrik verleiht.
Ergänzt wird das Album durch Ming Tsaos Dritte Stimme zu Bachs zweistimmigen Inventionen. Diese von Tsao als »Virus« bezeichnete Stimme destabilisiert bewusst das harmonische Gleichgewicht der Originale. Mit sensibler Klanggestaltung zeigen Ulrika Davidsson und Joel Speerstra am Duo-Clavichord, dass auch Bachs scheinbar monumentale Strukturen zerbrechlich und offen sind. Die »infizierte« Textur erzeugt so einen faszinierenden Dialog zwischen Tradition und Störung, zwischen Stabilität und Fragilität – ein intensives Hörerlebnis, das vertraute Musik in ein neues Licht rückt.
Ein Album, das radikal mit Erwartungen bricht, historische Bezüge dekonstruiert und die Hörgewohnheiten herausfordert.
Programm
Ming Tsao (*1966)
Plus or Minus für zwei Klaviere und Elektronik (2017–2018)
GrauSchumacher Piano Duo (Andreas Grau, Götz Schumacher)
SWR Experimentalstudio (Michael Acker)
Dritte Stimme zu Bachs zweistimmigen Inventionen für ein or zwei keyboard instruments (2019)
Due Corde (Ulrika Davidsson, Joel Speerstra)
Gesamtspielzeit: 74:37
Welt-Ersteinspielungen
Biografien
Der Komponist Ming Tsao schafft aus einer Fokussierung auf die inhärenten Qualitäten von Klängen heraus – in seinen eigenen Worten: ihre »Materialität« – Musik mit einer ganz eigenen Sinnlichkeit. Mit seinem hoch präzisen Kompositionsstil, der von extremer formaler Strenge geprägt ist, entwirft er eine neue Konzeption für das Lyrische in der Musik unserer Zeit: Sie umfasst Brüche und vielfältige Perspektivwechsel, die unsere moderne Erfahrung hinterfragen. Viele Werke Ming Tsaos entspringen gleichermaßen seiner kritischen und tiefgründigen Analyse westlicher klassischer Traditionen und seiner Verbundenheit mit traditioneller chinesischer Musik. Das Format, in dem er diese Interessen zusammenführt, ist zunehmend die Oper.
Ming Tsao wurde 1966 in Berkeley (Kalifornien) geboren. Er lernte Violine und Bratsche, bevor er nach China reiste, um in Suzhou bei dem berühmten Virtuosen Wu Zhao-ji das Spiel auf der bundlosen chinesischen Griffbrettzither Guqin zu studieren. Nach seinen Studien in Komposition am Berklee College of Music in Boston und in Ethnomusikologie an der Columbia University in New York folgte ein Studium der Logik, Philosophie und Mathematik. Seinen Ph. D. (Doctor of Philosophy) in Komposition erwarb er an der University of California in San Diego als Schüler von Chaya Czernowin. Zudem absolvierte er ein Privatstudium bei Brian Ferneyhough.
2009 bis 2017 war Ming Tsao Professor für Komposition an der Universität Göteborg; derzeit lehrt er als Gastprofessor für Komposition an der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover. Im Jahr 2021 erhielt er ein Guggenheim-Stipendium für Komposition. 2024 wurde er zum Birge-Cary-Professor für Musik an der University of Buffalo in New York ernannt.
www.mingtsao.net
GrauSchumacher Piano Duo
Andreas Grau · Götz Schumacher
Klug zusammengestellte Programme sind das Markenzeichen, mit dem sich Andreas Grau und Götz Schumacher als eines der international renommiertesten Klavierduos profiliert haben. Wie kein anderes Klavierduo spannen sie den Bogen von Bach bis zu neuer und neuester Musik. Ihr Miteinander am Klavier lässt sie als künstlerische Seelenverwandte erscheinen. Mit ihrem weitreichenden Spektrum an Ausdrucksmöglichkeiten sind sie zu Gast bei diversen Festivals und Konzerthäusern.
Das Duo arbeitete mit Dirigenten wie Emanuel Krivine, Kent Nagano, Andrey Boreyko, Peter Eötvös und Zubin Mehta zusammen. Zu ihren Orchesterprojekten gehören Konzerte mit dem SWR Symphonieorchester, dem DSO Berlin, dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, dem RSO Wien und dem Orchestre Philharmonique de Radio France. Viele
Komponisten schreiben für das GrauSchumacher Piano Duo, zuletzt Peter Eötvös, Philippe Manoury, Stefan Heucke, Jan Müller-Wieland, Brigitta Muntendorf, Hanspeter Kyburz oder Luca Francesconi, um nur einige Namen zu nennen. Den Hang zu ausgefeilten Programmkonzepten dokumentieren auch die zahlreichen CD-Einspielungen des Duos, die unter anderem in einer eigenen Reihe bei NEOS erscheinen.
de.karstenwitt.com/grauschumacher-piano-duo
Das SWR Experimentalstudio versteht sich als Schnittstelle zwischen kompositorischer Idee und technischer Umsetzung. Jährlich werden mehrere Komponist:innen zu einem Arbeitsstipendium eingeladen, um dann im Diskurs mit den Mitarbeitern des Studios ihre Werke zu realisieren. Neben der Herstellung dieser Werke ist es als Klangkörper auch bei den Aufführungen aktiv. Mit 50 Jahren Präsenz im internationalen Musikbetrieb hat es sich als der führende Klangkörper für Werke mit Live-Elektronik etabliert und konzertiert fortwährend bei nahezu allen bedeutenden Festivals wie auch in etlichen renommierten Musiktheatern. Zu den herausragenden Produktionen in der Geschichte des Experimentalstudios gehören Arbeiten so bedeutender Komponisten wie Pierre Boulez, Karlheinz Stockhausen und Luigi Nono, wobei letzterer nahezu sein gesamtes Spätwerk in enger Verbundenheit mit dem Studio erstellt hat. Nonos »Hörtragödie« Prometeo ist nach der Uraufführung 1984 mittlerweile mehr als 80-mal durch das Experimentalstudio realisiert worden und kann als Meilenstein der Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts bezeichnet werden. Aus der jüngeren Generation sind insbesondere Mark Andre, Chaya Czernowin und Georg Friedrich Haas als die Komponisten aufgefallen, welche zukunftweisende Werke im Experimentalstudio hervorgebracht haben. Unter den Interpreten, die mit dem Studio in Verbindung stehen, finden sich herausragende Musikerpersönlichkeiten wie Mauricio Pollini, Claudio Abbado, Peter Eötvös, Daniel Barenboim, Gidon Kremer, Carolin und Jörg Widmann, Irvine Arditti und Roberto Fabbriciani. Für seine exemplarische Arbeit wurde das Experimentalstudio international mit mehreren Preisen ausgezeichnet, u. a. mit dem Jahrespreis der deutschen Schallplattenkritik für die Produktion von Werken Luigi Nonos. Nach Hans Peter Haller, André Richard und Detlef Heusinger ist seit 2022 Joachim Haas Leiter des Experimentalstudios.
www.swr.de/experimentalstudio
»Due Corde« und das neue Duo-Clavichord
Ulrika Davidsson und Joel Speerstra spielen seit fast drei Jahrzehnten Musik für zwei Tasten-
instrumente und treten in Europa und den Vereinigten Staaten auf.
Ulrika Davidsson ist eine vielseitige Musikerin, die auf Cembalo, Clavichord, Klavier und Fortepiano spielt und in ganz Europa, den USA sowie in Südkorea und Japan konzertiert. Sie unterrichtet Klavier und historische Tasteninstrumente an der Akademie für Musik und Theater der Universität Göteborg und ist auch häufig in internationalen Akademien und bei Festivals zu Gast. Sie war Assistant Professor an der Eastman School of Music, Music Director beim Rochester City Ballet (USA) und unterrichtete an der Hochschule für Künste Bremen sowie an der Königlich Dänischen Musikakademie. Ulrika Davidsson studierte an der Eastman School of Music, wo sie einen Doktortitel in Klavier und historischen Tasteninstrumenten sowie einen Master-Abschluss im Cembalospiel erwarb. Weitere Studien absolvierte sie an der Akademie für Musik und Theater in ihrer Heimatstadt Göteborg sowie am Sweelinck-Konservatorium in Amsterdam. Ihre Lehrer waren u. a. Barry Snyder, William Porter, Malcolm Bilson, Willem Brons und Elisif Lundén. Zu ihren CD-Einspielungen zählen die Klaviersonaten von Haydn sowie eine vollständige Aufnahme von Bachs Wohltemperiertem Klavier Buch I. Sie wurde u. a. mit dem Schwedischen Staatskünstlerpreis, dem Adlerbert-Stipendium und dem Kulturpreis der Stadt Mölndal ausgezeichnet.
Joel Speerstra lehrt und forscht im Bereich Orgel und historische Tasteninstrumente an der Akademie für Musik und Theater der Universität Göteborg. Zuvor war er Assistent Professor an der Eastman School of Music. Er ist in den Bereichen künstlerische Forschung, Instrumentenbau und Aufführungen an Akademien und internationalen Keyboard-Festivals tätig. Joel Speerstra studierte Orgel bei William Porter und David Boe am Oberlin Conservatory of Music. Mehrere Stipendien ermöglichten es ihm, seine Studien in Europa fortzusetzen: Orgel und Clavichord bei Harald Vogel in Deutschland sowie Instrumentenbau bei John Barnes in Edinburgh. Sein Promotionsprojekt führte zu einer Rekonstruktion von David Gerstenbergs Pedalclavichord und zur Veröffentlichung des Buches Bach and the Pedal Clavichord: An Organist’s Guide (erschienen bei Rochester University Press). Für seine Forschungen über das Pedalclavichord wurden er von der Königlich Schwedischen Musikakademie mit einem Staatspreis für Musikwissenschaft ausgezeichnet. Sein aktuelles Forschungsprojekt konzentriert sich auf vergessene Rätsel in der Musik für Tasteninstrumente des 17. Jahrhunderts.
Infos
Katalognummer: NEOS 12530
EAN: 4260063125300