Nicolaus A. Huber: AION

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Artikelnummer: NEOS 12209-10 Kategorie:
Veröffentlicht am: März 18, 2022

Infotext:

NICOLAUS A. HUBER · AION


Angel Dust
 für Posaune und Akkordeon (2007 / 08)

Ich denke beim Komponieren immer an Hörer. Ich selbst bin mein erster und oftmaliger Hörer. Aber zuallererst denke ich immer an Töne. Sie stehen mir gegenüber, auch in ihren angereicherten Formen als Klänge, Geräusche, Positionen. In diesem Stück gibt es einige Töne, deren Lautstärken nicht ihre eigenen sind, sondern mit denen sie uns Hörer um Aufmerksamkeit bitten, ja sie geradezu erflehen. Ihr Hauptselbst, meine ich, ist ihre Länge. Nur wenn diese Längen mit offenem Hören empfangen werden, erfährt man Charakter, Blickrichtung, Sehnsüchte, Tonwelten. Daneben gibt es eine Menge eleganter, flüchtiger Töne, eine Art Frequenzhüpfer: »Engelsstaub«.

Ich begegnete diesem Begriff kurz vor Beginn meiner Kompositionsarbeit in Naomi Kleins erschreckendem Buch Die Schock-Strategie, in dem zu Beginn die Psychoschockversuche (CIA / USA und Dr. E. Cameron / Montreal) zur totalen Zerstörung von Persönlichkeit geschildert werden. Zu diesen Entprägungs-Versuchen gehört(e) auch ein Drogencocktail mit LSD und PCP (Phenyl-Cyclidin-Piperidin). Dieses PCP ist auch als »Angel Dust« bekannt. Es stellte sich heraus, dass Entprägung mit anschließender Um- und Neuprägung nicht möglich war. Nur katastrophale Persönlichkeitszerstörung. Diese hat allerdings zur Entwicklung heutiger amerikanischer (nur?) Foltertechniken Zentrales beigetragen. Dagegen ist Musik ein Klacks! Sie hat eine andere Realistik als die Realität. Das beinhaltet ihre Freiheit!

Alle Ereignisse des Stückes sind in eine Maßstabstruktur von 80 x 13 eingesperrt und bewegen sich doch dauernd in erneuerter Teilung. Die harmonische Grundstruktur fällt mit der syntaktischen Gliederung nicht immer zusammen. Töne verlieren dadurch ihre Deutlichkeit. Sie gewinnen entlokalisierte Beweglichkeit. Und ein Einsperrmodell, in dem ein Ereignis (A) an Beginn und Ende (B1 / B2) umklammert ist, wird zum polyphonen Bewegungsprozess des Entgleitens und Entkommens. Realität als Anstoß musikalischer Realistik. Dialektisch? Ansprechpartner?? Ihr Zeuge, lieber Hörer!!!

Blanco y Verde für Flöte und Klarinette (2018)

Blanco y Verde ist für Große Flöte und Klarinette in B geschrieben, ohne jeglichen Instrumentenwechsel. Der Titel selbst stammt von Carmen Herrera, die mehrere großformatige Bilder dazu Ende der 1950er Jahre gemalt hat. Es sind durchweg architektonisch abstrakte Malweisen mit zwei Farben – in diesem Fall Weiß und Grün. Beide Farben faszinieren mich schon sehr lange! Weiß war die Farbe von Mallarmé, in die er Wörter setzte, wie später Satie seine Notenpunkte. Und Grün – »le rayon vert« – ist die Farbe einer rätselhaften Installation von Marcel Duchamp zu einer Surrealismus-Ausstellung in Paris 1947.

Das Verrückte an der Farbe Grün ist deren Beziehungsmöglichkeit zur Musik, denn wir sehen Grün nur, wenn 5 Photonen pro Sekunde in unser Auge wandern. Das ist eine einfache Quintole auf 1 Viertel = 60. Deswegen spielt in meinem Stück die »5« eine besondere Rolle – nicht nur pro Sekunde! Und noch etwas Seltsames gibt es in diesem Stück – die Proportion 1:2 oder 1:4 bzw. 1:8. Es ist die Oktave, die Töne so verdoppelt, dass diese sowohl verschmelzen können als auch Selbständigkeit oder gar Unabhängigkeit zeigen, ja dann daraus sogar mikrotonal die Oktave dehnen und krümmen können. Als »Ich-Intervall par excellence«, »der inneren Aufrechtbewegung« verifiziert Hermann Pfrogner dieses rätselhafte Verhältnis, bevor die Saitenteilungen zu Quinte und Quarte fortschreiten.

Mein Duo birgt also eine Zweiheit von besonderer Art. Jede Zweiheit kann zu einer »1«, einer neuen Einheit werden, dem eine neue »2« zufällt. Eigentlich eine freie, ja unendliche Wachstumsstruktur. Darin blicken manche Töne zurück, wie quantenverschränkt, und unser Wahrnehmungsorgan wundert sich über Abstände und Strecken, die gleichzeitig instantan, ohne Abstände und Strecken sind und noch die Wahrscheinlichkeitswelle des Ortes verkraften muss. Quantenfarben – blanco y verde?

Ohne Hölderlin für Kontrabass und Klavier (1992)

Ohne Hölderlin entstand für das Saarbrücker Festival »Musik im 20. Jahrhundert«. Die vielfältigen Möglichkeiten der Klangmischung und Klangverschmelzung zwischen den beiden Instrumenten stehen im Vordergrund, bis eine »Tischrück-Coda« das Werk »mit äußerster Heftigkeit« beschließt.

Im Gegensatz zu mehreren Kompositionen der letzten Jahre (HerbstfestivalGo AheadOffenes FragmentAn Hölderlins Umnachtung) kommt dieses Stück »ohne Hölderlin« aus, distanziert sich auch von einer Art Hölderlin-Mode.

Mein Problem war viel kleinerer Natur, nämlich zwei derart verschiedene Klangkörper wie Kontrabass und Klavier so zu behandeln, dass ein Klangganzes entsteht, in dem die jeweiligen Klanganteile sich gegenseitig sinnvoll begründen. Zum Klang gehört natürlich auch seine Struktur. Alle Strukturen gewinnen ihre Daseinsautorität aus der Taktstruktur, den direkt erkennbaren Rhythmen, der Zahl der Anschläge usw.

Das Stück steht eindeutig auf der musikalischen Denkbasis organisch sich entwickelnden Zusammenhangs. Allerdings ist dieser so transparent komponiert, dass das Einzelne völlig gleichberechtigt erlebt werden kann wie in einer Melodie die Intervalle, im Intervall die Töne, im Ton sein Klang, im Klang seine Lautstärke, in der Lautstärke ihre Kurve, in der Kurve die Dauer usw. Nur am Schluss, in der Tischrück-Coda, verdichtet sich Transparenz zur äußersten Heftigkeit, zum Knall.

En face d’en face für großes Orchester und Zuspielungen (1994)

Der Titel meines Orchesterstückes En face d’en face, etwa »gegenüber von gegenüber« meinend, geht auf ein Darstellungsprinzip der alten ägyptischen Malerei und Reliefkunst zurück. Ihre Dichte der Darstellung wird durch Vermeiden des zufälligen, einheitlichen Augenblickseindrucks gewonnen. Die Verknüpfung der einzelnen Teile, zum Beispiel eines menschlichen Körpers, geschieht auf spezielle Art und Weise. Das Bild gibt nicht wieder, was das Auge sieht, sondern mutet – durch die Technik der Versetzung einer Gruppe von Körperteilen (Auge, Oberkörper, Nabel) um 90° gegenüber den anderen Teilen – dem Betrachter ein komplexeres Sehen zu. Diese simultane Profil- und Frontalansicht erlaubt eine höhere Vollständigkeit, die sich nicht an die Zeitgrenzen der einmaligen Blickerfassung hält. Die Künstler des Kubismus benutzten diese Verfahren wieder und trieben sie weiter zu maximalen Möglichkeiten der Aufsplitterung und Vervielfältigung (natürlich im Dienste ihrer künstlerischen Anliegen).

Ein Gesicht im Gesicht als Gesicht ist eine wunderbare Vorstellung. In der Musik wäre das nächstliegende Mittel der Wiederholung als Wiedererkennbares jedoch zu primitiv und kurz gedacht. Die Technik, mit der in meinem Stück musikalische und orchestrale Komplexität organisiert ist, ist wohl am besten mit dem Begriff der »Mehrfachdarstellung« eines Gedankens / Gedankengangs zu beschreiben. Dieses Prinzip ist ineinandergeschoben, verwoben, getrennt, zeitlich ge- oder verstreut, in verschiedenen Graden der Annäherung und Entfernung usw. leicht vorstellbar, das heißt auch fasslich. Kann man darin keine Haupt- und Nebensachen mehr ausmachen, kein Verschmelzendes, kein Erzählendes etc., dann taucht ein neues Hören auf: Sonst Zusammenhängendes steht sich jetzt plötzlich nur noch gegenüber. Derartige Fremdheit bedingt: Das Gegenüberstehende sieht sich gegenüber dem Gegenüberstehenden. Eine Aufführung mit Tonband lässt dies am elementarsten erahnen. Das gesamte Stück wird in 16 Teile getrennt und diese werden übereinandergeschichtet. Diese simultane Stückpressung wird wieder in zwei Hälften geteilt, die wie zwei Shrugs (Stücke des »achselzuckenden Hörens«) dem eigentlichen (live-)Stück, gleichsam als zwei Riesenfermaten, vor- und nachgestellt sind.

ALGOL Nachspiel zu AION für Klavier [mit Luftzeichnung und Maultrommel] (2019)

Seit geraumer Zeit beschäftige ich mich mit Möglichkeiten der Analogien zwischen Quantenverhalten und harmonischen Tonkonzeptionen. 1968 komponierte ich das Tonbandstück AION, dessen thematische Grundlage C. G. Jungs Archetypenlehre war, d. h. alles, was auf archetypischen Energieprozessen beruht, ist »tonal«. Für Nono war Tonalität, überwölbend gedacht, das »Problem Einheit«.

Diese radikale Selbst- und Komponierkritik ist lange her. Umso elektrisierter war ich, als ich vor kurzer Zeit den Briefwechsel zwischen Wolfgang Pauli und C. G. Jung (1932–58) las. Der Quantenphysiker Pauli betrachtete die Jungsche Archetypenlehre aus der Welt der Quantenphysik. Er prägte sogar den Begriff der »Hintergrund-Physik«, archetypisch generiertes Denken. Die Nicht-Lokalität und die Wahrscheinlichkeitswelle, kein spezifischer Ort, Synchronizität als akausal, aber sinnergebend gedacht, kein losgelöster Beobachter bei Messungen usw. – plötzlich ineinandergreifende Welten!

In diesem Buch taucht auch der Name »Algol« auf. Aus dem Arabischen al-gul (= der Dämon) kommend, bezeichnet dies ein Doppelsternsystem verschiedener Helligkeit, um das ein dritter Stern kreist. Im Sternbild Perseus sich befindend, sieht man einen veränderlichen Stern, dessen Helligkeit periodisch schwankt, ein »Teufelsstern«.

In dieser brodelnden Energiewelt, die plötzlich und völlig unvermutet in mir aufbrach, habe ich das Stück für Klavier, als Nachspiel zu meinem AION komponiert. Ich wusste schon damals, dass Archetypen nicht überwunden werden können, das Bewusstsein jedoch eine Art von Distanz schaffen kann. Nun ein Solo-Flugspiel wie mit einer VR-Brille …

Rose Sélavy für Ensemble und Zuspielungen (2000)

»Rose Sélavy«, eine zweite Identität von Marcel Duchamp (nur von 1920–41), war auch »Rrose Sélavy«. Dies entstammt einer Unterschrift Duchamps auf Picabias L’Œil Cacodylate, das in der Bar »Le Bœuf sur le Toit« hing und im Original lautete: »Pi Qu’habilla Rrose Sélavy« (gleich: Picabia l’arrose c’est la vie).
1920 ließ Duchamp von einem Schreiner in New York ein Fenster (77,5 x 45 cm) anfertigen. Es ist grün gestrichen, lässt sich sogar öffnen und erhebt sich über einem, nach beiden Seiten etwas überstehenden Fensterbrett (1,9 x 53,3 x 10,2 cm), auf dessen Alltagsgrün in schwarzen Buchstaben steht: FRESH WIDOW COPYRIGHT ROSE SELAVY 1920.

Laut Duchamp könnte man auch verstehen: french, fresh, widow, window … Die acht quadratischen Scheiben sind mit schwarzem Leder beklebt und »müssten eigentlich jeden Morgen wie ein Paar Schuhe gewichst werden, damit sie blinken wie Fensterscheiben«. (Duchamp in einem Interview mit P. Cabanne)

Dies interessiert mich wirklich sehr!!

AION für vierkanaliges Tonband und Gerüche (1968 / 72)

Bis auf ganz wenige Ausnahmen erscheint in AION jedes akustische Ereignis nur ein Mal. Ihr Bedeutungszusammenhang bündelt sie zu bestimmten Schichten und zu thematischen Spannungssteuerungen archetypischer Energieverläufe.
Der Archetypus ist ein an sich unbewusstes psychisches Gebilde, das aber Wirklichkeit besitzt, unabhängig von der Einstellung des Bewusstseins. Psychische Energien verknüpfen sich mit sinnlichen Vorstellungen. C. G. Jung spricht von Imago-Fähigkeit. Er nennt Archetypen »funktionelle Dispositionen«, entsprechend den »patterns of behavior«. Ich entdeckte, dass Tonalität auf solchen funktionellen Dispositionen unserer Psyche beruht. AION ist ein Stück über die energetischen Elementargeheimnisse der Tonalität, ihres (veralteten? noch nicht besiegten, unbesiegbaren?) Libido-Reichtums.

Wie ist AION zu hören? Die Komposition, bereits 1968 entworfen, war jedenfalls als akustisches Arbeitspapier gedacht.

Nicolaus A. Huber

Programm:

CD 1
Gesamtspielzeit: 61:48

[01] Angel Dust für Posaune und Akkordeon (2007/08) 15:39

Mike Svoboda, Posaune
Stefan Hussong, Akkordeon

Live-Mitschnitt der Uraufführung


[02] Blanco y Verde für Flöte und Klarinette (2018) 11:38

Erik Drescher, Flöte
Matthias Badczong, Klarinette

Live-Mitschnitt

[03] Ohne Hölderlin für Kontrabass und Klavier (1992) 15:47

Michinori Bunya, Kontrabass
Catherine Vickers, Klavier

[04] En face d’en face für großes Orchester und Zuspielungen (1994) 18:38

hr-Sinfonieorchester Frankfurt
Friedrich Goldmann, Dirigent

 

CD 2
Gesamtspielzeit: 71:38

[01] ALGOL Nachspiel zu AION für Klavier [mit Luftzeichnung und Maultrommel] (2019) 14:45

Catherine Vickers, Klavier

[02] Rose Sélavy für Ensemble und Zuspielungen (2000) 19:25

Ensemble Musikfabrik
Jacques Mercier, Dirigent

Live-Mitschnitt der Uraufführung

[03] AION für vierkanaliges Tonband und Gerüche (1968/72) 37:23

WDR Electronic Music Studio

 

Ersteinspielungen

Pressestimmen:


175 / November 2022

Enigmatische Konstellationen

„Wir sehen Grün nur, wenn 5 Photonen pro Sekunde in unser Auge wandern. Das ist eine einfache Quintole auf 1 Viertel = 60. Deswegen spielt in meinem Stück die ‚5‘ eine besondere Rolle“, schreibt Nicolaus A. Huber im Kommentar zu seinem Flöten-Klarinetten-Duo „Blanco y verde“ von 2018. Ein typischer Satz des Komponisten. Er sucht sich seine Anregungen mit unstillbarer Neugier auf den entferntesten Gebieten zusammen.

In den Stücken auf dem vorliegenden Doppelalbum findet er sie im Surrealismus eines Duchamp, bei den alten Ägyptern, bei C.G. Jung oder bei den Lieblingsfeinden der linken Kulturschaffenden, den bösen Amis. Wie hier sind es meist außermusikalische Anstöße, die er gedankenscharf in musikalische Strukturen umsetzt. Der hohe Abstraktionsgrad seiner Überlegungen verwandelt die in die Werke einfließenden Realien in enigmatische Klangkonstellationen und verhindert damit jede programmmusikalische Assoziation. Die konkrete Klangerscheinung beeinträchtigt das nicht – im Gegenteil, die Gestalten sind von einer genau kalkulierten Plastizität und Farbigkeit, die sie als Resultat autonom-musikalischer Verfahren ausweist.

Die Kompositionen in der jetzigen Neuveröffentlichung, die zwischen 1968 und 2019 entstanden sind und damit einen Querschnitt durch Hubers Schaffen darstellen, liefern dazu ein reiches Anschauungsmaterial. Zum Beispiel das Orchesterstück „En face d’en face“: Die gespannten Zeitdehnungen und bruitistischen Eruptionen fügen sich zu einer Klangdramaturgie, die nur ihren eigenen Gesetzen folgt. Oder das Klavierstück „ALGOL“: Hier entsteht aus der spekulativen Zusammenschau von Quantenphysik und Archetypenlehre ein komplexes Ineinander von Tastenklängen und Klängen aus dem Inneren des Klaviers, was zu geisterhaft anmutenden Nachhalleffekten führt. Hubers Klanguniversum scheint in ständiger Expansion begriffen zu sein.

Max Nyffeler

 

 

13.07.2022

Quanten und andere Archetypen
NICOLAUS A. HUBERS CD „AION“

Aion im Tierkreis

Komponieren bedeutet wörtlich ‚zusammenstellen’, ,zusammenfügen’. Man fragt sich allerdings, wo Komponisten zeitgenössischer Kunstmusik, die nicht wiederholen mögen, was schon zu hören war, ihre Töne her beziehen. Jede Komponistin, jeder Komponist wird die Frage mit jedem Stück anders beantworten. Bei Nicolaus A. Huber (geb. 1939), von dem einige Werke auf der CD ‚AION’ veröffentlicht wurden, sind die Klangquellen nicht unbedingt hörbar, aber Ernst August Klötzke beschreibt sie.

Der Titel dieser Doppel-CD ist dem Ältesten der darauf gebannten Kompositionen von Nicolaus A. Huber entlehnt. „Aion“ ist nicht nur Titel, sondern auch Motto und Coda der Zusammenstellung von unterschiedlich besetzten Werken, die zwischen 1968 und 2019 entstanden sind.

Anfang der 1990er Jahre äußerte der Musikwissenschaftler Ulrich Dibelius, Huber habe einen „Codazwang“. Er spielte mit dieser Aussage darauf an, dass es in Hubers Oeuvre überwiegend eine Summierung des stückimmanenten Materials am Ende gibt, um damit nicht nur abzuschließen, sondern gleichfalls, um neue Perspektiven als Musilschen „Möglichkeitssinn“ zu eröffnen.

Diese zweifache Belegung eines formalen Abschnitts lässt sich – und hier kommt „Aion“ als das letzte (Coda) und zugleich älteste (Motto) Werk auf der Doppel-CD erneut ins Spiel – übertragen auf eine grundsätzliche Sicht Hubers, in der die zu durchleuchtenden Phänomene nie singulär betrachtet, sondern immer in manchmal überraschenden Verbindungen kontextualisiert werden.

Die Gottheit Aion repräsentierte eine nicht-lineare Zeitauffassung. Wenn man von unserer Erfahrungen, also der linearen Abfolge zeitlicher Ereignisse ausgeht, dann lässt ein nicht-lineares Zeitmodell zu, dass sich alle Kausalitäten aus ihren vertrauten und unmittelbaren Zusammenhängen herauslösen lassen. Dieses Denken prägt Hubers Musik als Über- und Unterbau des Klingenden, dessen Auswirkungen hörbar und in einem körperlichen Sinne spür- und erfahrbar werden. So schafft er Nahbereiche zwischen großen Distanzen (wie etwa enharmonisch umgedeutete Töne am Klavier die größtmögliche Nähe (wegen der identischen Taste) und gleichzeitig die größtmögliche harmonische Distanz darstellen). Dabei kreisen Hubers „Themen“ um den Menschen, dessen Handeln, Empfinden, Denken und Erkenntnis mögliche Ausgangspunkte von Musik werden.

Die erste der insgesamt sieben Kompositionen „Angel Dust“ (2007/08) für Posaune und Akkordeon ist das Ergebnis einer Lesart dessen, was Huber unter dem Begriff „Entprägung“ komponiert. Wie er im dazugehörigen Werkkommentar schreibt, interessierten ihn Psychoschockversuche, die u.a. von der CIA durchgeführt wurden, um die totale Zerstörung einer Persönlichkeit herbeizuführen. Der Komponist übersetzt solche Themen dahingehend, dass in „Angel Dust“ mit „…Töne(n), deren Lautstärken nicht ihre eigenen sind, sondern mit denen sie uns Hörer um Aufmerksamkeit bitten, ja sie geradezu erflehen“, exemplarisch ein Perspektivwechsel gefordert ist, durch den jedes akustische Ereignis seziert und seine Einzelteile aus ihrer gewohnten Umgebung und tradierten Hierarchie herausgelöst werden können.

Dies wird hörbar in einer hervorstechenden und lustvollen Exklusivität im Umgang mit den Instrumenten und ihren Typologien und mit der Zeit als Wechselspiel der Anwesenheit und Abwesenheit von Klang: die Musik scheint dabei in ihren Einzelereignissen vertraut und fremd zugleich.

Zehn Jahre später schrieb Huber das Duo für Flöte und Klarinette „Blanco y Verde“ (2018), in dem er in der Farbe Grün eine „Beziehungsmöglichkeit“ zur Musik sieht und im Booklet schreibt: „… denn wir sehen Grün nur, wenn 5 Photonen pro Sekunde in unser Auge wandern. Das ist eine einfache Quintole auf 1 Viertel = 60.“ Weiter führt er aus, dass demnach die Zahl „5“ eine besondere Rolle in seinem Stück spielt und leitet aus ihrer möglichen Aufteilung eine Wachstumsstruktur ab, die eine der Gestaltungsgrundlagen von „Blanco y Verde“ darstellt. Hörbar wird ein In- und Gegeneinander von Klang- und Pausenfarben, von Identitäten, die energetisch auseinanderdriften und immer wieder in verwandelten Qualitäten zueinander geführt werden.

Das erinnert an die Abfrage des Mikrofonstatus in Videokonferenzen. Üblicherweise sagen wir etwas, wenn der Bildschirm uns fragt, ob wir denn unsere eigene Stimme hören. Diese Antwort schallt dann allerdings stark verändert und verzerrt wieder zu-rück, die Charakteristika der eigenen Stimme sind bis zur Unkenntlichkeit verfremdet und durcheinandergewirbelt. Wir könnten dies als entlokalisierte Teilspektren der Stimme bezeichnen, Huber nennt es in „Blanco y Verde“ „quantenverschränkt“.

In den 80er und 90er des 20. Jahrhunderts Jahren entstanden (vielleicht als Reaktion auf Nonos Quartett „Fragmente – Stille, an Diotima“) eine Reihe von Hölderlin-Vertonungen. Auch Huber hat sich, auf die ihm eigene Art, in mehreren Kompositionen mit Hölderlin auseinandergesetzt, unter anderem entstand dabei ein Duo für Kontrabass und Klavier, das er mit „Ohne Hölderlin“ (1992) betitelt hat. Dieses dritte Stück auf der ersten CD zeichnet sich nicht nur dadurch aus, dass hier eine besondere Coda („Tischrück-Coda“) die Komposition beschließt, sondern auch, dass die aus Hubers Musik bis in die 90er Jahre vertrauten körperlich-rhythmischen Gestalten (er nennt das „Konzeptionelle Rhythmuskomposition“) als Strukturträger und Strahlenbündel für andere Parameter ganz im Zentrum stehen.

1994 komponierte Huber das Stück für großes Orchester und Zuspielungen „En face d’en face“, das am Ende der ersten CD platziert ist. Wieder findet sich darin eine besondere Ausgangsposition, die zur Entstehung des Stückes geführt hat und sich im Titel widerspiegelt. Dieser geht, so Huber, „auf ein Darstellungsprinzip der alten ägyptischen Malerei und Reliefkunst zurück“, bei der ihn interessiert, dass das Bild nicht wiedergibt, was das Auge sieht. Die Gleichzeitigkeit von Profil- und Frontalansicht versteht er als „höhere Vollständigkeit, die sich nicht an die Zeitgrenzen der einmaligen Blickerfassung hält.“ Er komponiert das als hörbare „Mehrfachdarstellung“ eines Gedankens, die eine Verflechtung von unterschiedlichen klanglichen Qualitäten zur Folge hat. Die Virtuosität der Farben steht dabei für die perspektivische und emotionale Beweglichkeit. Und die Coda? Es gibt sie, diesmal (der Blick in die Partitur verrät es) als ca. Einminütige: „Vom Dirigenten zu arrangierende Feier des Verschimmerns. Das Verschimmern des Klangs soll nicht einfach ein „Schluss“ sein, sondern durch die Länge (quantitative Zähigkeit) die Bedeutung einer Struktur bekommen“ – so der Komponist.

Das jüngste Stück, mit dem die zweite CD beginnt („ALGOL Nachspiel zu AION für Klavier mit Luftzeichnung und Maultrommel“), hat Huber 2019 geschrieben. Mit dem Verweis auf AION wird deutlich, dass die „thematische“ Bandbreite von Nicolaus A. Huber sich wie Wellen darstellen lässt, in denen der Sprung von der jeweils größten Ausdehnung zum Beginn der Ausbreitung immer möglich, vielleicht sogar nötig ist.
Die in AION im Zentrum stehende Auseinandersetzung mit Archetypen findet in ALGOL dahingehend einen Widerhall, dass Huber, der sich seit einigen Jahren aus der kompositorischen Sicht mit den Möglichkeiten von Quanten beschäftigt, in einem Briefwechsel zwischen dem Quantenphysiker Wolfgang Pauli und C. G. Jung eine Grundlage gefunden hat, um beide Perspektiven zu verbinden.

Daraus resultiert eine Musik, deren energetische Aufgeladenheit, die sich nicht nur, wie zu erwarten wäre, in „fff“- Ausbrüchen offenbart, sondern ebenso als verdichtete Entladung im „ppp“. Töne und Tonverbindungen werden durch die sie einbettenden Parameter als räumliche Distanzen wahrnehmbar. ALGOL, das „Nachspiel“ (Coda?) zu AION, in dem sich der damals achtzigjährige Komponist mit sich selbst als ca. dreißigjähriger konfrontiert, zeigt sich als „Anti-Dorian Gray“. In der zeitlichen Distanz steckt die Spannung, aus ihr resultiert die Könnerschaft und auch eine gewisse befreite Gelassenheit. Wieder, wie in AION, spielt Sprache eine Rolle, anders als bei AION erscheint sie nun mehr als Klang- denn als Bedeutungsträger.

Im Ensemblestück (mit Zuspielungen) „Rose Sélavy“ aus dem Jahre 2000, das als Zweites folgt, setzt sich Huber mit Marcel Duchamp auseinander, dessen Un-/Eigenartige Kunst ihn immer wieder fasziniert. Das Stück besticht durch die immense Offenheit der musikalischen Zusammenhänge und die fein und widerborstig herauspolierten Klänge. Es ist ein Stück Musik, das einen nicht in Ruhe lässt, und von dem man auch nicht in Ruhe gelassen werden will. Hinter jedem Ton lauert Unerwartetes, das sich mehr und mehr als gewollt loser Zusammenhang in einer atemberaubenden Dichte ausbreitet, wobei sowohl die Dichte als auch die Grade der Ausdehnung zur zarten Einzelfarbe führen können. Eine Coda? Es lohnt sich, hörend danach zu suchen.

Nun, zum guten Schluss, AION (1968/72), das sich fraglos im Zusammenhang mit den anderen Kompositionen auf den CDs als frühes Werk identifizieren lässt. Für vierkanaliges Tonband und Gerüche wurde es geschrieben und produziert, die Befassung mit den Archetypen bei C. G. Jung waren der Ausgangspunkt. Huber benennt AION als gedachtes „akustisches Arbeitspapier“. Im Kontext mit solchen, vermeintlich Unfertiges bezeichnenden Begriffen, die in den ausgehenden 60er Jahren häufig zu finden sind, stellt sich AION jedoch als ein – im offenen Sinne Hubers – geschlossenes Stück dar. Die große Distanz zwischen der Zeit, in der es entstanden ist und der Gegenwart wird besonders im „ungeschützten“ Umgang mit Sprache darin deutlich. Gleichzeitig ist es aber, und auch dies macht die Zusammenstellung auf den beiden CDs lobenswert, schon der spätere Huber, der mit einem vielschichtigen Geflecht menschlicher Beziehungen bis hin zu ungeahnten Fernen, präsent ist.

Hubers Musik lebt von den klugen und verstehenden Interpret*innen, die sie mit dem eigenen Kopf und dem eigenen Herzen hörbar machen. Ohne Ausnahme sind die Aufnahmen und Mitschnitte mit Catherine Vickers (Klavier), Michinori Bunya (Kontrabass), Mike Svoboda (Posaune), Stefan Hussong (Akkordeon), Erik Drescher (Flöte), Matthias Badczong (Klarinette), dem Ensemble Musikfabrik (Leitung Jacques Mercier) und dem Orchester des HR (Leitung Friedrich Goldmann) von einer herausragenden Qualität, die dem Wert der Musik mehr als gerecht werden und mit den Kompositionen auf Augenhöhe stehen!

Das Booklet, in dem ausschließlich Werkkommentare des Komponisten zu finden sind, ist hilfreich, da es – wie immer – darum geht, mit Worten den Hörraum zu erweitern.

Beim Hören der CDs „AION“ kommt mir ein Satz aus Christa Wolfs „Kassandra“ in den Sinn, der als zwanglose Coda variiert lautet: „und öffnete die Ohren vor Glück“.

Ernst August Klötzke

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