Infotext:
Nikolaj Andrejewitsch Roslawez Igor Strawinsky, der es wissen musste, nannte ihn den interessantesten russischen Komponisten des 20. Jahrhunderts und schrieb am 12. August 1966 an den Geiger und Musikschriftsteller Michael Goldstein: »… Mit Vergnügen bezeuge ich meine immer außergewöhnlichen Begegnungen mit ihm und den aufregenden Eindruck von seiner frischen, allzeit frischen Musik, die von den russischen Dunkelmännern nicht akzeptiert wird. Selbstverständlich sollten alle seine Werke in den politisch fortgeschrittenen Ländern veröffentlicht werden, die sich leider vor fortgeschrittenen Kunstbewegungen hüten …« Roslawez war damals aus der sowjetischen Musikgeschichte getilgt und pflichtgemäß totgeschwiegen. Seit den Kampagnen der ›Vereinigung Proletarischer Musiker‹ – nicht nur gegen seine hochsensible, virtuose Musik, sondern auch gegen sein Wirken als Wortführer der zeitgenössischen Musik, als der er für die Vereinbarkeit von Neuer Musik und marxistischer Philosophie kämpfte – war er als ›Volksfeind‹ aus Musikleben und Verlagsprogrammen verbannt. In den 1980er Jahren wurden Komponisten wie Strawinsky, Hindemith, Schönberg oder Webern auch von sowjetischer Seite allmählich wieder akzeptiert, und Avantgardisten wie Charms, Malewitsch und Tatlin rückten in den Umkreis des Zulässigen. Nicht so die Musikavantgardisten des eigenen Landes – wie Roslawez, der weiterhin als ›Feind‹ betrachtet wurde. Auch eine lediglich analytische Beschäftigung mit seinen Werken galt absurderweise als feindlicher Anschlag auf die sowjetische Musik. Sein musikalisches Denken und Bemühen, »mein eigenes inneres Ich auszudrücken, welches von neuen, nie erhörten Klangwelten träumte«, wurzelte wesentlich in den von Skrjabin und symbolistischer Dichtung beeinflussten 1910er Jahren, als der begabte Bauernsohn (der als Geiger autodidaktisch begonnen hatte) ein Studium am Moskauer Konservatorium absolvierte und mit einer Silbermedaille ausgezeichnet wurde. Danach wandte er sich zunehmend vom akademischen Pensum ab, um eigene experimentierende Wege zu gehen. Es war die Zeit der beginnenden Zwölftonphilosophie im Sinne einer verpflichtenden Gleichwertigkeit der zwölf chromatischen Stufen, für die damals im Westen Ferruccio Busoni und Domenico Alaleona die Vorläufer Schönbergs waren; in Russland waren es Arthur Lourié, Jefim Golyscheff, Nikolaj Obuchow und, mit besonderer Konsequenz und Systematik, Roslawez. Sein ›neues, festes System der Tonorganisation‹, das er in den Jahren 1913 bis 1926 entwickelte, geht von sechs- bis achttönigen Klängen (und damit Tonvorräten) in der Art alterierter Akkorde aus (er nennt das ›Synthetakkorde‹), die sich herkömmlicher tonaler Deutung entziehen und in planmäßiger Systematik auf alle Stufen der Zwölftonskala transponieren können – so wie im klassischen System Drei- und Vierklänge auf die sieben Stufen diatonischer Skalen. Insofern bleibt hier eine Kontinuität mit dem klassischen System erhalten. Aus diesen Klangkomplexen gewinnt er das gesamte Material eines Satzes, leitet aber auch weitere Bauprinzipien her: Nicht nur Zwölftonreihen sind dabei in Umkehrungen und Krebsläufen zu beobachten, sondern auch wechselseitige Ergänzungen komplementärer Synthetakkorde zum Zwölftontotal. Sein atonales, doch in sich geregeltes Tonsatzsystem weist Berührungspunkte zur Technik des Zentralklangs bei Skrjabin auf, von dem sich Roslawez aber bewusst unabhängig erklärte. Für solche Experimente, auch eines proletarischen Komponisten, gab es seit Ende der 1920er Jahre in Sowjetrussland keine Duldung mehr (und im Westen kein Interesse), mochte sein Instrumentalsatz noch so temperamentvoll und virtuos sein. Von seinen Kompositionen der 1930er Jahre gelangte nichts mehr an die Öffentlichkeit, und manches wird erst jetzt aus dem vom Schott Verlag erworbenen Nachlass erschlossen. Dabei steht sein Werk an jener geheimnisvollen Grenze zwischen einer hochsensiblen spätromantischen Ausdruckswelt und einer strengen Konstruktivität, hat jedoch keinen Anteil an zeitgenössischen Tendenzen zu ›neuer Sachlichkeit‹ und Trivialität. Roslawez, der nie emigrierte, ist ein besonders tragisches Opfer sowjetischer Kulturpolitik, dessen Kenntnisnahme auch im Westen nachzuholen bleibt. Erst seit der ›Perestroika‹ Gorbatschows war in Russland die Pflege seines Werkes wieder möglich, so mit einem Gedenkfestival in Brjansk, in der Nähe seiner Heimat an der ukrainisch-weißrussischen Grenze. Detlef Gojowy
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Programm:
Nikolay A. Roslavets (1881–1944)
[01–03] 3 Compositions (1914) 02:49
[04–06] 3 Etudes (1914) 14:16
[07] Sonata No. 1 (1914) 10:51
[08] Prelude (1915) 03:24
[09–10] 2 Compositions (1915) 05:43
[11] Sonata No. 2 (1916) 12:14
[12–13] 2 Poems (1920) 04:10
[14–18] 5 Preludes (1919–22) 08:53
[19] Sonata No. 5 (1923) 11:26
total time: 74:21
Irina Emeliantseva, piano
Pressestimmen:
04/2011
24.09.2009
Direkte Kopie
Zuweilen hält der oft als eintönig gescholtene Tonträgermarkt echte Überraschungen bereit. Manchmal erfreuliche, manchmal mit etwas eigenartigem Beigeschmack. So auch hier. Irina Emeliantseva hat eine komplette CD dem Russen Nikolaj Roslawez gewidmet. Im Grunde verdienstvoll, wäre da nicht bereits vor zwölf Jahren eine Scheibe erschienen, deren Programm absolut identisch ist mit dem Emeliantsevas: Dieselben Stücke in derselben Reihenfolge. Das kann freilich Zufall sein, denn die Werke werden in der zeitlichen Abfolge ihres Entstehens präsentiert, die hier eingespielten Sonaten Nr. 1, 2 und 5 sind die einzig erhaltenen, und viel mehr als die insgesamt knapp 75 Minuten auf dieser CD ist von Roslawez‘ Klaviermusik bislang nicht publiziert worden. Dennoch hätte man eine solche direkte Kopie wohl besser vermeiden sollen.
Das Original lieferte kein geringerer als Marc-André Hamelin.
Natürlich sind seine Interpretationen subtiler, auch der Klang seiner Aufnahme ist der Neuerscheinung überlegen. Irina Emeliantsevas Neueinspielung unvoreingenommen zu beurteilen, fällt angesichts dieser Umstände etwas schwer. Die Pianistin, die nach den Informationen aus dem Beiheft hauptsächlich Neue Musik spielt, liefert ebenfalls durchaus ansprechende Interpretationen, die eine gewisse fiebrige Anspannung vermitteln. Für die hitzige Tonsprache dieser Musik ist das im Grunde genau richtig. Andererseits bietet Emeliantsevas Interpretation zum Ausgleich wenig Ruhepunkte. Insgesamt bleibt es ein zweifelhaftes Unterfangen, einen solchen Vergleich zu provozieren.
Im Beiheft ist einiges über Roslawez und seine Musik zu erfahren. Man kann es sich leicht machen und Nikolaj Roslawez als einen Komponisten in der Nachfolge Skrjabins beschreiben. Ähnlichkeiten zu dessen Spätstil sind leicht zu entdecken, und wer merkt schon, dass das harmonische System ein anderes ist? Die traditionelle Tonalität ist in beiden Fällen über Bord geworfen. Doch Roslawez (1881-1944) sagte sich schnell von seinem Vorbild Skrjabin los. Diese hier nur grob umrissenen Punkte werden angemessen und nachvollziehbar dargelegt.
Zu Sowjet-Zeiten wurde Roslawez mehr noch als viele bekanntere Kollegen wegen seiner avantgardistischen Ansätze zur unerwünschten Person, die Beschäftigung mit seiner Musik wurde nicht geduldet. Heute ist, trotz der Publikation vieler Werke und einiger Tonaufnahmen, im Konzertbetrieb wohl nicht mehr mit einer Renaissance seines Schaffens zu rechnen.
Interpretation:
Klangqualität:
Repertoirewert:
Booklet:
Jan Kampmeier
30.05.2009
Nikolay Roslavets
Werke für Klavier
Die Liste ermordeter, verbannter, verfemter Künstler in der einst jungen Sowjetunion ist tragisch und lang. Ein missverstandener Wimpernschlag genügte, um über Künstlerschicksale zu beenden. Ein Revolutionär der ersten Stunde war der Komponist Nikolaj Roslawez. Mit seiner Musik unterstützte er den Befreiungsschlag des Proletaritas gegen die zaristische Diktatur. Sein individualistisches freies Denken wurde ihm zum Verhängnis.
Erst mit Gorbatschow’s Perestroika war es möglich, den politisch „Abtrünnigen“ aus dem sowjetischen Dunkel ans Licht zu holen und ihn mit jahrezehntelanger Verspätung in einem Festival nahe seiner Heimat Briansk zu ehren. Inzwischen liegt der Notennachlaß beim Schott Verlag. Eine jüngst erschienene CD mit Klavierwerken Roslawez weist für Julia Schölzel auf einen der spannendsten russischen Komponisten der 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Klassenfeindlich und formalistisch
Keine Frage. Die Rolle des Außenseiters hatte Nikolaj Roslawez nie angestrebt. Er wollte mitgestalten und vor allem die Entwicklung der modernen Musik Russlands mit seinem politischen Engagement für ein gerechteres Staatssystem verbinden. Entzündet von den marxistischen Ideen stürzte er sich hoffend in die revolutionären Umwälzungen um 1917 – doch Roslawez machte einen folgenschweren Fehler: er wurde Mitglied in der Assoziation zeitgenössischer Musik, und die galt gegenüber der Kommunistischen Partei als kritisch. Auf die politischen und künstlerischen Konsequenzen brauchte Roslavez nicht lange zu warten. Als „klassenfeindlich“ und „formalistisch“ wurden seine Werke in den nervösen und mörderischen 1920er Jahren angegriffen und denunziert, getoppt nur durch ein endgültiges Berufsverbot. Erst 1933 durfte sich Roslawez als Tagelöhner wieder in Moskau ansiedeln. Bis zu seinem Tod 1944 wurde der Komponist mundtot gemacht, wo Kollegen schon wieder öffentlich wirken durften, musste Roslawez schweigen.
Was tat Roslawez, um als bekennender Marxist vor der Kommunistischen Partei in Ungnade zu fallen? Er war mit einem Wort: experimentierfreudig. Zu experimentierfreudig. Als hochbegabter Autodidakt aus einer Bauernfamilie stammend triumphierte er am Moskauer Konservatorium mit der Großen Silbermedaille. Der Musikkosmos von Scriabin sowie die symbolistische Dichtung faszinierten ihn anfangs. Dann feilte Roslawez an einem neuen Tonsystem herum – parallel zu den Wiener Avantgardisten um Schönberg. Roslawez‘ Ansatz basiert auf sechs- bis achtstimmigen Klängen, die er Synthetakkorde nannte, und die sich mit gewissen Nebentönen und Alternierungen auf jeder der 12-Tonstufen aufbauen lassen. Er wollte nicht nur die einzelnen 12-Töne gleichberechtigt behandeln, sondern deren gesamte vertikale Struktur organisieren und systematisieren. Wie der Schönbergkreis auch benutzte Roslawez barocke Kompositionsprinzipien wie Umkehrungen und Spiegelungen. Doch die Andersartigkeit entpuppt sich beim Hören.
Werke voller romantischer Wucht
Roslawez‘ Musik klingt in ihrer farbenreichen Expressivität warm und weich, assoziativ, und sie ist emotional leicht zugänglich. Wirkt 12-Tonmusik zuweilen papieren abgezirkelt, haben Roslawez‘ Werke einen dreidimensionalen Bauch. Und an dessen Umfang arbeitet auf dieser CD leidenschaftlich die russische Pianistin Irina Emeliantseva. Vollmundig stemmt sie die romantische Wucht der Etüden, Sonaten, Präludien und einzelnen Klavierstücke aus den politischen Umbruchsjahren von 1914 bis 1923, zaubert mit einem plastischen Klavierton impressionistisches Schimmern über Roslawez parlierenden Gestus. Wer hier ein starres Kompositionskalkül nach System erwartet, der wird vom Gegenteil überrascht. Ein seltener Trumpf dieser bei Neos publizierten CD: mit der in Deutschland lebenden Pianistin Irina Emeliantseva trifft auch eine international mehrfach ausgezeichnete Komponistin auf einen Kollegen. Kein Garant für volle Notenbäuche, doch, abgesehen von der musikpolitischen und – wissenschaftlichen Bedeutung dieses aufgeschlossenen russischen Komponisten, im Fall von Roslawez und Emeliantseva funktioniert dieses Konzept eindrucksvoll.
Von Julia Schölzel
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