Peter Ruzicka: Orchestra Works Vol. 1

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Artikelnummer: NEOS 11045 Kategorie:
Veröffentlicht am: November 11, 2011

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… BEGENET DIE MUSIK SICH SELBST …

In Peter Ruzickas Werkverzeichnis nehmen Kompositionen für und mit Orchester den größten Raum ein. Für einen Künstler, dem die Moderne geistiger Referenzort blieb, versteht sich dies nicht von selbst. Die Nachkriegsavantgarde exponierte sich in Ensemblestücken. Um die Bewältigung der großen Form und Besetzung wurde gerungen. Dass Ruzicka die Wendung zum Orchester mit innerer Notwendigkeit fand, hängt mit der Besonderheit seiner kreativen Fantasie zusammen. Sie geht vom Klang aus.

Wollte man unter dem Gesichtspunkt eines »vokabularen Komponierens« (Hans Heinrich Eggebrecht über Gustav Mahler) bestimmte Konstanten nennen, um die sich Ruzickas musikalische Sprache kristallisiert und strukturiert, so würde man auf verschiedenste Klangbilder und Formen der Zeitgestaltung stoßen. Sie treten im Laufe der neunziger Jahre, deren ästhetisches Ziel die Oper CELAN war, deutlich hervor. Auf dem Weg zur zweiten Oper, HÖLDERLIN, gewann das Komponieren von Klang- und Erinnerungsformen reichere Dimensionen. Aus der Zeit um und zwischen den beiden Opern stammen die Werke auf dieser CD.

NACHKLANG und VORECHO
Die große Form findet sich nicht von selbst. Von den frühen fragmentartigen Kompositionen bis zur ersten abendfüllenden Oper ging Ruzicka einen Weg von mehr als 25 Jahren, ehe sich aus der Erfahrung von Ensemble- und Orchesterstücken die Form des Bühnenwerks herauskristallisierte. Der Übergang von der ersten Oper zur nächsten führte über Nach-Denken und Vor-Tasten. NACHKLANG, unmittelbar nach Abschluss der Oper CELAN komponiert, »nimmt Bezug auf orchestrale Passagen der Oper, verwandelt sie und gewinnt einen neuen dramaturgischen Zusammenhang der Rückschau, des Rückhörens. Musikalische Gestalten und Klangflächen werden gespiegelt, disparate Entwicklungen ›zusammengeschaut‹. Ich machte während der Komposition die Erfahrung des Nachklingens, das sich wie ein beständiger ›Klangschatten‹ ausnahm.« (Peter Ruzicka)

VORECHO bezeichnete der Komponist als symphonische Studie zur Oper HÖLDERLINVORECHO ist ein Klangdrama (noch) ohne Worte und Szene in acht »Ansätzen«. Der fünfmaligen Einstrahlung eines »Chorals« in ein Klangfeld aus Geräuschen und Randtönen folgt ein disparater Abschnitt schattenhaft flüchtiger Streicheraktionen, auf die Paukeneinwürfe, Glöckchenschläge und Bläsersignale einwirken. Im dritten Teil, einem instrumentalen Gesang in chorischem Quartettsatz, übersetzt Ruzicka Gustav Mahlers Polyphonie aus eigenständigen Stimmen ins Klangdenken der Moderne. Von einem Abschnitt zum nächsten führen fragile Klangbrücken; sie haben erinnernden oder antizipierenden Charakter.

Aus dem ersten leitet ein umläutetes Melos zum zweiten Teil über; es deutet auf Kommendes hin. Der hohe Halteton der Geigen, der in den dritten Teil führt, holt die Randtöne, die das Geschehen des ersten Teils rahmten, in die auditive Naheinstellung. Nur ein Abschnitt scheint von seiner Umgebung gesondert: der vierte, kürzeste. In ein düsteres Chronometer gleichmäßiger Paukenschläge bricht eine Klangwolke wie eine schimärische Gestalt und verschwindet wieder. In der Partitur gleichen ihre Umrisse einer symmetrischen Skulptur. Raum und Zeit verschränken sich zur Kreuzesform. Dunkel, erregt, infernalisch wirkt danach der fünfte Teil.

Alle Klangszenen aus VORECHO übernahm der Komponist in die Oper, teils wörtlich, teils erweitert. Das sechste Klangbild eröffnet wie eine Vision drohender Erstarrung und Zersplitterung den zweiten HÖLDERLIN-Akt. Ein zum Zerreißen gespannter ›Canto‹ (diese Art des instrumentalen Gesangs reicht als ein Topos in Ruzickas Musik bis in die achtziger Jahre zurück) hat sich im siebenten Teil gegen das Schlagwerk zu behaupten. Das »Finale« komponierte Ruzicka als Erinnern auf zweierlei Ebenen: Momente seines Verlaufs weisen auf frühere Abschnitte des VORECHOS zurück. Im Streichersatz des Schluss-Adagios öffnet Ruzicka die geschichtliche Durchsicht über Mahler zu den letzten Streichquartetten Beethovens, der Hölderlins Zeitgenosse war.

MEMORIAL per G. S.
Am 20. April 2001 brach Giuseppe Sinopoli am Pult der Deutschen Oper Berlin zusammen und starb noch in derselben Nacht. Unter dem Eindruck der erschütternden Nachricht komponierte Peter Ruzicka MEMORIAL als Requiem für einen Freund. Zwölf Mal ertönt der Schlag der Zeit als »aufgespaltene Akkordsäule«, als Klang- und Zeitskulptur, die sich besonders in ihren Schlagzeuganteilen wandelt und zur Mitte hin von den Perkussionisten fast überdeckt wird. Jedes Mal klingt sie anders aus, bald an den Rändern des Hörbaren, bald in der Mitte der Streicher, bald in einem Akkordgerüst aus den Tönen G–Es–E–E–Es, den Buchstaben aus Giuseppe Sinopolis Namen, denen Noten entsprechen.

Die Akkordsäulen erscheinen unregelmäßig, einmal im Abstand so weit gedehnt, dass die Zeit stillzustehen droht. Schließlich folgen sie dreimal gleich in stetiger Beschleunigung aufeinander, als gerate die Musik ins Rotieren. »Ein gewaltsamer Ausbruch des Orchesters« unterbricht ihr Kreisen, »eine fast berstende klangliche Verdichtung, die unter den Schlägen der großen Trommel zusammenbricht und ein letztes (zwölftes) Mal die Akkordsäule wie in einem Ausatmen erklingen lässt.« (Peter Ruzicka) »Zwölf, das ist das Ziel der Zeit…«.

NACHTSTÜCK
Manchmal scheint die Zeit stillzustehen, obwohl sich viel bewegt, kreist, sich verdrängt und wiederholt. Die Erfahrung entsteht in Grenzsituationen, am Rande des (Ent-)Schlafens, wenn die Wände zwischen den Gedächtniskammern durchlässig werden und die Dinge ineinander verfließen. Im NACHTSTÜCK gibt Peter Ruzicka einer solchen Situation Klanggestalt. Ist das, was man zu Anfang aus den Geigen vernimmt – ein hohes Pfeifen mit viel Geräusch um sich – schon ein Ton? Der Beginn von Musik? Ihre Verneinung? Von »Hörrinden« sprach Paul Celan. Die Trompete, die aus dem Saal spielt, erinnert gestisch an den Anfang von Strawinskys Sacre, in ihrer Rolle an Charles Ives’ Unanswered Question.

Welche Antwort erhält sie bei Ruzicka? Ein rasches Sturz- und Aufflugmotiv, Deklamationen am unteren Rande des Hörspektrums, Klagemotive und ein Streichermelos, das ebenso wenig den erstrebten weiten Bogen findet wie die Solo-Trompete aus der Ferne. Peter Ruzicka: »Diese Musik war schon immer da. Ferne Signale, Rufe, Echos, melodische Spuren, die im Moment ihres Erklingens wieder zerfallen, verschwinden. Tastende Bewegung. Annäherung an harmonische Zentren. Wiederentfernung. Verlöschen. Nacht. Dann Einbruch eines dunklen Gegenbildes. Ferne Gewalt. Auch dies zergeht. Weißes Rauschen. Schließlich begegnet die Musik sich selbst, scheint, wie durch eine befreiende Erfahrung gegangen, auf sich zu hören. Und sie verschwindet, wie ausgeblendet – sich aufgebend.«

Das »dunkle Gegenbild« lässt Gustav Mahler aus der Erinnerung heraufklingen, den d-Moll-Akkord aus dem Lied Revelge, mit dem die Trompeten den nahen, gewaltsamen Tod ankündigen. Mahlers Signal ist unter die Zeitlupe gehalten und tiefer gesenkt; die Posaunen, die Requieminstrumente, spielen es. Durch die permeablen Wände der Epochen dringen Konfigurationen aus der Geschichte ins Heute als große Schatten, die sich vielfach brechen.

»…schon immer da«. Nichts Neues? Doch: die Konstellationen von Ruzickas eigenem Vokabular mit Einstrahlungen, Erinnerungen, Assoziationen aus der Geschichte. Im Prozess des Kreisens, Verdrängens, Verwandelns und Wiederkehrens gelingt, was sich der 1933 aus Berlin exilierte Stefan Wolpe 1925 vorgenommen hatte: »Stehende Musik«.

Habakuk Traber

Programm:

[01] VORECHO 27:11
Acht Ansätze für großes Orchester (2005/2006) *

[02] NACHKLANG 22:48
Spiegel für Orchester (1999)

[03] MEMORIAL PER G. S. 08:59
für Orchester (2001) *

[04] NACHTSTÜCK (- AUFGEGEBENES WERK) 16:30
für Orchester (1997) *

total time 75:29

NDR Sinfonieorchester
Jeroen Berwaerts, trumpet [04]
Peter Ruzicka, conductor

* World Premiere Recordings

Pressestimmen:


04/2012

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