PETER RUZICKA – KLAVIERWERKE
FÜNF SZENEN
Peter Ruzicka bemerkte 2009 anlässlich einer Neuinszenierung seiner Oper CELAN, dass sich einige zentrale Momente der groß besetzten Orchesterpartitur in neuer ästhetischer Gestalt auch in der Linearität des Klaviersatzes »abbilden« lassen. In dieser Oper werden traumatische Schlüsselerfahrungen im Leben des Dichters, der den Holocaust überlebt hatte, vielfach neu ansetzend beleuchtet und verfremdet.
Das erste Stück wird mit einem zentralen Motiv der Oper eröffnet. Extraversion und Introvertiertheit stehen in ständigem Wechsel. Im folgenden Stück führen zwei Akkordglocken einen Dialog, der wie durch die rhythmische Unbestimmtheit eines sanften Windes bestimmt wird. Schließlich brechen sie in fünf Einzel-Glocken auseinander – bis sie schließlich in einer Glocke vereint in gleichmäßigen, in sich hineinhorchenden Schlägen wie in einem Gebet versinken. Musikalisch bestimmend für das dritte Stück ist eine obsessive Zentrierung auf den Ton a sowie auf perkussive Effekte, die mit den Fingerknöcheln realisiert werden. Peter Ruzicka schrieb über diesen Klavierzyklus, er sei teilweise »am Rande der Unspielbarkeit angesiedelt«, was bei diesem Stück auf die geforderte Sprungtechnik bei gleichzeitiger Realisierung einer hochdifferenzierten Dynamik verweist. Das vierte Stück beginnt mit einem zärtlich-kantablen, vierstimmigen Satz, einem Selbstzitat des Komponisten aus seiner vierzig Jahre zuvor entstandenen Kantate Esta Noche. Der zu äußerster Expressivität sich steigernde Klaviersatz verkörpert die bis zur Gespaltenheit mit sich ringende Psyche Celans. Im Schlussstück wird die obsessiv hämmernde Gestik der dritten Szene durch ein spezielles Klangfarbenspiel sublimiert: Zehnfach wird eine Akkordrepetition so subtil pedalisiert, dass der übergebundene letzte Akkord als sein eigenes Phantom im pianissimo erscheint. Dieses Innehalten der Musik sollte mit einer »Selbstwahrnehmung« des Hörers einhergehen.
PARERGON
Der sechsteilige Zyklus entstand 2006/2007 parallel zu Ruzickas zweiter Oper HÖLDERLIN. Das Geschehen teilt sich statt in der Dramaturgie der Bühne nunmehr allein durch die Musik mit. Nachdem das Eröffnungsstück – in der Oper in mehreren Szenen in sattem Streicherklang dargeboten – verklungen ist, wird dieses Phänomen deutlich erlebbar im folgenden Stück, das ein Konzentrat der Szenen »Vertreibung aus dem Paradies« und »Angst nichts als Angst, das zitternde Kollektiv« darstellt. Tatsächlich stellt die Musik (»schattenhaft«) durchgängig Flucht und Todesangst dar. Als Konsequenz folgt das dritte Stück: In der Oper lautet der Szenentitel »Das Menschliche zieht nicht hinan (…)«, die Szenenbeschreibung »in wildem Aufruhr stürzt sich Jeder auf Jeden (…) «. Am Klavier entspricht dem ein »Kannibalismus der Stimmen« sowohl im Sinne purer Zerstörungslust wie auch des Überlebenshungers. Im nächsten Stück folgt, in vierfachem Sforzato, ein dreimalig sich wiederholender Einsturz des Himmels – der Höhepunkt des Gewaltrausches im PARERGON-Zyklus ist erreicht. Im kontemplativen fünften Stück bilden vier in Raum und Zeit schwebende Stimmen die Polyphonie des Beginns, um schließlich zu einem in der Oper zentralen Choralsatz zu gelangen. Die Musik taucht in die beklemmende Stille einer Wiederholungsspirale, darin sich die Zeit unendlich zu dehnen, ja aufzulösen scheint – es gibt kein Entkommen aus dem Sog der Ewigkeit. Im abschließenden Stück finden sich archaisch-sakrale Imaginationen der japanischen Gagaku-Musik, bei denen auch deren Instrumentarium anzuklingen scheint, wie etwa die Mundorgel Sho bei den Akkorden in der rechten Hand. »Lichtpunkte« in Gestalt von überraschenden Quinten tauchen auf. Diese aufs Äußerste konzentrierte Ruhe wird mehr und mehr abgelöst durch ein inneres Drängen der Musik. Nach der Climax beginnt ein Prozess der Versöhnung – die Musik schließt endlich Frieden im Sinne des Hölderlinschen Satzes »Die ewige Sehnsucht des Menschen nach Einheit mit sich und der Natur«.
PRÉLUDES
Der 1987 komponierte sechsteilige Zyklus lässt sich als das Klavierwerk Ruzickas verstehen, in dem er sich am intensivsten mit der Instrumentaleigenschaft des Klaviers identifiziert. In diesem Zyklus darf das Klavier im besten Klangsinne »Schlaginstrument« sein. Formal ist dieser Zyklus einer verschachtelten Paarbildung strukturell ähnlicher musikalischer Gestalten unterworfen. Das erste und vierte Stück lassen Holzstabspiele wie Marimbaphon und Xylophon assoziieren. Beide Préludes werden eröffnet durch einen Impuls, dem eine perlschnurartige Leggierezza-Kaskade entspringt – dynamisch vergleichbar einem Windglockenspiel das durch einen launisch-geheimnisvollen Wind zum Tanzen gebracht wird. Das vierte Stück mit der Vortragsbezeichnung con delicatezza wird geprägt durch ein zentrales Seufzermotiv gis-d-cis, das in fünfmaliger Folge als Kontrapunkt zu glockenspielartigen Girlanden erscheint. Der Zielton cis bildet in diesem Prélude einen imaginären Nukleus. Beide Préludes schließen mit meditativ insistierenden Akkorden wie ferne Glocken einer Kathedrale. Mit derselben Geste, jedoch in obsessiver Weise, als würde man im Turm jener Kathedrale stehen, schließt das zweite Prélude. Diese Schlusssignatur ist bezeichnend für den Charakter dieses Préludes, das den lautstarken Rausch einer perkussiven Klangrede rasend rezitiert. In verwandter Tonfolge bestimmen Ab- und Aufwärtsbewegungen der chromatischen Zweiunddreißigstel auch das fünfte Prélude, das wie eine virtuose Humoreske erscheint. Im dritten Prélude, Religioso überschrieben, bilden schwebende Akkorde in den Mittelstimmen den Ruhepol, während sich die in Diskant und Bass deutlich konturierten Stimmen in zunehmender Expressivität bewegen. Sie erreichen eine Klimax in der weitest gespannten Lage des Klaviers, um schließlich in immer tiefer greifender Resignation in einer weitgespannten Coda zu schließen. Jeder Schlag, der crescendierend auf den vorangegangenen folgt, erscheint wie der Appell eines chinesischen Gongs: Der Ambitus wird größer, die harmonische Dichte immer dämonischer. Tombeau, das sechste Prélude, wird bestimmt durch eine dem dritten Prélude ähnliche achtstimmige Akkordik, die an das letzte der Schönbergschen Sechs kleinen Klavierstücke erinnert. Dieses »Sterbeglockenmotiv« ist in der Melodiestimme wie in der Begleitung durch das Tritonus-Intervall geprägt. Es ist die beklemmende Klangfarbe des Todes.
AUSGEWEIDET DIE ZEIT…
Die 1969 komponierten drei Nachtstücke zählen zu den Werken, in denen Ruzicka zu seiner eigenen kompositorischen Sprache fand. Im Vorwort schreibt er: »Die drei Nachtstücke formten sich während meiner Begegnung mit Gedichten des Zyklus’ Glühende Rätsel von Nelly Sachs. Es handelt sich um Reflexionen innerer Bewegungen, die ihren Impuls aus der Kommunikation mit zentralen Schichten dieser Gedichte erhielten«. Wie auch die Texte der Dichterin regt die sie reflektierende Musik den synästhetischen Sinn an – es ist, als würde sie mit Klangspuren ein Gemälde erschaffen. Spielend, tanzend, exaltiert und introvertiert zeigt sich im ersten Nachtstück ein Jeux d’eau in all seinen Farbfacetten. Das Element des Wassers begegnet uns auch im zweiten Nachtstück, das wie eine getanzte Naturkatastrophe erscheint. Im Mittelteil folgt eine sich gleichsam orientierungslos vorantastende Elegie, die bewusst macht, dass dieser Klavierzyklus den Untertitel »Lieder ohne Worte« tragen könnte. Das mit Elegiaco überschriebene dritte Nachtstück wird geprägt durch »Erinnerungsfelder« des Komponisten, die essentielle Momente der Stille bewahren: aus der Klaviersonate op. 110 von Beethoven und dem letzten der Sechs kleinen Klavierstücke op. 19 von Schönberg. »Bis zum völligen Verlöschen« – aus der Stille kommend, taucht dieser Zyklus schließlich in das Nichts hinab.
COMPENSAZIONE
Die etwa zweiminütige serielle Studie mit der Entstehungsangabe »1966–2009« verdankt sich einer sonderbaren Fügung. Nach deren Uraufführung im Jahre 1970 ging die Handschrift verloren. Benjamin Fenker rekonstruierte 2009 aufgrund des Tonmitschnittes der Uraufführung den reinen Notentext, den wiederum Peter Ruzicka hinsichtlich des Tempos, der Dynamik, der Phrasierung, des Rhythmus neu bearbeitete. So erfuhr das Werk gleichsam eine Zeitreise und ist das verborgene Opus 1 – aber zugleich sein vorläufig jüngstes Klavierwerk.
Sophie-Mayuko Vetter