Charles Uzors Werk ist kritisch und fordert unsere Ohren auf, über das Hörbare und Bekannte hinauszuhören. Gleich bei meiner ersten Begegnung mit Uzors Musik stieß diese mich auf jene Fragen, die mich ursprünglich überhaupt zu dieser Kunstform hingezogen hatten. Diese Fragen könnte man als existenzielle, politische, soziale, individuelle, kosmische und vieles mehr bezeichnen. Seine Musik betreibt eine kritische Auseinandersetzung mit dem Leben selbst, und zwar durch Klang. […] Uzors Musik lädt uns ein, über die Welt nachzudenken und zu sprechen. Uzors Musik lehrt uns, dass das Unaussprechliche ausgedrückt und in eine (undurchschaubare) Beziehung zu dem gebracht werden muss, worüber wir sprechen können. Dabei geht es auch um die Frage, ob wir auf die unhörbaren Stimmen hören müssen, auf die Stimmen, die ausgelöscht wurden, wie Schwarze Leben. […]
Wenn Uzors Musik politisch ist, dann ist sie eine Art radikale Betonung des Demos – ein griechisches Wort, das sowohl jene Leben beschreibt, für die Politik da sein soll, denen sie dienen soll, als auch jene, deren Stimmen bisher weder denkbar noch hörbar sind. Vielleicht hat Uzor politische Musik geschrieben, weil seine eigenen Erfahrungen in der bestehenden Welt immer wieder nicht denkbar waren, dieser Welt der kontrollierten und limitierten Existenz. Oder vielleicht war es immer die Aufgabe der Musik in der Moderne, uns dazu zu bringen, dass wir hinterfragen, was für uns hörbar werden kann. Wie dem auch sei, was sein Werk zeigt, ist, dass eine solche unhörbare Positionierung, ein Standpunkt, der hinter dem Schleier der Hörbarkeit als radikale Inklusion durch das Erkennen gemeinsamer Erfahrungen ausgedrückt wird – wenn die Marginalisierten nicht sprechen können, können sie dennoch die Unsichtbarkeit der Anderen hören, so scheint es.
Jessie Cox
Kann Musik die Welt verbessern?
Charles Uzor antwortete auf die Frage, was das Politische sei, mit der schlagenden Gegenfrage: »Wie geht es den anderen?« Folgt man diesem rhetorischen Argument, so dienen alle daraus resultierenden weiteren Aufgabenstellungen dem Zweck einer für alle Beteiligten befriedigenden Antwort auf seine Frage bzw. einer Lösung der entsprechenden Probleme. […]
Sozial und ökologisch steht es mit der Welt nicht zum Besten. Was Armut, Unterdrückung, Umgang mit Migration und Natur angeht, steigt das Tempo der Verschlechterung in beängstigender Weise. Rettung tut dringend Not. Das ist vielen Menschen bewusst, weshalb Politiker, Unternehmer, Hedgefondsmanager oder Technokraten unterschiedlichste Projekte zur Lösung der Misere initiiert haben. Leider können die meisten dieser Aktivitäten die eigentliche Motivation kaum verbergen, in deren Fokus Macht, Geld und Ruhm stehen. Deshalb ist ihnen mit großem Argwohn zu begegnen.
So frägt man sich als Komponist schließlich, was die eigene Musik dazu beitragen kann, die Situation, in der wir leben, zu mildern oder zu verbessern. Geht das? Komponisten haben Musik gelernt und sind von ihr leidenschaftlich erfüllt. Musik ist ein hervorragendes Gleitmittel für manipulative Zwecke, ein fliegender Teppich für allerlei außermusikalische Heilsversprechen. Die Frage, ob man sie weiterhin für derlei Zwecke (miss)brauchen kann, ist rhetorisch. Also: Keine Agitprop, keine Vertonung politischer Texte, keine Stimmungsmache für eine noch so verheißungsvolle politische Utopie!
Rupert Huber
Charles Uzor wurde 1961 in Nigeria geboren. Während des Biafrakriegs kam er in die Schweiz. Nach dem Schulabschluss in St. Gallen studierte er in Rom, Bern und Zürich Oboe und Komposition. 1986–1990 studierte Uzor an der Royal Academy of Music in London bei Gordon Hunt und schloss das Studium mit dem Konzertdiplom sowie einem Master in Komposition bei Hans Werner Henze ab. Dann schrieb er am Goldsmiths, University of London, eine Dissertation über Melodie und innerliches Zeitbewusstsein. Im Konnex zur Elektronik beschäftigt sich Charles Uzor mit den Phänomenen Identität und Täuschung als harte Metaphern für die Situation der Flüchtenden. In Nri/ mimicri werden Vogelgesänge um 8 Oktaven vertieft und durch die Ondes Martenot imitiert. 2016–2023 entstanden Ave Maria, Hier in diesem zierl’chen Prunkgebäude nach Robert Walser, die Zyklen Mothertongue und George Floyd in memoriam (8’46’’, Bodycam exhibit 3, Katharsis Kalkül), sowie die Orchesterwerke Qualia, Parmenides Prooimion und Breaking of the Vessels. Merrusch nach Astrid Kaminski und George Floyd in memoriam zeigen Einflüsse der Philosophie Derek Parfits und Uzors zunehmend politische Haltung. Ensemble PTYX, œnm, London Sinfonietta, KammarensembleN, das BBC Scottish Symphony Orchestra, Lucerne Festival Contemporary Orchestra, International Contemporary Ensemble (ICE), Ekmeles, ensemble amaltea, Duo Aventure, das SWR Vokalensemble, der Chor des Bayerischen Rundfunks und die Dirigenten Rupert Huber, Christian Karlsen, Ilan Volkov und Mariano Chiacchiarini haben Uzors Werke beim Musikfestival Bern, Festival Rümlingen, Time of Music in Viitasaari, Festival for Other Music in Fylkingen, Wien Modern, Lucerne Festival, MaerzMusik, Huddersfield Contemporary Music Festival und Tectonics Glasgow aufgeführt. Uzor arbeitet seit 2015 an der Oper Leopold II.exhibit und leitet das Forum contrapunkt. new art music.
Der Komponist, Dirigent und Performance-Künstler Rupert Huber wurde 1953 im oberösterreichischen Innviertel geboren. Die zwei Säulen seiner Dirigententätigkeit sind einerseits die A-Cappella-Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts und andererseits die Neue Musik in all ihren Besetzungen und Facetten. Davon zeugen hunderte Uraufführungen etwa von Mark Andre, Maria de Alvear, Nikolaus Brass, John Cage, Antonio Caprioli, Jani Christou, Edisson Denissow, Beat Furrer, Vinko Globokar, Georg Friedrich Haas, Klaus Huber, Nikolaus A. Huber, Klaus Lang, Nikos Logothetis, Claus-Steffen Mahnkopf, Benedict Mason, Robert Moran, Fabio Nieder, Luigi Nono, Helmut Oehring, Klaus Ospald, Matthias Pintscher, Wolfgang Rihm, Rebecca Saunders, Giacinto Scelsi, Martin Smolka, Karlheinz Stockhausen, Charles Uzor und Samir Odeh-Tamimi. Er hat gearbeitet mit Klangkörpern wie: Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR, WDR Sinfonieorchester, SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg, Klangforum Wien, Ensemble Recherche, Ensemble Modern, Ensemble Musikfabrik, Ensemble Resonanz, œnm, Stuttgarter Kammerorchester, Royal Oman Symphony Orchestra, Neue Vocalsolisten, SWR Vokalensemble, WDR Rundfunkchor, Chor des BR, Konzertvereinigung Wiener Staatsopernchor. Er dirigierte Konzerte bei: Salzburger Festspiele, Donaueschinger Musiktage, Wittener Tage für neue Kammermusik, musica viva, ECLAT, Festival d’Automne à Paris, Festival Musica Strasbourg, NDR das neue werk, aspekte SALZBURG, Wien Modern, Ruhrtriennale, Biennale Venedig, documenta 14 u. v. m. Im Bereich der Vokalmusik tritt er seit Jahrzehnten für einen authentischen Vokalsatz ein, bzw. eine Kompositionsweise, die nicht primär instrumental orientiert ist wie in der Neuen Musik seit Schönberg, sondern vielmehr die Gegebenheiten des Kehlkopfes und seiner stimmlich-mentalen Disponierbarkeit berücksichtigt.